Kapitel 13

Ich steuerte mein Auto westlich aus Flensburg hinaus. Wie von Sören vorhergesagt, hingen dunkle Regenwolken am Himmel. Über ein kurzes Stück Schnellstraße gelangte ich in einen Vorort der Hafenstadt. Das Navi dirigierte mich zu der Adresse, die Sören mir am Tag zuvor geschickt hatte. In einem Industriegebiet parkte ich vor einer kleinen Halle. Kaum hatte ich den Motor ausgestellt, fielen die ersten Regentropfen auf die Windschutzscheibe. Ich rannte zu der Tür neben dem großen Rolltor und drückte die Klinke herunter.

»Hallo?«, rief ich hinein.

»Hier hinten! Komm rein, aber mach bitte die Tür zu!«, erklang Sörens Stimme.

Nachdem ich hineingeschlüpft war, ließ ich meinen Blick durch die Halle schweifen und entdeckte Sören hinten in der Ecke, wo er den Arm lang nach oben gestreckt hielt. Einen guten Meter über seinem Kopf hockte der Vogel auf einem Mauervorsprung. Schmunzelnd stellte ich mich neben Sören.

»Das ist er also, der gute Hubert.«

Sören schnaubte. »Der gute – von wegen! Ich wollte gerade damit beginnen, ein Stück von der Halle für ihn abzutrennen, da ist er mir entwischt, er kann nämlich Käfigtüren öffnen.«

Ich entdeckte einen kleinen Käfig auf einer Werkbank. »Ganz ehrlich, in diesem Ding würde ich auch nicht bleiben wollen.« Ich deutete auf das Drahtgefängnis.

»Es ist ja nur der Reisekäfig. O Mann, jetzt rede ich schon von Vögeln und ihren Reisekäfigen ! Wie bin ich nur in diese Situation geraten?« Mit einem verzweifelten Lachen steckte er sich die Weintraube, die er eben noch dem Vogel angeboten hatte, selbst in den Mund. »Möchtest du auch welche? Sind gewaschen, mein Vater besteht darauf, dass Hubert nur gewaschenes Obst bekommt.« Sören verdrehte die Augen.

Schmunzelnd nahm ich eine der Trauben. »Wie kann ich dir beim Abtrennen der Flugsicherheitszone helfen?«

»Das erkläre ich dir gleich. Komm, erst mal zeige ich dir mein Schätzchen.«

Sörens Schätzchen war sein Segelboot, das kleiner war als erwartet, vielleicht vier oder fünf Meter lang. Womöglich sah es auch nur klein aus, weil kaum ein Teil auf dem anderen saß. Überall hatte Sören Einzelteile aus- oder abgebaut, um sie zu ersetzen oder neu zu streichen. So verteilte sich das Schätzchen in der ganzen Halle.

»Wird bestimmt mal schön«, sagte ich etwas ratlos. »Hat das Boot schon einen Namen?«

Sören seufzte. »Nee, so weit bin ich noch nicht. Das kommt ganz zum Schluss.«

»Okay, ich habe keine Ahnung vom Segeln. Wo hast du das denn gelernt?«

»Mein Vater hat es mir beigebracht. Also habe ich neben dem Vogel noch etwas Sinnvolles von ihm bekommen.«

Ich lachte. »Ich helfe dir gern auch mal beim Boot. Im Streichen und Lackieren bin ich ganz gut.«

»Ich wusste, dich kann man gebrauchen.«

»Aber heute kümmern wir uns um den da.« Ich deutete zu Hubert, der in diesem Moment losflog und geradewegs auf mich zuhielt. Automatisch ging ich einen Schritt rückwärts.

»Streck mal den Arm aus, vielleicht landet er darauf.«

»Ich weiß nicht …«

»Doch, mach, er ist harmlos.«

Zögerlich streckte ich den Arm nach vorn und hoffte das Beste. Kurz bevor der Vogel mich erreichte, schloss ich die Augen. Erst als ich durch den Stoff meines Pullis spürte, wie sich Krallen schlossen, hob ich die Lider wieder.

»Hallo«, begrüßte ich das Tier leise. Sein schwarzes Gefieder glänzte mit einem dunkelgrünen Schimmer. Die kleinen runden Äuglein blickten mich wach an.

»Arschloch«, sagte er, und ich schaute fragend zu Sören, der sich verlegen am Kopf kratzte.

»Ich sag ja, sein Wortschatz ist so eine Sache. Eigentlich kann er nur Arschloch sagen und die Klospülung nachmachen.«

»Wie bitte?«

»Zur Verteidigung meines Vaters musst du wissen, er hat ihn von einem Bekannten übernommen, und da konnte er diese beiden Sachen schon. Mein Vater hat ihm leider nichts Neues beigebracht.«

Irgendwie stellte ich es mir traurig vor, so viele Jahre als Einziger seiner Spezies unter Menschen zu leben. Ein bisschen fühlte ich mich im Moment wie Hubert, als letztes Mitglied von Mamas und meiner Familie.

»Er scheint dich zu mögen.« Der Vogel war meinen Arm hinaufgewandert und wuselte nun mit seinem Schnabel in meinen Haaren herum.

»Vielleicht steht er auf Rothaarige.«

»Unser Glück. Das letzte Mal habe ich zwei Stunden gebraucht, um ihn einzufangen.«

Der Vogel saß mittlerweile auf meiner Schulter. »Und nun?« Ich schielte an Hubert vorbei zu Sören.

»Wenn es dich nicht stört, lass ihn da sitzen. Bei meinem Vater hockt er beim Kochen auch oft auf der Schulter.«

»Interessante Familie hast du.«

»Ich weiß, ich bin eindeutig am normalsten geraten.« Sören deutete zum gegenüberliegenden Teil der Halle. »Schau mal, ich habe solche Anhängersicherungsnetze besorgt, damit trennen wir nicht nur ein Stück der Halle ab, sondern wir hängen sie auch unter die Decke, damit er nicht bis zum Dach fliegen kann. Dann hat er ein gesichertes Areal und könnte zur Not auch darin bleiben, wenn er sich mal wieder partout nicht einfangen lässt.«

»Gut! Und was soll ich machen?«, fragte ich, hoch motiviert, diesem Vogel etwas mehr Freiheit zu verschaffen.

»Ich habe mir einen Gabelstapler von den Nachbarn geliehen, kannst du den fahren?«

»Einen Gabelstapler? Nein.« Ich lachte.

»Dachte ich mir. Dann bleibt nur die mühsame Aufgabe, die Netze zu befestigen. Ich fahre dich mit dem Stapler hoch.«

Mein Blick glitt von Sören zur Decke.

»Oder hast du Höhenangst?«

Langsam schüttelte ich den Kopf.

»Auf der Gabel ist ein Drahtgitterkorb, damit du oben sicher stehst.«

»Und das alles mit dem Vogel auf der Schulter?«

Sören zuckte mit den Achseln. »Ich kann ihn dir auch abnehmen. Hubert, komm mal her!«

Doch Hubert dachte gar nicht daran, zu seinem Pflegeherrchen zu gehen, sondern wuselte weiter mit dem Schnabel in meinen Haaren rum. »Lass mal. Er kann ja wegfliegen, ich werde ihn einfach nicht beachten.« Ich ging zu dem Gabelstapler und kletterte in die Drahtbox, in die Sören schon die Netze gelegt hatte.

»Und wie mache ich die Netze fest?«

»Am Holz kannst du sie mit dem Elektrotacker befestigen, und von der einen Hallenseite zur anderen habe ich gestern schon ein Drahtseil gespannt, da dann einfach mit Kabelbindern festzurren.«

»Aha. Erinnere mich bitte daran, nur noch Einladungen zum Bootfahren von dir anzunehmen.«

Sören lachte verlegen. »Sorry, aber du würdest mir und Hubert echt einen riesigen Gefallen tun.«

»Dann schuldest du mir auf jeden Fall eine Fahrt zu den Ochseninseln.«

»Mit einem Hotdog von Annies Kiosk, versprochen!«

Wir grinsten uns an, dann drückte er mir eine Packung Kabelbinder und einen Tacker in die Hand, und ich kam nicht umhin, es schön zu finden, einfach mal eine normale Unternehmung mit einem Kumpel zu machen. Obwohl – als normal konnte man das Unterfangen eigentlich nicht bezeichnen. Ich schloss die Finger um die Umrandung.

»Bereit?«, fragte Sören eine Minute später aus der Fahrerkabine des Staplers. Der Vogel war Gott sei Dank von meiner Schulter auf den Rand des Drahtkorbes gehüpft, wo er jetzt einen merkwürdigen Tanz aufführte und dabei seinen Kopf auf und ab bewegte.

Ich zeigte Sören einen Daumen nach oben, woraufhin er den Korb ein Stück anhob und zur seitlichen Hallenwand lenkte. Dort fuhr er den Korb immer höher, bis ich an einen der unteren Deckenbalken herankam. Ich blickte auf den grünen Haufen, der das Netz sein sollte. Wo war der Anfang? Ich hockte mich hin und fand eine Ecke.

»Ist das Netz quadratisch?«, rief ich Sören zu.

»Was?«, schrie er zurück und reckte den Kopf aus der Fahrerkabine.

»Ob es quadratisch ist!«

»Nein!«

Na klasse. Beherzt griff ich in den Haufen und hievte ihn auf den Rand des Drahtkorbes. Langsam ließ ich das Netz auseinandergleiten, hielt meine Ecke dabei jedoch fest. So konnte ich erkennen, welches die kurze Seite war, die ich antackern sollte. Ich gab Sören ein Zeichen, näher an die Wand zu fahren. Dann setzte ich den Tacker an. Mit der elektrischen Unterstützung ging es leichter als gedacht, und einmal angefangen, schafften wir schnell die kurze Seite. Hubert schien einen Heidenspaß dabei zu haben, denn er hockte die ganze Zeit auf der Umrandung des Drahtkorbes.

»Verrückter Vogel«, murmelte ich, als ich den Tacker gegen die Kabelbinder tauschte, um nun die lange Seite von Hallenwand zu Hallenwand an dem Drahtseil zu befestigen. Eine weitere halbe Stunde später war auch das fast geschafft. Der Vogel breitete überraschend seine Flügel aus und startete. Ich schaute ihm hinterher, wie er durch die Luft glitt, doch dann stockte mein Atem, als Tom durch die Tür trat. In kurzer Hose und T-Shirt, lässig mit Flip-Flops an den Füßen. Hubert hielt geradewegs auf ihn zu, und erst als er wenige Meter vor ihm war, bemerkte Tom den Vogel. Schützend hielt er die Arme vors Gesicht und duckte sich.

»Was zur Hölle …!«, rief Tom so laut, dass ich es sogar über das Motorengeräusch des Staplers hörte. Hubert drehte scharf ab und flog zu mir zurück. Er landete auf der Umrandung, bewegte seinen Kopf auf und ab, und es sah aus, als amüsierte er sich prächtig. »Arschloch.«

Ich unterdrückte ein Kichern, was mir nur mäßig gelang. Als Toms Blick suchend durch die Halle glitt und schließlich mich und den Vogel unter der Decke ausmachte, verging es mir allerdings schlagartig. Ablehnung war das eine Wort, das ich in seinem Gesicht las. Es passte ihm nicht, dass ich hier war und Sören offensichtlich nicht auf seinen Rat, sich nicht mit mir abzugeben, gehört hatte. Mit genervtem Gesichtsausdruck senkte er den Blick und ging zu Sören.

Ich verstand nicht, was sie sagten, das Motorengeräusch des Staplers war zu laut. Mittlerweile roch die Luft nach Diesel. Armer Hubert. Ich dachte an die Kanarienvögel, die früher in den Gruben eingesetzt worden waren, weil sie bei zu viel Kohlenmonoxid als Erste von der Stange kippten und so die Kumpel warnten.

Sicherlich fragte Tom seinen Freund gerade, was ich hier verloren hatte. Ob er keine Angst hatte, dass ich ihn ausrauben würde. Ich verdrehte die Augen und griff zum nächsten Kabelbinder.

»Aline?«, rief Sören. Ich schaute nach unten, vermied dabei allerdings, Tom anzusehen. »Ich fahr dich runter.«

»Und das Netz?«

»Lass es einfach hängen!«

Ich nickte und warf den Rest des Netzes aus dem Drahtkorb. Je näher ich dem Boden kam, desto schneller schlug mein Herz. Unten angekommen, lächelte ich Tom flüchtig an und presste ein »Hallo« heraus.

»Moin«, erwiderte er emotionslos.

»Arschloch«, krakelte Hubert erneut, und Sören lachte laut los, während ich die Lippen aufeinanderpresste. Jetzt zu lachen, wäre sicherlich bei meinem Chef nicht besonders gut angekommen.

Tom schnaubte. »So ein Theater wegen dieses Vogels?«

Sören zuckte mit den Achseln. »Ist doch eigentlich schnell gemacht, und wenn du uns hilfst, noch schneller.«

Uns helfen? O Gott, ich sollte doch nicht mit ihm zusammen in diesem kleinen Drahtkorb stehen, oder?

Zu meiner Erleichterung stieg Tom kurz darauf in die Fahrerkabine, und Sören stieg zu mir in den Drahtkorb. »Zu zweit sind wir ratzfatz fertig.«

Ich nickte. Meine Kehle war etwas trocken. Mein Puls beruhigte sich erst wieder, als Tom uns nach oben fuhr. Er lenkte den Stapler noch geschickter als Sören, sodass es kaum ruckelte. Schweigend spannten wir das Netz unterhalb der Deckenbalken als obere Begrenzung und verbanden es mit dem an der Seite, während Hubert neben uns hin und wieder eine Klospülung imitierte. Zunächst dachte ich, Sören wäre fest entschlossen, die Spannung, die seit Toms Auftauchen in der Luft lag, zu ignorieren. Doch dann sagte er unvermittelt: »Nimm es nicht persönlich, er kriegt sich schon wieder ein, okay? Er hat mir von dem … ähm … Zwischenfall erzählt.«

Ich hielt inne, drehte meinen Kopf zu Sören und nickte. Dann schluckte ich einmal schwer, während mein Hals vor Scham rote Flecken bekam. Ich war Sören dankbar, dass er nicht detaillierter nach dem Wasserhahn fragte, denn ich hätte ihn nur ungern angelogen, wollte ihm aber auch nicht die komplette Wahrheit erzählen. Nachher steckte er es Tom.

Ich verlor mich in der monotonen Arbeit, während Sören von dem aktuellen Schiffsprojekt in der Werft schwärmte, an dem er dort arbeitete. Ich hörte nur mit halbem Ohr zu und dachte daran, wie unerwartet das Schicksal einen manchmal herumschubste. Zuerst die finsteren zwei Jahre und das Loch, in das ich nach der Beerdigung gefallen war. Und nun stand ich auf der Gabel eines Staplers, in einer Halle in einem kleinen Vorort, dessen Namen ich schon wieder vergessen hatte, und erschuf eine Flughalle für einen Vogel, der mit Sicherheit genauso einsam war wie ich. Obwohl – war ich noch genauso einsam wie in Bochum? Oder war ich hier in Flensburg lediglich mehr abgelenkt?

Eine Dreiviertelstunde später hingen alle Netze, und Hubert kreiste in seiner neuen Freiflughalle. Ein Lächeln schlich sich auf mein Gesicht, während Tom Sören und mich heil zurück auf den Boden brachte. »Ich glaube, es gefällt ihm.«

»Sieht so aus. Danke, Aline.«

»Ich freue mich schon auf die Fahrt zu den Ochseninseln.« Freundschaftlich knuffte ich ihn mit dem Ellenbogen in die Seite.

»Hey!«, erwiderte er grinsend auf meinen Stoß. »Und auf einen Hotdog bei Annies.«

»Und auf den!«

»Möchtet ihr noch was trinken? Cola oder ein Bier?« Sören richtete seine Aufmerksamkeit nun auch auf seinen Kumpel. Tom war in der Zwischenzeit aus der Kabine des Staplers gesprungen und stand mit verschränkten Armen neben der Maschine.

»Ich wollte dich eigentlich fragen, ob wir noch kiten sollen. Der Wind steht perfekt für Holnis.«

»Gute Idee, aber das tut er auch in einer halben Stunde noch. Oder kommst du mit, Aline? Dann können wir am Strand etwas trinken.«

Ich schaute flüchtig in Toms unleserliche Miene, ehe ich mit einem angestrengten Lächeln zu Sören sagte: »Nein, ich …« Ja, was hatte ich wohl noch zu tun? »Ich will mit einer Freundin telefonieren. Sie wartet sicherlich schon auf meinen Anruf, und danach beginnt bald meine Schicht.« Ich wandte mich zur Tür. »Euch aber viel Spaß.«

»Danke, und wenn du es dir anders überlegst, ich schicke dir den Standort!«

Ich nickte und hob die Hand zum Gruß, wohl wissend, dass dieser Fall nicht eintreten würde. »Tschüss.«

»Bis bald!«, rief Sören fröhlich, während Tom eher verhalten »Tschüss« brummte.

Es hatte aufgehört zu regnen, aber der Wind war frisch. Doch die Gänsehaut auf meinen Armen kam nicht davon, sondern vielmehr von Toms eisigen Blicken. Das mit ihm hatte ich definitiv vermasselt.

Egal! Schließlich war ich wegen Jens Martens hier. Das Problem war nur, dass ich Tom anfänglich absolut sympathisch gefunden hatte und es schade fand, wie er nun über mich dachte.