Kapitel 11

Es war mein erster freier Tag, der im Schichtplan von Woche zu Woche variierte, und ich beschloss, auf Etsy nach dem Rechten zu schauen. Mittlerweile waren einige Bestellungen eingegangen, und ich bekam ein schlechtes Gewissen, weil ich bisher keine versendet hatte. Ich raffte mich auf und richtete alles her, was ich benötigte. Die Druckpresse, die Farben und die Rollen. Ich spannte eine Schnur durch den Raum, wo die Bilder trocknen konnten, und die Rollenverpackungen, in denen ich sie versendete, stapelte ich neben dem Bett. Zumindest die größeren. Die kleineren Drucke verschickte ich als Großbrief in verstärkten Umschlägen, die man nicht knicken konnte. Die Arbeit für den Shop lenkte mich ab, und nach dem Mittag blickte ich zufrieden auf mein Tagwerk. Jetzt mussten die Bilder trocknen, dann konnte ich sie am Montag versenden. Um keine schlechten Bewertungen wegen der Verzögerung bei der Auslieferung zu erhalten, verfasste ich noch eine kurze Infomail an die Käufer, dass ihre Bestellung für den Versand vorbereitet war.

Frisch geduscht, machte ich mich im Anschluss auf den Weg in die Innenstadt. Nach den Tagen am Strand wollte ich mir heute Flensburg etwas genauer anschauen. So konnte ich gleich herausfinden, wo sich die nächste Poststelle befand.

Zunächst schlenderte ich wieder am Hafen entlang. Rechts reihten sich Kneipen und Restaurants aneinander und links wies mich ein Schild auf den Museumshafen hin. Bisher war ich nur daran vorbeigelaufen, nun bog ich ab, um ihn mir genauer anzusehen. Rund um ein rotes hölzernes Gebäude standen Segelboote aufgebockt. Ein weiterer Wegweiser führte in einen kleinen Innenhof und zu einem Café – dem Werftcafé. Die Stühle und Tische, die draußen aufgebaut waren, ergaben ein sympathisches Potpourri aus verschiedenen Modellen. Dazwischen standen Werkzeuge und allerlei anderer Krimskrams. Das Gebäude des Cafés war ein schnuckeliges kleines Holzhaus, ebenso mit roten Holzplanken verkleidet wie die Halle der Museumswerft.

Die Angebote des Tages waren mit Kreide auf eine schwarze Tafel geschrieben. Obwohl ich noch nicht zu Mittag gegessen hatte, entschied ich mich für ein Stück Kuchen und einen Kaffee. Damit nahm ich draußen an einem Tisch Platz, der hinter einer durchsichtigen Windschutzscheibe einen direkten Blick auf das Hafenbecken bot. Alte Segelboote lagen dort vor Anker, die womöglich Teil des Museumshafens waren.

Möwen kreischten, segelten über den heute blauen Himmel und landeten auf dem hölzernen Steg direkt an der Kaimauer oder auf einer der Dalben, an denen die Schiffe festgemacht waren. Mama hätte es hier gefallen, dachte ich. Trotz der ungewissen Umstände fühlte es sich richtig an, hier zu sein.

In einem unserer letzten Gespräche hatte sie mir das Versprechen abgenommen, alles zu tun, was mein Herz sich wünschte. In jenem Moment hatte es sich nur eins gewünscht: dass dieser schreckliche Krebs verschwindet. Er war verschwunden – doch er hatte meine Mutter mitgenommen.

Nachdem ich den Kuchen und den Kaffee in Gedanken versunken verspeist hatte, zog ich das Handy hervor. Ich hatte einen Entschluss gefasst. Ich wollte Karin anrufen. Womöglich wusste sie doch noch irgendetwas, was mir weiterhalf. Außerdem wollte ich nicht die Fehler von ihr und Mama wiederholen.

Auf der Suche nach einem halbwegs ungestörten Plätzchen verließ ich das Café und schlenderte an der Hafenkante und den dort festgemachten alten Segelschiffen entlang. Ich passierte eine zehn Meter lange Schlange, die sich vor einer Fischbude aufreihte. Wie das Werftcafé war die Bude mit Holz verkleidet, allerdings mit dunklen Planken, und sie war auch nur ein winziges Häuschen. Wo es, dem Andrang nach zu urteilen, verdammt gute Fischbrötchen geben musste. Die angebotene Auswahl stand auf Brettern rechts des weißen Sprossenfensters, durch das die Brötchen herausgereicht wurden. Da würde ich morgen etwas essen, beschloss ich.

Endlich erreichte ich einen Abschnitt, wo weniger los war. Aus Paletten war hier eine gemütliche Sitzecke gebaut worden. Ich setzte mich auf eine der Bänke und wählte mit klopfendem Herzen die Nummer meiner Tante.

»Ja, hallo?«

»Hier ist Aline.«

»Aline, schön, von dir zu hören.«

»Hallo Karin«, erwiderte ich erleichtert. Nach dem, was ich ihr nach der Beerdigung an den Kopf geworfen hatte, war ich mir nicht sicher gewesen, wie sie auf meinen Anruf reagieren würde. »Ich wollte dir sagen, dass es mir leidtut, wie wir nach der Beerdigung auseinandergegangen sind.«

»Ach, vergiss es, das Ganze muss ja ein Schock für dich gewesen sein. Womöglich hätte ich nicht so mit der Tür ins Haus fallen sollen.«

»Ich habe aber noch ein paar Fragen.«

»Natürlich, das verstehe ich. Möchtest du nicht vorbeikommen? Dann können wir das bei einem Kaffee besprechen.«

»Das ist gerade schlecht, ich bin nicht in Bochum.«

»Ach so … schade.«

Ich merkte meiner Tante an, dass sie gern gewusst hätte, wo ich war, doch sie fragte nicht.

»Du hast erzählt, dass Mama meinen Vater nicht im Italienurlaub kennengelernt hat. War sie denn in dem Sommer vor meiner Geburt noch irgendwo anders außer in Italien?«

Ich hörte es am anderen Ende der Leitung rascheln.

»Hm … ja, sie hatte damals eine Brieffreundin, und ich meine, die hat sie im selben Jahr besucht.«

»Und wo wohnte die?«

»Irgendwo in Norddeutschland, an der dänischen Grenze …«

»In Flensburg?«, hauchte ich ins Telefon. Mein Herz nahm an Fahrt auf.

»Ja, genau, dort war sie!«

»Wie lange denn?«

»Das müssten die ersten Wochen der Sommerferien gewesen sein, Ende Juni, Anfang Juli. Unsere Pflegeeltern fuhren immer erst im August nach Italien, und Margit konnte in diesem Jahr noch mit, weil ihre Ausbildung erst am ersten September begann.«

»Weißt du noch, wie die Freundin hieß?«

»Ich erinnere mich nur an den Vornamen, sie hieß nämlich wie ich: Karin.«

Ich schaute auf die Förde hinaus, wo ein Segelboot mit Motorkraft und noch eingeholten Segeln den Hafen verließ. Wenn ich doch auch einfach von allem hätte davonsegeln können! Einfach immer weiter dem Horizont entgegen.

Aber ich musste die unangenehmen Fragen stellen, wenn ich Antworten wollte.

»Warum, meinst du, sollte Mama mir die Wahrheit über meinen Vater verschwiegen haben?«

»Das ist es ja, was ich auch nie verstanden habe. Und worüber wir uns so zerstritten haben. Vielleicht aus einem verletzten Herzen heraus oder weil er kein Kind wollte. Aber das ist alles Rätselraten. Und selbst wenn er damals nicht bereit war, Verantwortung zu übernehmen, hätte sie dir doch zugestehen müssen, als Erwachsene Kontakt aufzunehmen, sofern es dein Wunsch gewesen wäre. Ich habe deine Mutter geliebt, aber in dieser Sache lag sie einfach falsch.«

Ich atmete tief durch. Bis zum Streit von Mama und Karin war meine Tante in der Tat ein großer Bestandteil meines Lebens gewesen. Die Schwestern hielten bedingungslos zueinander und standen sich bis zu dem Zerwürfnis sehr nahe. Als sie sich verkrachten, war ich ein Teenager, der genug mit sich selbst zu tun hatte. Ehrlich gesagt hatte ich nur die Augen verdreht und mich nicht weiter dafür interessiert, als Mama verkündete, sie wolle nichts mehr mit Karin zu tun haben. Da dachte ich noch, der Streit würde in spätestens einer Woche vergessen sein. Doch das passierte nicht. Und Karin kam uns nie wieder besuchen.

»Ich habe Briefe gefunden«, sagte ich unvermittelt.

»Briefe an dich von Margit? Oder etwa von deinem Vater?« Karins Stimme überschlug sich fast.

»Briefe an Mama, von einem Mann, der nur mit J unterzeichnet hat. Es ist von Mamas Ausbildung die Rede, also muss es zu der Zeit damals gewesen sein, und das Datum passt auch. Anhand einer Telefonnummer habe ich herausgefunden, dass er etwas mit einer Brauerei in Flensburg zu tun hatte.«

»Mir hätte von Anfang an klar sein sollen, dass es nicht in Italien passiert ist! Das hätte Margit sich niemals vor den Augen unserer Pflegeeltern getraut«, sagte meine Tante aufgeregt.

»Ich bin jetzt in Flensburg, um mehr über diesen Mann herauszufinden.«

»Du bist allein dorthin gefahren?«

Ich überging diese Frage. »Karin, erinnerst du dich, ob Mama nach dem Sommer, in dem sie schwanger wurde, Briefe aus Flensburg bekommen hat?«

Es dauerte, bis meine Tante antwortete. »Es ist alles so lange her, aber als du eben diesen ›J‹ erwähnt hast … da hat was bei mir geklingelt. Weil ich mich damals immer gewundert habe, dass der Absender der Briefe seinen Vornamen auf den Umschlägen nicht ausschrieb. Deine Mutter hat behauptet, es wäre ein Mädchen, das sie dort kennengelernt habe. Johanna … Johanna … Mertens … oder Marten?«

»Martens?« Ich merkte, wie meine Hand, mit der ich das Telefon hielt, leicht zitterte.

»Ja, ich glaube schon.«

In dem Moment gab es für mich keinen Zweifel mehr, dass Jens der Briefeschreiber war. Aber war er auch mein Vater?

»Warum nur hat sie damals nicht mit mir darüber gesprochen und mir das alles verheimlicht? Bei unseren Pflegeeltern verstehe ich es, aber bei mir? Was wirst du denn jetzt tun?«

»Ich bin mir noch nicht sicher. Ich will zunächst herausfinden, was für ein Mann er ist. Mir hat in meinem Leben eigentlich nie ein Vater gefehlt, und ich weiß gar nicht, ob ich jetzt überhaupt noch einen möchte. Und die Sache mit dem Vornamen ist ja auch noch keine Bestätigung dafür, dass er es wirklich ist. Nur dass er und meine Mutter verliebt waren, das war den Briefen deutlich zu entnehmen.«

»Aber zusammen mit den Sachen, die sie vor unserem Streit gesagt hat, deutet schon vieles darauf hin, dass er auch dein Vater sein könnte. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es noch jemanden gab.«

Nachdenklich nickte ich, erwiderte aber nichts, denn es fiel mir immer noch schwer, mir einzugestehen, dass mir meine Mutter diese Wahrheit vorenthalten hatte. Und dass es Laurence aus Frankreich womöglich nie gegeben hatte.

»Pass bitte auf dich auf, Aline. Du kannst gern wieder anrufen, wenn etwas ist.«

»Das mache ich. Und … Karin?«

»Ja?«

»Danke, dass du es mir gesagt hast.«

»Das ist mir nicht leichtgefallen … Aber ich bin der Ansicht, dass es richtig war. Trotzdem – nimm es deiner Mutter nicht übel. Sie hatte bestimmt ihre Gründe, es dir nicht zu sagen. Auch wenn wir es nicht verstehen.«