Kapitel 9

Vor meiner Schicht am nächsten Tag machte ich mich auf den Weg in die Stadt. Ich hatte online nachgeschaut, wann der Wochenmarkt stattfand, und hatte ihn leider um einen Tag verpasst. Jeden Mittwoch und Samstag boten auf dem Südermarkt die Händler ihr Obst an. Daher begnügte ich mich heute mit einem Obsthändler in der Nähe, um mich ein wenig inspirieren zu lassen für ein neues Smoothie-Rezept.

Meine Gedanken schweiften dabei zurück zu der Broschüre, die ich gestern Abend noch eingehend studiert hatte. Unter einem Foto von Jens Martens hatte er eine Art Brief an die Kunden verfasst.

Liebe Freunde der Brauerei,

ich danke Ihnen für 25 Jahre Treue!

Nur dadurch ist es uns möglich gewesen, weiter zu wachsen und mit der Zeit zu gehen. Die neue Abfüllanlage ermöglicht es uns, die Produktionsmenge zu erhöhen, damit Sie Ihr Bier bald auch in den umliegenden Supermärkten kaufen können und nicht nur direkt bei uns. Wir hoffen auf weitere tolle gemeinsame und geschmackvolle 25 Jahre.

Ihr

Jens Martens

Ich hatte jede Zeile in dieser Imagebroschüre gelesen, aber sie hatten mir nichts über den privaten Jens Martens verraten. Frustriert hatte ich sie irgendwann zugeschlagen.

Mit Himbeeren, einer Mango und frischer Minze in der Tragetasche schlenderte ich auf dem Rückweg gerade am Hafen entlang, als ein E-Scooter-Fahrer so scharf von hinten an mir vorbeisauste, dass ich um ein Haar meine Einkäufe fallen gelassen hätte. Der Frau, die mir entgegenkam, erging es weniger glimpflich. Sie hatte ihren Kopf gesenkt und versuchte, sich etwas von der Bluse zu wischen, als der junge Kerl scharf an ihr vorbeiraste, so nah, dass ihre Arme sich berührten. Mit voller Absicht, nahm ich an.

Die Frau zuckte zusammen, sprang ein Stück zur Seite und ließ dabei ihre Tasche fallen.

»Ey, pass doch auf!«, schimpfte sie, während sich der Inhalt der Tasche auf dem Boden verteilte.

»Pass doch selbst auf, Alte!«, rief der Typ, und ich staunte über so viel Dreistigkeit.

Als ich nur noch wenige Schritte von der Frau entfernt war, hörte ich sie verzweifelt murmeln: »Das darf doch nicht wahr sein, warum ausgerechnet heute?«

Erst wollte ich weitergehen, stockte dann aber und sammelte einen Lippenstift ein, der bis zum Ende der Kaimauer gerollt war. »Der gehört auch dir, schätze ich.« Ich reichte ihn ihr.

Sie hob den Blick. »Oh, ja, danke.« Ein Lächeln zeigte sich auf ihren Lippen, als sie sich wieder aufrichtete.

»Mich hat er auch fast umgefahren.«

»Hat er dich auch als ›Alte‹ bezeichnet? Dabei dachte ich, von einem Vogel angekackt zu werden bringt Glück.« Sie deutete auf den Fleck oberhalb ihrer rechten Brust.

»Oh, das müsste angesichts der Größe dann aber eine Menge Glück sein.«

Die Frau kicherte, und ich schätzte, sie war höchstens ein oder zwei Jahre älter als ich. »War eine Möwe, eine rotzfreche, genauso wie der Kerl. Und dabei habe ich gleich ein wichtiges Meeting und bin schon spät dran. Was mache ich denn jetzt nur?«, jammerte sie, wobei ich mir nicht sicher war, ob sie das zu sich selbst oder zu mir sagte.

Unschlüssig verlagerte ich das Gewicht von einem Fuß auf den anderen, wog ab zwischen Weitergehen und Stehenbleiben. Dann stellte ich meine Tragetasche zwischen meine Beine. »Ich kann dir meinen Pullover leihen. Er ist nicht so schick wie deine Bluse, aber schicker als der Schiss.« Ich war zwar etwas kleiner als sie, aber der schwarze Pulli saß bei mir recht locker.

Verdutzt sah sie mich an. »Das würdest du tun?«

»Klar, es ist doch nur ein Pulli.« Ich zog ihn über den Kopf und reichte ihn ihr. Den Rest des Weges konnte ich auch im T-Shirt gehen. Sie schlüpfte hinein und murmelte dabei: »Ich bin übrigens Hanna, und du rettest mir gerade echt den Arsch.« Als sie die linke Hand durch den Ärmel geschoben hatte, schaute sie auf ihre Armbanduhr. »Verdammt, ich muss dringend weiter. Wie kann ich dir den Pulli zurückgeben? Sollen wir Handynummern tauschen?«

»Nicht nötig, du kannst ihn zur Flensburger Biermanufaktur bringen, falls du mal in der Nähe bist. Ich arbeite dort in der Bar.«

»Okay, super, das mache ich!« Sie lief schon rückwärts los. »Wie heißt du?«

»Aline!«, rief ich ihr zu.

»Herzlichen Dank nochmal!«, erwiderte sie, bevor sie sich umdrehte und in langen Schritten davoneilte.

Okay, das war seltsam, dachte ich, als ich meine Tasche wieder hochnahm und skeptisch eine Möwe ansah, die mich von einer der Dalben beobachtete. »Wehe!«, sagte ich zu ihr.

Jette und ich trafen wie am Tag zuvor als Erstes die Vorbereitungen in der Küche für Gerald, der mir heute bei seinem Eintreffen schon etwas freundlicher erschien.

Die Stunden vergingen rasch, und ich musste zugeben, dass es mir gefiel, etwas zu tun zu haben. Meinen Gedanken nicht permanent ausgeliefert zu sein. Hier war ich ständig auf den Beinen und damit beschäftigt, Bestellungen aufzunehmen und nicht zu oft zum falschen Zapfhahn zu greifen. In dem Café, in dem ich damals neben dem Studium gejobbt hatte, hatte es gar keinen Zapfhahn gegeben – hier gab es sieben!

Kurz nachdem Gerald aus der Mittagspause zurückgekommen war, setzte sich Sören auf denselben Stuhl am Tresen wie gestern.

»Moin«, grüßte er gut gelaunt, dieses Mal ohne Feder in seinem Haar.

»Hallo Sören, vielen Dank für das Trinkgeld gestern, das wäre nicht nötig gewesen.«

Er winkte ab. »Was gibt es heute als Tagesgericht?«

»Bratkartoffeln mit Hering oder vegetarische Käsespätzle.«

»Ich nehme die Spätzle.«

»Mit einer Cola?«

Sören nickte.

Weil gerade nicht viele Gäste im Lokal waren, plauderte ich ein wenig mit ihm, während ich Besteck polierte und anschließend jeweils eine Gabel und ein Messer in eine gefaltete Serviettentasche steckte, als Vorbereitung für die Abendschicht.

»Wie geht es dem Vogel?«, erkundigte ich mich.

»Frag nicht!« Sören warf mir einen genervten Blick zu, ehe er fortfuhr: »Ich habe eine kleine Halle gemietet, in der ich an meinem Boot bastele, und ich dachte, ich tue ihm was Gutes und lass ihn dort eine Runde fliegen. Aber das blöde Vieh ließ sich danach nicht mehr einfangen. Also habe ich den ganzen Abend damit verbracht, ihn mit Weintrauben zu locken. Mit dem Ergebnis, dass er den Bauch voller Trauben hat und trotzdem noch dort herumflattert.«

»Vielleicht wollte er einfach nicht zurück in den Käfig.« Ich konnte den Vogel verstehen.

»Ja, möglich, aber er hat zu Hause auch eine Voliere, also schon etwas Größeres. Aber mal sehen, vielleicht trenne ich mit Netzen einen Bereich in der Halle für ihn ab.«

»Wie heißt der Vogel überhaupt?«

»Hubert.«

Ich grinste. »Hubert? Na, dann würde ich mich auch nicht mehr einfangen lassen.«

Sören lachte lautlos und zuckte mit den Schultern.

»Darf man Vögel überhaupt allein halten?«

»Keine Ahnung, mein Vater hat den schon fast fünf Jahre.«

»Hm«, machte ich. Das Federvieh tat mir leid. Ich war mir im Grunde sicher, dass Einzelhaltung nicht artgerecht war. Aber Sören war ein Gast, und ich konnte ihm schlecht vorschreiben, was er zu tun hatte. Wobei es ja nicht einmal sein Vogel war. Daher wechselte ich das Thema. »Du hast also ein eigenes Boot?«

»Jup, ein Segelboot, aber es ist noch einiges zu tun, bevor es wieder aufs Wasser kann.«

»Und du kannst einfach so ein Boot reparieren?«

»Ich bin Tischler, Holz ist mein Werkstoff, aber ich arbeite mittlerweile drüben in der Werft und bin dort für die Inneneinrichtung der Schiffe zuständig. Sitze also mehr am Computer und designe.«

»Klingt spannend«, erwiderte ich, während ich mich auf den Weg zu einem der Tische machte, an den sich gerade fünf Leute gesetzt hatten.

Als ich zurückkam und die Getränke fertig machte, unterhielten Sören und ich uns weiter. Nach meiner anfänglichen Skepsis hatte ich nun nicht mehr das Gefühl, dass sein Interesse über eine nette Unterhaltung hinausging. Irgendwann erkundigte er sich, ob ich schon immer in der Gastro gearbeitet hatte.

Ich verspannte mich leicht. »Ähm, nein. Ich komme aus dem Ruhrgebiet, und weil ich dort mal rausmusste, habe ich mich spontan auf diesen Job hier beworben.«

»Siehst du, ich wusste gleich, du bist nicht von hier. Hast du denn Freunde oder Familie in Flensburg?«

Ich schüttelte den Kopf, während sich ein Bild von Jens Martens vor meinem inneren Auge aufbaute.

»Und gefällt es dir an der Förde?«

»Schon, bisher habe ich allerdings noch nicht viel gesehen. In den nächsten Tagen will ich mal zu den Ochseninseln, meine Mutter war früher mal dort.« Der Satz war raus, bevor ich es verhindern konnte. Am liebsten hätte ich mir auf die Zunge gebissen. Zum Glück stellte Sören keine weiteren Fragen zu meiner Mutter, es reichte schon, dass ich Jette so viel erzählt hatte. Aber es fühlte sich einfach gut an, unter Leuten zu sein, zu quatschen – all diese früher alltäglichen Sachen, zu denen ich mich seit der Diagnose meiner Mutter nur selten hatte aufraffen können.

»Ohne Boot kommst du da aber nicht hin, das weißt du, oder?«, riss Sören mich aus meinen Gedanken.

»Nicht? Schade.« Jetzt hätte ich das Thema gern wieder fallen gelassen und schaute daher zu den besetzten Tischen, doch niemand nahm Blickkontakt mit mir auf.

»Aber ein Hotdog bei Annies Kiosk davor auf dem Festland ist auch schon die Anfahrt wert.«

»Klingt gut«, sagte ich eher beiläufig.

»Oder – weißt du was? Wenn du Lust hast, können wir am Wochenende zusammen mit dem Boot hinfahren.«

Ich hielt mit einem Glas in der Hand inne. »Ich dachte, dein Boot ist noch nicht seetauglich.«

»Mir gehört auch noch anteilig ein Motorboot.« Er grinste.

»Aha«, sagte ich und füllte das Glas vor mir mit Wasser. Sören war nett, aber auf die kumpelhafte Weise. Ich wollte ihm auf keinen Fall falsche Signale senden, und ein Bootsausflug klang nun doch verdammt nach einem Date.

Mit dem Tablett in der Hand musterte ich Sören. »Das ist total nett von dir, aber ich weiß nicht …«

»Keine Sorge, es ist kein Date. Ich kann mir nur vorstellen, dass es nicht leicht ist, neu in einer Stadt zu sein. Und du weißt doch, ich mache gerade ein Jahr Dating-Detox.«

Bei der Erwähnung seines Dating-Detox musste ich lachen. »Das war also ernst gemeint? Warum genau machst du das eigentlich?«

»Ich habe es einfach satt – all die frustrierenden Verabredungen, die viele Zeit auf Tinder, kurzzeitige Beziehungen, die eh nicht funktionieren. Also hab ich mir ein Date-freies Jahr verordnet, um mir klarzuwerden, was ich wirklich will. Und was ich an mir verändern muss, damit es in Zukunft auch mal langfristig klappt. Erst mit sich im Reinen sein und nicht von einem oberflächlichen Abenteuer zum nächsten rennen.«

»Okay – klingt nach einem spannenden Vorhaben.«

So wie Sören es beschrieb, fühlte sich mein unfreiwillig betriebenes Dating-Detox gleich weniger deprimierend an.

Ich brachte den Gästen die Getränke und notierte ihre Bestellung.

»Also, Aline, haben wir kein Date am Wochenende?«, fragte Sören, als ich zurück zum Tresen kam.

Für einen Moment zögerte ich noch.

»Kein Date?«, fragte Jette, als sie aus der Küche kam. »Das Mädchen braucht ein Date, Sören!«

Prompt lief ich rot an.

»Ich glaube, das sieht Aline anders. Und du weißt doch, mein Dating-Detox …«

»Tss – was ist nur los mit euch jungen Leuten?« Jette schüttelte den Kopf, dann beugte sie sich zu mir. »Sören ist in Ordnung und harmlos, triff dich ruhig mit ihm, ist bestimmt eine schöne Abwechslung.«

Womöglich hatte sie recht. Und was sprach schon dagegen? Sören war nur ein Gast und hatte nichts mit Jens Martens und meinem Vorhaben zu tun.

»Okay«, sagte ich zu ihm. Jette nickte zufrieden und verschwand wieder in der Küche, als Gerald nach ihr rief.

»Kommst du eigentlich jeden Tag zum Essen her?«

»Nein, aber häufig, die Werft ist nur einen Steinwurf entfernt, und außerdem kenne ich den Besitzer.«

»Ach so?« Oje, so viel zu dem Thema »Er hat nichts mit der Brauerei zu tun«! Zu gern hätte ich gefragt, ob er damit Tom oder Jens meinte, doch mir blieb keine Zeit, weil weitere Gäste eintrudelten.

»Wir sehen uns!«, rief Sören einige Minuten später. Ich hob die Hand zum Gruß, reichte den neu eingetroffenen Gästen anschließend die Speisekarten und fragte, ob sie schon etwas trinken wollten.