Kapitel 16

Am nächsten Tag rief Sören an.

»Ja?«, murmelte ich verschlafen.

»Habe ich dich geweckt?«

»Schon okay, ich wollte eh aufstehen.«

Ich richtete mich auf und unterdrückte ein Gähnen.

Bis kurz vor Mitternacht war Tom geblieben – schließlich war heute, am Montag, Ruhetag in der Bar –, doch dann waren mir fast die Augen zugefallen, und er hatte sich verabschiedet. An der Tür hatte er mich in eine kumpelhafte Umarmung gezogen, die in meinem Körper ein kurzes Kribbeln auslöste. Erleichterung – es war bestimmt nur die Erleichterung darüber, dass wir das Missverständnis ausgeräumt hatten.

Dieses Gefühl musste ich jedoch mit in meine Träume genommen haben, denn als ich jetzt daran dachte, was ich geträumt hatte, schoss mir die Röte in die Wangen. Ich räusperte mich und konzentrierte mich wieder auf Sören und unser Gespräch.

»Hast du spontan Zeit?«

»Wofür? Noch mehr Netze aufhängen?«

Sören lachte. »Ich habe den Artikel gelesen, den du mir geschickt hast, und noch ungefähr ein Dutzend mehr. Es ist wirklich nicht okay, wie wir Hubert halten, und ich fühle mich total mies, weil ich mir all die Jahre nie Gedanken darüber gemacht habe. Deswegen habe ich gleich nach Partnervermittlungen für Vögel gesucht.«

Ich verschluckte mich an dem Wasser, von dem ich gerade getrunken hatte. »Eine was, bitte?«

»Eine Partnervermittlungsagentur für Vögel. Es ist nämlich nicht so einfach, den richtigen Partner zu finden. Da scheint es den Vögeln nicht anders zu gehen als uns. Trotzdem hatte Hubert schon lange genug Dating-Detox, es wird Zeit für ihn, die Richtige zu finden.«

Ich kicherte.

»Auf jeden Fall gibt es eine Expertin in der Nähe von Kiel, dahin fahren wir nur eine knappe Stunde, und ich kann dort spontan vorbeikommen. Heute musst du doch nicht arbeiten – oder lässt Tom dich am Ruhetag die Kessel schrubben?«

Ich schmunzelte, während vor meinem inneren Auge eine neue Szene mit Tom Nasengift entstand. »Okay, ich bin dabei. Wann willst du los?«

»Schaffst du es, in dreißig Minuten fertig zu sein?«

»Klar.«

»Klasse, ich hole dich ab.«

Wir legten auf, und ich schüttelte lachend den Kopf. Partnervermittlung für Vögel. Na, wenn Hubert das wüsste! Da mein Vorhaben, meinen Vater ausfindig zu machen, bisher eher schleppend verlief, konnte ich zumindest Hubert zu einer Familie verhelfen.

Als ich eine halbe Stunde später vor die Brauerei trat, erwartete mich schönstes Sommerwetter. Lächelnd reckte ich die Nase mit geschlossenen Augen für ein paar Sekunden der Sonne entgegen. Dann stieg ich die Stufen hinunter und entdeckte Sörens Auto. Er und Tom standen davor und unterhielten sich.

»Ah, da ist sie«, verkündete Sören, als er mich bemerkte. Toms Blick traf mich, und mir wurde für einen Moment warm im Bauch. Irritiert darüber blinzelte ich ein paarmal.

»Moin«, grüßte er.

»Morgen, ihr zwei.« Ich lächelte etwas unsicher. Doch Sören sorgte dafür, dass die Situation nicht komisch werden konnte.

»Dann nix wie los! Nicht dass Tom dich doch noch zum Kesselschrubben verdonnert. Ich habe gehört, dein Chef kann manchmal ganz schön grummelig sein.«

Tom verdrehte die Augen. »Heute ist doch Ruhetag, das weißt du ganz genau, und Kessel musste noch keine Servicekraft schrubben.« Er klopfte zum Abschied aufs Autodach. »Na, dann viel Erfolg bei der Brautschau. Sollte Hubert nicht eigentlich ein Wörtchen mitzureden haben?«

»Ja, natürlich, aber heute ist erst mal das Vorgespräch.«

Tom lachte laut auf und ging dann in Richtung Brauerei davon. Mein Blick klebte für ein paar Sekunden an seinem Rücken, bis Sören sagte: »Aline, bist du noch nicht ganz wach?«

»Sorry.« Eilig stieg ich auf der Beifahrerseite ein, doch mir entging das Schmunzeln von Sören nicht.

In den nächsten Minuten steuerte er sein Auto aus Flensburg hinaus auf die Autobahn, auf der ich erst zwei Wochen zuvor in die Stadt gekommen war. In dieser Zeit hatte ich mich definitiv weiter voranbewegt als in den acht Wochen nach der Beerdigung in Bochum.

»Vielen Dank übrigens für das coole Geschenk.«

»Gern, ist mit viel Liebe selbst gemacht.«

»Echt? Krass! Ist es gemalt?«

»Nein, gedruckt.« Ich erklärte ihm kurz die Technik. »Ich habe einen Etsy-Shop für so etwas.«

»Ah, stimmt, du hast ja Illustration studiert, Tom hat es mal erwähnt.«

Wir quatschten noch eine Weile über Etsy und mein Studium. Kurz nachdem wir den Nord-Ostsee-Kanal überquert hatten, bogen wir von der A7 Richtung Kiel ab.

»Und was hast du sonst noch für Pläne in deinem Urlaub?«, fragte ich schließlich.

»Wegfahren kann ich wegen Hubert nicht, aber das ist okay. Ich verbringe den Sommer gern an der Förde. Tom und ich gehen am Mittwochvormittag mit ein paar Freunden surfen. Hast du Lust mitzukommen?«

»Surfen? Ich weiß nicht, ich habe noch nie auf einem Brett gestanden. Gibt es hier denn überhaupt ausreichend Wellen?« Bisher hatte ich die Ostsee eher ruhig erlebt.

»Kein Wellenreiten, sondern Windsurfen. Dafür benötigt es lediglich etwas Wind und keine sonderlich hohen Wellen. Ich zeige dir gern, wie es geht. Oder ist es ein Problem, dass Tom dabei ist? Vorhin hatte ich das Gefühl, die Luft ist nicht mehr ganz so dick zwischen euch? Ich will mich wirklich nicht einmischen, würde mich aber freuen, wenn ihr euch versteht. Schon allein, weil er dein Chef ist.«

»Hm«, machte ich und dachte an den gestrigen Abend. An die Wut, als ich ihn in meiner Wohnung entdeckt hatte, und an das warme, wohlige Gefühl, als er viel später wieder ging. Was für eine emotionale Achterbahnfahrt!

»Ja, geht schon«, antwortete ich lapidar. Irgendwas hielt mich davon ab, Sören von den Ereignissen zwischen Tom und mir zu erzählen. Dieser Abend fühlte sich intim an, nach etwas, das ich mit keinem anderen teilen wollte. Vielleicht weil Tom mir anvertraut hatte, dass auch er seine Eltern verloren hatte, oder er mir versprochen hatte, niemandem von dem wahren Grund zu erzählen, aus dem ich hier war. Mit einem Lächeln drehte ich mich zu Sören.

»Ich komme gern mit«, brachte ich das Gespräch wieder auf das Surfen. »Falls jemand mit mir tauscht. Da muss ich nämlich eigentlich arbeiten.«

»Prima, gib mir einfach Bescheid.«

»Aber erwarte nicht zu viel. Ich werde mich sicherlich absolut blöd anstellen.«

»Kein Problem. Die Freundin von meinem Kumpel Bent ist genau wie du frisch hergezogen und wird auch das erste Mal auf dem Brett stehen.«

»Von Bent, dem Feuerwehrmann?« Ich erinnerte mich, dass Sören ihn an seinem Geburtstag erwähnt hatte.

»Genau. Nora, seine Freundin, ist Krankenschwester.«

Wenig später erreichten wir das Vogelparadies Nord. Auf den ersten Blick ein völlig normales Einfamilienhaus, aber bereits beim Aussteigen drangen Vogellaute an unsere Ohren, die eindeutig nicht von heimischen Singvögeln stammten. Ein Blick in den Garten verriet außerdem, dass sich hier alles um die gefiederten Tiere drehte. Eine Voliere reihte sich an die andere. Die komplette Fläche war quasi eine in Parzellen aufgeteilte Freifluganlage für Vögel.

Sören klingelte, und eine Frau um die fünfzig öffnete. Sie trug ein gebatiktes Kleid, und ihre Haare waren in Dreadlocks auf ihrem Kopf aufgetürmt. Ein buntes Tuch hielt sie dort zusammen. Einige Federn hatten sich in ihre Frisur verirrt.

»Moin, ich bin Sören Petersen, wir hatten telefoniert.«

»Ach ja, der einsame Beo. Kommt rein, ihr zwei. Ich bin Agnes.«

»Das ist eine Freundin von mir, Aline. Sie hat den Anstoß gegeben, die Vogelhaltung zu überdenken.«

»Sehr gut, sehr gut. Möchtet ihr einen Kaffee?«

»Gern«, antworteten Sören und ich zeitgleich und folgten der Frau durch die Küche, in der nur ein Käfig stand.

»Das ist Pepe, ein Graupapagei. Er hat sich ein Bein gebrochen, deshalb der Käfig. Ansonsten haben hier alle Vögel ausreichend Platz.« Sie holte drei Tassen aus dem Schrank und zog die Kaffeekanne unter der Maschine hervor. Dann bedeutete sie uns, am Küchentisch Platz zu nehmen.

»Ich habe ja schon am Telefon erzählt, dass der Vogel meinen Vater gehört. Er liebt ihn sehr, aber ich kann nicht einschätzen, ob er gewillt sein wird, etwas an der Haltung zu ändern. Doch ich denke, je mehr Fakten ich ihm vorlegen kann, desto größer sind die Chancen.«

Agnes nickte. »Vielleicht solltest du ihm einfach sagen, wenn er seinen Vogel liebt, lässt er ihn nicht länger leiden. Denn genau das tun Vögel in Einzelhaltung. Das Sprechen ist quasi eine Verhaltensstörung, die daraus resultiert.«

»Und du könntest behilflich dabei sein, Hubert eine passende Partnerin zu suchen?«, erkundigte ich mich.

»Partner oder Partnerin, genau. Ich bekomme Anfragen aus ganz Deutschland. Wichtig ist, dass die Vergesellschaftung auf neutralem Territorium geschieht. Wenn sich dein Vater eine artgerechte Haltung nicht leisten kann oder will«, sagte sie mit Blick zu Sören, »übernehme ich auch Tiere. Aber mein Platz ist begrenzt, und je mehr Privatleute den Vögeln ein möglichst artgerechtes Zuhause bieten, umso besser.«

»Wie genau sollte denn die Haltung aussehen?«, fragte Sören.

»Kommt, das zeige ich euch am besten!«

Sie führte uns zunächst zu einem Zimmer und schob uns durch die Tür, ehe sie sie rasch wieder schloss. Wir standen darin quasi in einem Dschungel. Der ganze Raum gehörte einer Gruppe Papageien. Einige saßen auf dem Boden und pickten Futter aus einem Topf, doch die meisten hockten auf Seilen oder dicken Ästen, die auf Kopfhöhe quer durch den Raum verliefen. Der Geruch erinnerte mich ein wenig an einen Zoobesuch.

»Wow, die haben ein ganzes Zimmer für sich«, sagte Sören, und ich sah ihm an, dass es schwer werden würde, seinen Vater davon zu überzeugen.

»Nicht nur das, dort durch das Loch gelangen sie in den Außenbereich. Um den zu besichtigen, müssen wir in den Garten. Passt auf beim Rausgehen.«

Wir schlüpften alle drei wieder durch die Tür in den Flur.

Im Garten hatten die Vögel noch mehr Platz. In der doppelten Raumgröße erstreckte sich die Außenvoliere, gleich daneben schloss die nächste an.

»Das ist wahrhaftig ein Vogelparadies«, sagte ich ehrfürchtig.

»Die Tiere haben nicht darum gebeten, aus ihrem natürlichen Lebensraum geraubt zu werden und uns zur Unterhaltung zu dienen. Obwohl kaum einer von denen je einen Dschungel gesehen hat. Hin und wieder erreicht mich allerdings auch heute noch ein Wildfang, für gewöhnlich Beschlagnahmungen. Dabei bricht mir am meisten das Herz. Da ist es nur eine kleine Wiedergutmachung, ihnen ein halbwegs annehmbares Leben zu ermöglichen.«

Agnes führte uns noch zu den anderen Vogelgruppen und zeigte uns außerdem eine Beo-Dame, die für Hubert in Frage kommen könnte. Sie sei erst vor wenigen Tagen hierhergekommen. »Ihre Halterin ist in ein Pflegeheim gekommen, und die Verwandten wollen sich nicht kümmern«, erklärte Agnes. Das schien ein Glück für den Vogel zu sein. Die Vogeldame hatte sich ihre komplette Brust freigerupft, und mir wurde schwer ums Herz, wenn ich daran dachte, wie viele Vögel wohl einsam und in zu kleinen Käfigen dahinvegetierten. Da hatte es Hubert mit seiner improvisierten Flughalle ja noch gut getroffen. Zumindest schien er nicht so verzweifelt, dass er sich selbst die Federn ausriss.

Eine Stunde nach unserer Ankunft verabschiedete uns Agnes an der Haustür. »Dann viel Erfolg bei deinem Vater, und meldet euch, sobald ihr grünes Licht habt. Der Vogel wird es euch danken.«

»Das mache ich. Erst mal vielen Dank für deine Zeit.«

Im Auto sahen wir uns an, und Sören sagte: »Ich muss mit meinem Vater reden. Jetzt, wo ich das alles weiß, kann ich es nicht mehr ertragen, dass Hubert für den Rest seines Lebens allein lebt.«

Ich nickte. »Ja, das musst du. Der Anblick von dem Beo-Mädchen hat mir echt das Herz gebrochen. In einem Artikel habe ich gelesen, dass dieses Selbstrupfen häufig in Einzelhaltung auftritt. Ich glaube, Hubert könnte mit seiner rebellischen Art genau der Richtige für sie sein. Das habe ich im Gefühl.«