An diesem Abend ging ich wieder an den Strand, an dem ich am ersten Tag gewesen war. Ich vergrub die Zehen in den weichen Sandkörnern und schwamm sogar eine Runde. Die Ostsee war auch im Hochsommer deutlich frischer als das Mittelmeer. Aber das Wasser war sauber und klar, und nach ein paar Schwimmzügen fühlte es sich nicht mehr so kalt an.
Rücklings trieb ich auf den leichten Wellen. Die See erzeugte mit ihren seichten Bewegungen ein beruhigendes Geräusch, die Stimmen der anderen Badenden bildeten die Hintergrundmusik. Hin und wieder gesellte sich das Kreischen einer Möwe oder das Röhren eines Motorbootes hinzu. Ich lächelte und blickte in den Himmel. Die Sonne wärmte mir das Gesicht, wenn sie zwischen den Wolken hindurchblitzte. Ob meine Mutter jetzt von irgendwo auf mich herabsah? Ich wollte so gern daran glauben.
Wie sie es wohl fand, mich hier in Flensburg zu sehen?
Erst als die Sonne sich anschickte, hinter den Häusern und Bäumen zu verschwinden, machte ich mich auf den Weg zurück zur Brauerei. Meinen Wecker für den nächsten Morgen stellte ich zeitig. Ich wollte endlich die Sachen für den Etsy-Shop aus dem Auto holen und den Shop vollständig aus seinem Schläfchen erwecken.
Am nächsten Morgen war keine einzige Wolke am Himmel zu sehen. Ich mixte mir einen Himbeer-Minze-Smoothie und trank ihn am geöffneten Fenster, genoss dabei die morgendliche Stille. Der Parkplatz war leer bis auf den Oldtimer, der darauf wartete, für die nächste Lieferung beladen zu werden.
Die ganze Brauerei lag so früh am Morgen verlassen und still da, die Stühle im Gastraum waren hochgestellt, und in der Halle der Brauerei brummten leise die Tanks.
Ich benötigte eine halbe Stunde, um das Auto leer zu räumen, es war eine ganz schöne Schlepperei. Und meine kleine Druckpresse war zudem kein Leichtgewicht. Als Letztes holte ich die Tasche mit den Schnitzmessern für die Linoleumplatten, die unter einen der Autositze gerutscht war.
Ich schloss die untere Eingangstür wieder sorgsam hinter mir ab und wandte mich zum Treppenaufgang, als mein Blick an der Bürotür hängenblieb. Sie war nur angelehnt. Ich spähte auf den Parkplatz, aber der lag nach wie vor verlassen da. Weder Knuts Rad noch Toms schwarzes Privatauto waren zu sehen, und bis die Reinigungskraft und Jette kamen, dauerte es ebenfalls noch. Das war doch eine gute Gelegenheit, sich ungestört umzusehen. Nur ein paar Minuten …
Mein Blick glitt zur Decke, um zu checken, ob irgendwo Kameras angebracht waren, doch ich konnte keine entdecken. Langsam näherte ich mich der Tür. Mein Herz klopfte, und ich fühlte mich nicht wohl bei der Sache. Aber schließlich hatte ich mich auf den Job beworben für genau solche Gelegenheiten. Dennoch stieß ich die Tür eher zögerlich auf.
»Hallo? Tom?«, rief ich leise hinein. Doch außer den monotonen Geräuschen aus der Halle war nichts zu hören. Ich schob das Mäppchen mit den Linoleummessern in meine hintere Hosentasche und betrachtete zunächst die Fotos an den Wänden. Danach las ich die Beschriftung auf den Rücken der Ordner, stöberte in den Schränken. Doch ich fühlte mich von Minute zu Minute mieser und dachte weniger an Jens Martens, sondern vorrangig an Tom, der bisher so nett zu mir gewesen war. Mein Herz schlug schnell. Was suchte ich überhaupt? Jens würde ja wohl kaum alte Briefe von meiner Mutter hier aufbewahren. Oder? Vielleicht, wenn er sie vor seiner Frau versteckte? Aber nach so vielen Jahren?
Ich ließ von den Schränken ab und ging zu dem Schreibtisch, der dem von Tom gegenüberstand. Er war recht aufgeräumt, als würde er nicht häufig benutzt. Als ich davor stand, fiel mein Blick sofort auf ein gerahmtes Foto. Ich schluckte und griff danach, vergaß in diesem Moment alles um mich herum.
Mit dem Bilderrahmen in der Hand sank ich auf den Bürostuhl und starrte darauf. Das Foto zeigte Jens Martens eindeutig mit seiner Familie. Eine hübsche Blondine schmiegte sich in seinen Arm und zwei ebenso blonde Mädchen, die sich sehr ähnelten, standen vor den beiden. Sie waren höchstens zehn Jahre alt. Aber anhand von Jens’ Gesicht schloss ich, dass es sich um ein älteres Foto handelte. Er hatte also eine Familie. Wie alt waren die Kinder heute? Waren das tatsächlich meine Halbgeschwister? Die Tatsache, dass er mir mit seiner Familie glücklich von diesem Foto entgegenlachte, löste ein beklemmendes Gefühl in meiner Brust aus. Ich fühlte mich betrogen, um genau dieses Bild einer intakten Familie.
Mit zittrigen Fingern stellte ich es zurück und war dennoch nicht gleich in der Lage, meinen Blick abzuwenden.
Schließlich beugte ich mich zu den Schubladen und riss wütend eine auf, als eine Stimme scharf die Luft durchschnitt.
»Kann ich dir helfen?«
Tom! Ich zuckte zusammen und erstarrte für einige Sekunden in der gebeugten Haltung. Nur langsam richtete ich mich auf. Mit finsterer Miene und vor der Brust verschränkten Armen lehnte er im Türrahmen. Warum hatte ich ihn nicht kommen hören?
Der Sekundenzeiger der alten Wanduhr zählte in der dröhnenden Stille die Zeit, die verstrich, während wir uns stumm ansahen.
»Tom«, sagte ich dann zu fröhlich, sodass es in meinen Ohren schrill klang.
»Ob ich dir helfen kann?«, wiederholte er, noch eine Spur eindringlicher. Seine ansonsten so freundliche Miene glich einer Gewitterwolke.
Wenn mir nicht augenblicklich eine plausible Erklärung einfiel, hatte ich ein Problem. Dann würde ich rausfliegen, bevor ich Jens Martens auch nur einmal zu Gesicht bekommen hatte.
»Sorry, du hast mich zu Tode erschreckt.« Ich schüttelte leicht meinen Kopf, in der Hoffnung, dann wieder klar denken zu können. »Ja, du kannst mir helfen!« Mein Herz dröhnte nun so laut in den Ohren wider, dass ich meine eigenen Worte kaum verstand. »Mein Wasserhahn in der Küche leckt, ich habe deswegen kein Auge zubekommen. Also habe ich mich auf die Suche nach einer Rohrzange gemacht.«
Ich spürte genau, wie sich eine verräterische Röte meinen Hals hinaufschlich. Wenn er gleich anbieten würde, den Wasserhahn – der selbstverständlich nicht einen einzigen Tropfen verlor – zu reparieren, war ich geliefert. Dann konnte ich meinen eben erst hochgeschleppten Krempel gleich wieder zurück ins Auto bringen.
»Der Wasserhahn tropft?« Ich sah in jedem Muskel seines Gesichts, dass er mir nicht glaubte. Seine Züge waren angespannt, und an seinem Kinn zuckte es.
»Was sollte ich hier sonst suchen? Geheime Bierbraurezepte?« Ich lachte, doch es klang nicht sonderlich echt.
Tom stieß sich vom Türrahmen ab und trat ins Büro. Seine Anwesenheit in dem Raum ließ die Wände bedrohlich näher rücken. Sein Blick glitt zu der Schublade, in der ich gerade noch gewühlt hatte, dann sah er auf mich herab.
»Und da bist du nicht auf die Idee gekommen, dass man die eher in der Brauerei als im Büro findet?«
Klar, hätte ich ernsthaft nach einer Rohrzange gesucht, dann dort. Mir blieb nun nur eins übrig – mich möglichst naiv zu geben.
»Schon, aber da wollte ich nicht allein reingehen. Ich wusste nicht, ob das erlaubt ist.«
»Aber hier im Büro ist es okay, glaubst du?«
Hilflos zuckte ich mit den Schultern. Und die Hilflosigkeit war in diesem Moment nicht einmal gespielt. »Hier kann ich zumindest nichts kaputtmachen«, entgegnete ich mit einem bemühten Lächeln.
Toms Finger glitten durch seine Haare, und er stieß einen Schwall Luft aus. Ich stand währenddessen auf, verharrte aber wie angewurzelt neben dem Drehstuhl von Jens Martens und krallte mich in der Lehne fest, wagte kaum zu blinzeln.
»Okay, Aline – ehrlich gesagt weiß ich gerade nicht, wie ich darauf reagieren soll …«
»Verstehe«, sagte ich mit zusammengepressten Lippen. »Hättest du denn jetzt eine Rohrzange für mich?«
Zweifelnd schaute er mich an, aber ich war fest entschlossen, die Nummer möglichst glaubhaft durchzuziehen.
»Ja, habe ich.« Er drehte sich um und ging zur Tür. Dort hielt er mit der Klinke in der Hand inne und sah mich mit zusammengekniffenen Augen an. »Am besten kommst du mit.«
Nachdem ich zittrig Luft geholt hatte, folgte ich ihm in die Produktionshalle mit den Tanks. An einer Wand, unweit des kleinen Tisches, an dem wir gestern die Bierverkostung gemacht hatten, hingen allerlei Werkzeuge. Tom griff nach einer Zange, zögerte aber, sie mir zu geben.
»Brauchst du Hilfe dabei?«
Ich hatte es befürchtet.
»Nein, einen leckenden Wasserhahn bekomme ich allein in den Griff.«
Toms Augenbrauen wanderten höher, und er machte weiterhin keine Anstalten, mir die Zange zu reichen.
»Mein Vater ist Klempner, er hat mir ein paar Basics beigebracht.« Innerlich ohrfeigte ich mich, kaum dass ich den Satz zu Ende gesprochen hatte. Wieso hatte ich Vater und nicht Onkel gesagt? Ich ahnte noch in derselben Sekunde, dass mir diese Aussage irgendwann um die Ohren fliegen würde. Außerdem passte die patente Klempnertochter nicht zu dem naiven Mädchen, das das Werkzeug im Büro suchte. Doch vorerst entschärfte es die Situation, denn Tom streckte endlich seinen Arm aus.
Als sich meine Finger um die Zange legten, ließ er nicht gleich los. Ich schaute in seine grünen Augen und schluckte. Er glaubte mir nach wie vor nicht. Das versetzte mir ungewollt einen Stich. Ich mochte ihn. Und mir wurde klar: Ich wollte, dass er mich auch mochte.
Endlich lockerte er seinen Griff.
»Danke«, murmelte ich im Umdrehen und marschierte mit schnellen Schritten durch die Halle davon, während Toms Blick sich in meinen Rücken brannte.
Als wäre ein Puma hinter mir her, sprintete ich die Treppe hoch und warf, oben angekommen, die Wohnungstür ins Schloss. Die Rohrzange legte ich auf die Küchenanrichte und sank aufs Bett. Scheiße!
Nun, ich war nicht hier, um Freunde zu finden, rief ich mir erneut ins Gedächtnis, sondern meinen Vater. Letztlich konnte es mir egal sein, was Tom von mir dachte.
War es aber nicht.
Sollte es aber, Aline!
Als ich später zum Arbeiten nach unten ging, hatte sich mein Puls wieder beruhigt. Die Zange hatte ich zurück in die Brauerei gebracht und sie dort Knut in die Hand gedrückt. Tom war zum Glück nicht da gewesen, und ich hoffte, ihm heute möglichst nicht mehr über den Weg zu laufen.
Jette fragte mich mehrmals, ob alles in Ordnung sei oder ob ich mich nicht gut fühlte, weil ich so blass war.
Erst als Sören auftauchte, lenkte mich seine Anwesenheit ab.
»Moin Aline«, begrüßte er mich gut gelaunt. »Heute nehme ich nochmal die Käsespätzle.«
»Geht klar.« Ohne zu fragen, zapfte ich ihm eine Cola und stellte sie vor ihn.
»Willst du mir deine Nummer geben? Dann können wir uns wegen des Wochenendes nochmal kurzschließen.«
»Kann ich gern machen.«
Er zückte sein Handy, und ich diktierte ihm meine Nummer.
»Wie heißt du mit Nachnamen?«
»Räuber.«
»Räuber? Das ist ja mal ein cooler Name. Ich heiße Petersen – das ist das norddeutsche Maier.«
Ich lachte, doch gleich darauf verspürte ich eine Spannung in der Luft. Automatisch blickte ich zum Eingang, und dort stand Tom. Zunächst bedachte er mich mit einem finsteren Blick, und ich befürchtete schon, er habe es sich doch noch anders überlegt und würde mich jetzt vor aller Augen feuern. Aber er ging zu Sören, und sobald er mich nicht mehr ansah, entspannten sich seine Gesichtszüge deutlich.
Ich wandte mich mit klopfendem Herzen ab und polierte Besteck für die Spätschicht, hielt die Ohren dabei aber gespitzt.
»Hey Sören, tut mir leid, dass ich es gestern nicht geschafft habe. Hast du schon bestellt?«
»Ja, eben bei Aline, die Käsespätzle.«
Mit einem Nicken huschten Toms Augen zu mir, ich spürte es, obwohl ich starr auf das Messer in meiner Hand schaute und nicht vorhandene Flecken wegpolierte.
»Ich nehme dasselbe.« Tom sprach mich nicht mit Namen an, und erst mit ein paar Sekunden Verzögerung begriff ich, dass der Satz an mich gerichtet war. Ich sah auf, und unsere Blicke begegneten sich. Seiner war kühl und traf mich erneut unerwartet schmerzhaft.
»Einmal Käsespätzle – und was möchtest du trinken?«, fragte ich und versuchte, mir mein Unwohlsein nicht anmerken zu lassen, während ich die Bestellung eingab.
»Ein Wasser«, brummte er und drehte sich wieder zu Sören. »Sollen wir im Büro essen?«
Sören schien verdutzt über den Vorschlag, doch etwas im Gesicht seines Freundes ließ ihn aufstehen. »Können wir, aber wollen wir nicht warten, bis das Essen fertig ist?«
»Nicht nötig, Aline kann es uns bringen. Sie weiß, wo das Büro ist.«
Sörens Stirn kräuselte sich, doch ich stellte betont ruhig Toms Wasser neben die Cola auf den Tresen. Sören fing meinen Blick auf, und ich lächelte ihn an. »Klar, bringe ich euch, sobald es fertig ist.«
Ehrlich gesagt war ich heilfroh, dass Tom verschwand und die beiden nicht bei mir am Tresen aßen. Nachdem die Männer mit ihren Getränken verschwunden waren, atmete ich erst mal tief durch.
»Zweimal Käsespätzle«, riss Gerald mich aus den Gedanken.
»Das ging aber schnell«, murmelte ich und seufzte innerlich. Ich hätte gut ein paar Minuten mehr Atempause gebrauchen können. Ich nahm die Teller und griff gleichzeitig zu zweimal Besteck.
Bereits drei Meter vor der Bürotür hörte ich Toms aufgebrachte Stimme, und meine Schritte wurden automatisch langsamer, bis ich schließlich kurz vor der Tür stehenblieb.
»Doch, ich sag’s dir! Sie hat den Schreibtisch durchwühlt«, polterte Tom, und mein Herz fühlte sich an wie eine Bleikugel an einer Angel mit deutlichem Zug in die Tiefe. Leise lehnte ich mich an die Wand, meine Finger krallten sich um das Porzellan.
»Ach Tom, Aline ist voll in Ordnung. Vielleicht erschien es ihr gar nicht abwegig, die Zange hier zu suchen. Du weißt doch, wie Frauen manchmal sind.«
Trotz der Anspannung verdrehte ich bei dieser Bemerkung die Augen.
»Du bist echt zu gutgläubig. Wenn ich nicht so einen akuten Personalmangel hätte, hätte ich sie sofort rausgeworfen!«
Ich schluckte, und plötzlich stiegen Tränen in meine Augen. Ich kniff die Lider zusammen, um sie zurückzudrängen.
»Außerdem ist Aline nicht so … naiv«, fügte Tom etwas ruhiger hinzu.
»Bist du dir sicher, dass du hier nicht gerade aus einer Mücke einen Elefanten machst? Du bist etwas überarbeitet, du solltest dir mal wieder einen freien Tag gönnen.«
Tom schnaubte. »Ach, keine Ahnung. Aber du solltest definitiv aufhören mit ihr zu flirten.«
Sören lachte auf. »Was? Ich flirte nicht mit ihr, du weißt doch, dass ich eine Dating-Pause eingelegt habe.«
Einen Atemzug lang herrschte Stille, bevor Sören hinzufügte: »O mein Gott, du findest sie heiß!«
»So ein Quatsch!«, fuhr Tom ihn an.
Ich glaubte, Sören glucksen zu hören. »Na ja, wie auch immer – ich kann dich beruhigen. Ich finde sie einfach nur sympathisch.«
»Du ziehst diesen Scheiß mit dem Dating-Sabbatical doch nicht ernsthaft durch?«, fragte Tom.
»Doch klar! Es ist total befreiend, nicht immer auf der Suche zu sein.«
»Na denn«, brummte Tom.
»Mann, Aline ist ganz neu hier, deshalb habe ich ihr angeboten, mit ihr zu den Ochseninseln zu fahren. Komm doch mit, dann kannst du sie besser kennenlernen und dich davon überzeugen, dass ich nicht mit ihr flirte.«
»Oh, Sören, bitte nicht! Darum geht es hier doch gar nicht. Ich sag dir, ihr Name ist Programm.«
»Das, mein Lieber, ist echt weit hergeholt. Vielleicht sollten wir jetzt besser über was anderes reden, oder du machst die Tür zu. Käsespätzle brauchen in der Zubereitung schließlich nicht ewig.«
Ich hörte, wie ein Stuhl zurückgeschoben wurde. Hastig drückte ich mich von der Wand ab und stieß mit dem Fuß die Tür auf, die Tom um ein Haar am Kopf traf. Geschah ihm recht, dem Blödmann! Das letzte Mal hatte jemand in der Grundschule solch blöde Sprüche über meinen Nachnamen gebracht. Dennoch zwang ich mir ein Lächeln auf.
»Hoppla, sorry, da war ich wohl etwas zu schwungvoll. Hier sind eure Käsespätzle.« Ich schob mich an Tom vorbei ins Büro. Am liebsten hätte ich ihm seinen Teller ins Gesicht geklatscht.
Sören schenkte Tom einen vorwurfsvollen Blick, ehe er mich anlächelte. »Danke dir, Aline.«
»Gern, Sören.«
Ohne Tom eines weiteren Blickes zu würdigen, verließ ich das Büro und kehrte in die Bar zurück, hörte aber noch, wie Tom die Tür hinter mir schloss.
Nach der Schicht packte ich umgehend meine Strandtasche. Dieses Mal fuhr ich mit dem Bus bis nach Wassersleben, kurz vor der dänischen Grenze. Ein Schotterweg führte über einen kleinen Grenzübergang, der aus einer geschwungenen Holzbrücke bestand, daneben gab es sogar noch ein altes Grenzhäuschen aus roten Backsteinen mit weißen Sprossenfenstern.
Ich setzte mich auf dänischer Seite ans Ufer und blickte über die Förde. Eine Schwanenfamilie schwamm am Ufer entlang, die langen Hälse elegant gebogen. Die Jungen waren schon groß, doch ihr Gefieder war immer noch grau. Ich beobachtete sie eine Weile, bis ich meinen Blick in die Ferne schweifen ließ. Von hier konnte ich bis zum Ostseebad und der dahinterliegenden Werft schauen. Mit jedem Wellenplätschern verrauchte meine Wut ein wenig mehr. Dann mochte Tom mich halt nicht – was interessierte es mich? Diese ganze Geschichte hier war nur vorübergehend, und Tom war einer derjenigen, mit denen ich am wenigsten zu tun hatte. Es sollte mir egal sein, was er von mir dachte. Und wenn er mich wirklich rausschmeißen wollte, würde davon die Welt auch nicht untergehen. Die letzten Jahre hatten mich gelehrt, meine Prioritäten neu zu setzen und meine Lebenszeit nicht mit Belanglosigkeiten zu verschwenden.
Mein Handy piepte. Eine Nachricht von einer fremden Nummer.
Moin Aline,
es soll am Wochenende windig und regnerisch werden. Vielleicht verschieben wir den Bootsausflug lieber?
Gruß Sören
Ich schnaufte auf. Na toll, hatte er sich also doch noch von Tom beeinflussen lassen. Mit zusammengebissenen Zähnen schrieb ich:
Ja, ist womöglich besser.
Gruß Aline
Ich sendete die Nachricht ab und steckte mein Handy wieder weg. Früher hatte ich gezeichnet oder gemalt, um mich abzulenken, wenn ich traurig oder wütend war. Aber als es Mama immer schlechter ging, konnte ich das nicht mehr. Denn ich zeichnete am liebsten humorvolle Sachen, und was gab es Fröhliches zu zeichnen, wenn die eigene Mutter im Sterben lag?
Eine Träne tropfte auf meine Wange. Plötzlich wollte ich zurück nach Bochum, um Mamas Grab zu besuchen. Um ihr zumindest ein wenig näher zu sein, mich ein bisschen weniger einsam zu fühlen. Doch egal ob hier oder dort – ich war allein.