Kapitel 12

Gedankenverloren bummelte ich im Anschluss durch die hübsche Flensburger Innenstadt mit ihren urigen Innenhöfen. Ich stöberte in einer Buchhandlung, um mir einen neuen Krimi zu kaufen. Doch ehe ich mich’s versah, stand ich vor den Kinderbüchern. Ich fuhr mit der Hand über die hübsch illustrierten Buchdeckel – und dann stockte ich. Dort lag die Geschichte, deren Illustrationsauftrag ich nicht beendet hatte. Die Figuren auf dem Umschlag hatten meinen Stil, die Illustratorin, die für mich eingesprungen war, hatte sicher mein vorhandenes Material genutzt.

Der Anblick brachte eine Saite in mir zum Klingen, die ich schon lange nicht mehr gehört hatte. Leise summte der Wunsch in mir, selbst eine Geschichte zu erzählen, die ich dann illustrierte. Doch als ich das Buch zurück auf den Stapel legte, verstummte der Wunsch abrupt wieder. Ich konnte nicht mal ein Pony zum Ausmalen für Bea zeichnen, ohne dabei Beklemmungen zu bekommen. Da war es absurd, von einem eigenen Kinderbuch zu träumen. Ich ging zur Kasse und bezahlte meinen Krimi.

Es war schon früher Abend, als ich zur Brauerei zurückkehrte.

Gerade als ich die Eingangstür aufstieß, kam Tom aus seinem Büro. Ich schaute ihm kurz in die Augen und las immer noch Misstrauen darin. Eilig wandte ich den Blick ab und ging zielstrebig zur Tür, die zum Treppenaufgang führte.

Oben angekommen, öffnete ich zunächst ein Fenster, um den Geruch nach Farbe zu vertreiben. Ich war aufgewühlt von dem Gespräch mit Karin und ärgerlich über Toms Misstrauen. Nicht nur, dass es mir ungewollt einen Stich versetzte. Es erschwerte mir mein ganzes Vorhaben! Jetzt würde er sicherlich jeden meiner Schritte ganz genau im Auge haben.

Als ich mich vom Fenster wegdrehte, streifte ich den Stapel weißes Papier, und aus meinem Unmut heraus griff ich zu einem Brush Pen. Ohne nachzudenken, jagte ich ihn mit schnellen, wütenden Strichen über das Blatt, und in wenigen Minuten entstand Toms Gesicht vor mir. Aber als fiese Karikatur. Seine Haare hatte ich als monströsen Wischmopp gezeichnet, die Nase größer und den Mund so breit wie den eines Breitmaulfrosches, samt Überbiss.

»Blödmann!«, sagte ich zu der Zeichnung und schob sie beiseite. In Wahrheit war ich genauso sauer auf mich selbst, weil ich so dumm gewesen war, mich gleich beim ersten Umsehen erwischen zu lassen. Diese ganze Undercover-Sache lag mir einfach nicht. Aber es war nun mal leichter, seinen Ärger auf jemand anderen zu projizieren. Erst mit einer Verzögerung begriff ich, was gerade passiert war – ich hatte gezeichnet. Eine Weile starrte ich auf das verzerrte Antlitz von Tom, dann auf das nächste leere Blatt und dachte dabei an das Buch in der Buchhandlung, an den Wunsch, eine eigene Geschichte zu schreiben.

Warum hatte ich eigentlich nie versucht, etwas zu zeichnen, das meinen negativen Emotionen entsprang? Ich konnte die Figuren doch genauso gut durch eine traurige Geschichte schicken, sie durften wütend und hilflos sein. Schließlich brauchte es nicht als Kinderbuch veröffentlicht zu werden, sondern mir lediglich helfen, wieder Zugang zu meiner größten Leidenschaft zu bekommen.

Ich legte den Brush Pen weg und nahm stattdessen einen weichen Bleistift. Die Figuren meiner Geschichte hatte ich schnell zusammen. Sören, der plappernde Vogel – statt eines Beos nahm ich einen Papagei mit grauem Gefieder, der seinem Stinktier-Freund mit Namen Tom alles nachsprach. Ich skizzierte die beiden Tiere, wobei ich das Stinktier mit einem bösen Gesichtsausdruck und fiesen Eckzähnen ausstattete.

Aber wer war ich in dieser Geschichte?

Ein Räuber, würde Tom sagen. Und plötzlich wusste ich es. Ich malte einen Waschbären mit seiner typischen schwarzen Maske. Ria Räuber hieß der pelzige Freund. Das Stinktier taufte ich Tom Nasengift und den Vogel Sören Federlein. Ich zeichnete die drei erneut – in einer ähnlichen Szene, die der vor dem Büro glich, als ich Tom und Sören die Käsespätzle gebracht hatte. Ria Räuber belauschte die beiden, hörte, wie Tom Nasengift Sören beschwor, sich auf keinen Fall mit der Räuberin anzufreunden. Ich zeichnete es im Comicstyle mit Sprechblasen. Es tat so gut, meine Emotionen in etwas Kreatives umzuwandeln! Wie hatte ich das vermisst, so sehr vermisst … Fast weinte ich bei dem erleichternden Gefühl zu zeichnen. Es floss nur so aus mir heraus. Als hätte ich endlich den Schlüssel zu einer verschlossenen Tür gefunden.

Im Anschluss betrachtete ich mein Werk. Als Nächstes zeichnete ich eine Szene, in der Ria Räuber ihre Mutter fragte, wo denn ihr Vater wäre.

»Wir brauchen niemanden. Es gibt nur dich und mich«, antwortete Mutter Waschbär.

Seufzend ließ ich den Stift sinken, als mein Handy piepte. Eine Nachricht von Anni, die fragte, wie es mir ging. Aber das Telefon zeigte noch eine weitere Nachricht an. Von Sören.

Falls du Lust hast, könnten wir stattdessen an einer Flughalle für den verrückten Vogel arbeiten. Sag einfach Bescheid, dann schicke ich dir die Adresse, ich bin morgen ab zehn Uhr dort.

Ein warmes Gefühl flutete meinen Magen. Sören hatte sich doch nicht von Tom beeinflussen lassen! Morgen war mein erster Tag in der Spätschicht, daher passte es vormittags gut.

Gern. Wo soll ich hinkommen?

Sören sendete mir eine Adresse, und ich antwortete danach Anni und gab ihr ein kleines Update. Schickte ihr dazu die Karikatur von Tom. Woraufhin sie mir das klatschende und das tanzende Emoji schickte, weil ich endlich wieder etwas gezeichnet hatte.