Kapitel 17

Am nächsten Morgen brachte ich zwei Sendungen zur Post, setzte mich anschließend noch für eine Stunde auf die Palettenbänke am Hafen und holte meinen Skizzenblock aus der Tasche. Zunächst zeichnete ich eine Szene, in der sich der Vogel Sören Federlein und Hilde, wie ich die Vogeldame kurzerhand taufte, kennenlernten. Fasziniert schaute ich auf das Blatt. Meine Geschichte nahm tatsächlich eine positive Wendung, wenn auch nur für die Vögel. Ich dachte an Toms Worte über ein mögliches Happy End.

Einige Zeit später legte ich zufrieden den Stift beiseite, lehnte mich zurück und genoss die Aussicht auf den Hafen. Vormittags war es hier meist recht ruhig. Dann machte ich mich auf den Rückweg zur Brauerei, wo kurz darauf meine Frühschicht begann.

In der Bar war viel los. Auch wenn das anstrengend war, so mochte ich es doch sehr, wie die Zeit verflog, während ich zwischen den meist gut gelaunten Gästen hin und her lief. Das vertrieb für den Moment alle Sorgen.

Kurz vor meinem Schichtende tauchte Dana auf und lehnte sich neben mich an den Tresen. Sie war einige Jahre jünger als ich und studierte, genau wie die Aushilfe Luca, Lehramt an der Uni in Flensburg. »Ach, fast hätte ich es vergessen, am Samstag hat eine Frau einen Pullover vorbeigebracht.« Dana beugte sich vor und fischte meinen schwarzen Pulli unter dem Tresen hervor. Er war akkurat zusammengefaltet und sah frisch gewaschen aus. Eine Packung Merci und eine Karte lagen obendrauf. Die Karte zeigte eine Möwe, und ich musste schmunzeln. Auf der Rückseite stand:

Vielen Dank, Aline. Das Meeting lief super. Scheint ein Glückspullover zu sein – oder es war doch noch die Vogelscheiße. ;-)

LG Hanna

»Du, Aline, ich habe eine Bitte.«

Ich schaute vom Pulli hoch und verstaute ihn wieder unter dem Tresen, bevor ich Dana antwortete.

»Ich auch an dich, aber erzähle du zuerst«, forderte ich sie auf und ging zurück zum Becken, wo ich wieder begann, Gläser zu spülen.

»Also, Christoph, der süßeste Typ aus meinem Semester, hat mich gefragt, ob ich Samstag mit ihm zu einem Konzert gehen möchte.«

»Und? Möchtest du?« Mit einem Glas in der Hand hielt ich kurz inne.

»Ja, nichts lieber als das! Ich hatte bestimmt schon einen Monat lang kein Date mehr.«

Innerlich lachte ich auf bei ihrer Aussage. Ein Monat – ja, das war für eine sorgenlose Studentin womöglich eine lange Zeit.

»Aber ich muss an dem Tag arbeiten. Ich weiß, es ist in dieser Woche dein freier Tag, aber ich dachte, du könntest vielleicht für mich einspringen. Bitte, bitte!«

»Klar, das passt sogar gut. Ich möchte nämlich morgen mit einem Kumpel zum Surfen, und da könntest du für mich übernehmen. Da hast du doch frei, oder?«

Dana zögerte kurz, vermutlich hatte sie gehofft, ich sprang ohne Gegenleistung ein. »Na gut, machen wir es so.«

»Prima.« Ich widmete mich wieder den Gläsern.

»Ach so, an dem Samstag bin ich nicht fürs Restaurant eingetragen, sondern für den Wagen«, sagte Dana noch beiläufig.

»Aha, und wofür ist der gebucht?«

Die Brauerei hatte einen Retro-Foodtruck, den man für Veranstaltungen reservieren konnte.

»Für das Konzert, zu dem ich mit Christoph möchte, am Glücksburger Strand.«

Grinsend schnappte sie sich ein Tablett, bevor sie ihren langen blonden Pferdeschwanz über die Schulter warf und zu Tisch vier lief.

»Halt! Warte mal – wer steht denn noch in dem Verkaufswagen?« Soweit ich es mitbekommen hatte, wurden immer zwei Leute eingeteilt. Aber da das Personal nach wie vor knapp war, sprang häufig unser Herr Braumeister persönlich ein.

»Tom!«, rief sie mir fröhlich zu und bestätigte meine Vermutung.

Mein Bauch wusste nicht so recht, was er davon halten sollte, über Stunden mit Tom auf wenigen Quadratmetern eingesperrt zu sein. Na ja, würde schon nicht so schlimm werden, immerhin war sein Verdacht, dass ich ihn bestehlen wollte, aus der Welt, und vorgestern Abend war es richtig nett mit ihm gewesen. Mehr als nett. Mein Herz wechselte ungewollt von einem lockeren Trab in einen Galopp.

O Mann, Aline.

Sören holte mich am nächsten Tag am späten Vormittag ab, nachdem ich ihm abends noch getextet hatte, dass ich meine Schicht tauschen konnte. Hinter seinem Auto waren auf einem Anhänger die Surfbretter verstaut.

»Ich habe von einer Freundin auch einen Neoprenanzug für dich geliehen«, sagte er, nachdem wir uns begrüßt hatten.

»Bei dem Wetter braucht man einen Neoprenanzug?«, fragte ich überrascht. Es war für norddeutsche Verhältnisse fast schon heiß.

»Es ist nur ein Dreier, also ein dünner, aber wenn du längere Zeit auf dem Wasser bist und nass, dann wird es auch bei diesem Wetter schnell kühl.«

Den Rest der Fahrt war Sören ungewöhnlich schweigsam. Wir durchquerten den Ort Glücksburg. Hier würde also nächsten Samstag das Konzert am Strand stattfinden. Ein schöner Ort mit einem prachtvollen weißen Schloss, den wir jedoch rasch passiert hatten. Nach ein paar weiteren Minuten erreichten wir die Halbinsel Holnis, wo es laut Sören an der Außenförde häufig die besten Verhältnisse fürs Surfen gab.

Nachdem wir an Weiden mit Ponys und Kühen und an einigen Häusern vorbeigefahren waren, bog Sören in eine schmale Stichstraße ein und steuerte ein Wiesenstück an, das zu einem Parkplatz umfunktioniert worden war. Am Ende der holprigen Zufahrt hing ein Kanister an einem Pfahl mit der Aufschrift: »2 Euro Parkgebühr«. Sören warf ein Geldstück in die Öffnung, wo normalerweise der Schraubverschluss saß, und manövrierte seinen Wagen mit dem Anhänger geschickt bis an die Hecke heran.

»Hast du eigentlich schon mit deinem Vater geredet?«, fragte ich, nachdem wir ausgestiegen waren.

»Ich habe ihn noch nicht erreicht, ihm aber eine Nachricht hinterlassen.«

»Wo ist er überhaupt?«

»Er tingelt mit dem Camper durch Skandinavien.«

»Oh, das klingt schön!«

Ich schaute Sören übers Autodach hinweg an. Seine Haut hatte heute einen anderen Farbton als üblich, und auf seiner Stirn glitzerte es feucht, obwohl es im Inneren des Autos eher kühl gewesen war.

»Geht’s dir gut? Du siehst blass aus.«

»Ja, alles in Ordnung.« Er wischte sich mit der flachen Hand über die Stirn und lächelte mich an. »Dann wollen wir mal die Bretter aufbauen.«

Ich versuchte, ihm so gut ich konnte zur Hand zu gehen. In den nächsten zehn Minuten hörte ich so viele neue Begriffe, dass mir der Kopf schwirrte. Vorliekstrecker, Gabelbaum, Trimmschot – niemals konnte ich mir das alles merken. Ich hoffte nur, dass man diese Fachbegriffe auf dem Wasser nicht brauchte, sonst war ich verloren. Das Einzige, was mir plausibel in Erinnerung blieb, war die Größe des Segels. Für mich hatte Sören ein kleines dabei – weniger Fläche für den Wind sei für Anfänger einfacher zu händeln. Das leuchtete mir ein.

»Geht es dir wirklich gut, Sören?«, fragte ich zwischendurch, als er schwer schnaufend den Mastfuß in die Mastplatte steckte.

»Ja. Ich muss nur gleich was trinken.«

»Ihr seid ja schon da!«, rief eine Frauenstimme, und ich hob den Kopf. Ein Pärchen trat zu uns, er groß und breitschultrig, ähnlich wie Tom, und sie mit süßen Sommersprossen auf der Nase und dunklem Haar. Sie mussten zu Fuß gekommen sein, denn es war kein Auto auf den Parkplatz gefahren.

»Du bist sicher Aline«, sagte die Frau. »Ich heiße Nora, und das ist Bent.« Mit dem Daumen deutete sie auf ihren Freund.

»Freut mich, euch kennenzulernen. Wohnt ihr hier oder parkt ihr woanders?«

»Bents Bruder gehört der Campingplatz dort drüben, wir sind herspaziert.«

»Ah, ach so.« Ich schaute zu den Wohnwagen und Wohnmobilen, die auf einer sanften Hügelfläche hinter dem Parkplatz standen. »Tolle Lage für einen Campingplatz.«

»Traumhaft, oder? Ich war auch sofort verliebt, als ich das erste Mal in der Bucht war. Sören hat erzählt, du bist auch noch nie gesurft?«

Ich nickte. »Du also auch nicht?«

»Bisher bin ich nur SU P -Board gefahren. Ich wohne noch nicht lange hier.«

Nora war mir auf Anhieb sympathisch. Während Bent Sören zur Hand ging, unterhielten wir uns ein wenig. Sie erzählte, dass sie aus Münster kam, ursprünglich nach München hatte gehen wollen und nun einfach ihren Traum vom Leben am Meer wahr gemacht hatte und in der Flensburger Klinik arbeitete.

»Ähnlich wie du«, schloss sie ihre Erzählung ab.

»Hm«, machte ich. »Ich bin nur vorübergehend hier«, fügte ich hinzu.

»Das habe ich am Anfang des Sommers auch noch gesagt, aber sobald ich in München war, wusste ich, ich muss wieder hierher zurück.« Sie lachte und schaute zu Bent, der ihren Blick mit so viel Liebe erwiderte, dass ich wegschaute, weil mir der Moment zwischen den beiden zu intim erschien.

»Tom ist bestimmt froh, dass du, zumindest vorübergehend, hier bist, oder?«, fragte nun Bent.

Ich hob die Achseln. »Es ist auf jeden Fall viel zu tun.«

Bent nickte. »Ab und an helfe ich ihm bei den Lieferungen, wenn es mit meinem Dienst passt und Knut nicht da ist. Wo ist Tom überhaupt? Wollte er nicht auch kommen?«

Wie aufs Stichwort bog Toms privater Wagen in die holprige Zufahrt ein, und seltsamerweise bewirkte das einen Temperaturanstieg um mindestens zwei Grad – zumindest was mich betraf, die anderen schienen das nicht zu bemerken. Was war denn nur los mit mir?

Tom begrüßte zuerst Bent und Nora, und ich hatte dadurch genügend Zeit, ihn anzustarren. Er war zwar immer eher lässig gekleidet, aber heute trug er lediglich kurze Sweat-Shorts, Flip-Flops und ein weites Muskelshirt. Solche Shirts konnten wirklich peinlich an Männern aussehen, wenn ihnen die entsprechenden Muskeln fehlten, die dieses Kleidungsstück freilegte. Doch bei Tom waren alle Muskeln wohlgeformt und genau in dem richtigen Maße ausgeprägt.

»Hey, Aline, Dana sagt, ihr habt getauscht?«, begrüßte er mich, als hätte er nicht vor achtundvierzig Stunden noch überlegt, mich rauszuschmeißen. Ich hätte ihm einfach gleich die Wahrheit sagen sollen.

»Ja, sie hat nächsten Samstag ein Date, und ich wollte gern mit zum Surfen, da passte es.«

»Dann hast du das Vergnügen, mit mir im Biertruck zu stehen. Ich kann dich mit nach Glücksburg mitnehmen, die genaue Uhrzeit sage ich dir noch.«

Ich nickte und befürchtete, dass sich meine Haut ein wenig rot verfärbte. Noras wissendes Lächeln verstärkte diese Befürchtung, und ich wandte mich an Sören, der an sein Auto gelehnt Wasser trank.

»Sören, du siehst wirklich nicht gut aus«, sagte ich nun zum dritten Mal.

»Ja, Mann, du siehst scheiße aus. Hast du die Nacht durchgemacht?«, zog Tom seinen Freund auf.

Der schüttelte nur den Kopf und öffnete den Mund. Ich hätte darauf gewettet, er wollte erneut »alles in Ordnung« sagen, doch bevor eine Silbe seine Lippen verließ, hielt er sich die Hand davor und rannte hinter den Anhänger. Die Geräusche, die kurz darauf zu hören waren, bewiesen, dass es ihm eindeutig nicht gut ging.

»Na super, jetzt kommt mir mein Frühstück auch gleich wieder hoch«, kommentierte Tom.

»Alles okay dahinten?«, rief Bent, dem die Würgegeräusche weniger auszumachen schienen.

Sören brachte ein abgehacktes »Ja« hervor, dann übergab er sich erneut.

Als er wieder hinter dem Anhänger auftauchte, vermochte ich nicht zu sagen, ob er nun besser oder noch schlechter aussah. Zwar hatten sich seine Wangen etwas rosig verfärbt, dafür wirkte er völlig erschöpft.

»Leute, ich glaube, ich muss nach Hause.«

»Ach nee«, sagte Tom. »Was hast du denn gemacht?«

Sören zuckte kraftlos mit den Schultern. »Keine Ahnung. Scheinbar habe ich mir irgendeinen Infekt eingefangen, oder ich habe was Schlechtes gegessen.«

»Das kommt davon, wenn man woanders als bei mir isst.«

Sören hob nur gequält einen Mundwinkel.

Nora trat zu ihm und fühlte seine Stirn. »Ich denke, du hast erhöhte Temperatur. Hast du Paracetamol?«

Sören nickte.

»Und schön viel trinken«, ergänzte Nora noch.

»Kommst du allein nach Hause?«, erkundigte sich Tom.

»Ich kann ihn fahren, ich bin eh mit ihm hier«, bot ich an.

»Nein«, wehrte Sören ab. »Du hast extra deine Schicht getauscht. Bent und Tom sind doch da, die zeigen dir und Nora, wie das mit dem Surfen geht. Oder?«

»Klar«, sagte Bent, und Tom nickte.

»Wenn ihr mir nur helft, mein Board wieder aufzuladen?«

»Weißt du was? Ich nehme deins, und den Hänger kuppeln wir ab, den fahre ich später zur Brauerei, da ist genügend Platz, und du kannst ihn holen, wenn es dir besser geht, dann kannst du jetzt gleich los.«

Dankbar nickte Sören und ging zur Fahrertür. Tom löste unterdessen den Anhänger vom Auto, und Bent schaffte die Surfbretter aus dem Weg.

»Gute Besserung.« Ich legte Sören eine Hand auf die Schulter. »Wenn was ist, ruf mich an, okay?«

»Mache ich.« Er stieg ein, und dann schauten wir seinem Auto nach, wie es über die enge Zufahrt davonholperte.

»Vermutlich ein Magen-Darm-Infekt, der ist gerade stark im Umlauf«, sagte Nora.

»Der Arme.«

»Mit dem Foilen wird es dann wohl heute nichts.« Tom seufzte.

»Ach egal, das machen wir ein andermal, heute kriegen wir zunächst Aline und Nora auf die Bretter.« Bent zog Nora bei den Worten an sich und küsste sie auf den Scheitel.

Erst da wurde mir bewusst, dass das hier plötzlich wie ein Doppel-Date anmutete. Unsicher lächelte ich und wünschte mir kurz, ich hätte darauf bestanden, Sören nach Hause zu bringen.

»Treffen wir uns gleich am Wasser? Wir ziehen nur noch die Neos an, unsere Bretter liegen am Strand bereit.«

»Klar, wir beeilen uns«, antwortete Tom für uns beide.

Nora und Bent verschwanden durch die schmale Lücke in der Hecke, die vom Parkplatz in Richtung Strand führte.

»Was ist überhaupt Foilen?«, fragte ich Tom, als die beiden außer Sichtweite waren.

»Beim Foilen hältst du einen Wing, also einen Schirm, in der Hand, der nicht mit dem Board verbunden ist.«

»Also wie beim Kiten?«

»Nein, du hältst ihn direkt fest, ohne Leinen. Macht die Einwirkung viel direkter und funktioniert auch bei weniger Wind. So wie heute. Außerdem steigt das Foilboard dabei komplett aus dem Wasser. Du surfst also über dem Wasser. Vielleicht sehen wir gleich einen. Die Surfschule ist ja direkt nebenan, und die bieten auch Foiling an.«

»Klingt abgefahren. Tut mir übrigens leid, dass du jetzt den Surflehrer für mich spielen musst. Wenn du lieber foilen willst, ist das auch okay.«

»Ach Quatsch, mach dir keinen Kopf. Ich genieß die freien Stunden auf dem Wasser, egal wie. Und du wirst sehen, es geht schneller, als du denkst, und wir surfen nebeneinander auf Amwindkurs.«

»Amwindkurs – okay – du müsstest mir aber vorher erklären, was das ist.«

Tom lachte. »Geht gleich los, aber erst ziehen wir die Neos an. Hast du überhaupt einen?«

»Sören hat einen für mich besorgt.«

Tom spähte in den Anhänger. »Jup, hier hängt einer.« Er reichte mir einen schwarzen Neoprenanzug mit einer seitlichen Blütenranke.

»Ich habe meinem im Auto, bin gleich wieder da.«

Dankbar für ein bisschen Privatsphäre beim Umziehen schob ich mir eilig die Shorts von der Hüfte und zerrte das Shirt über den Kopf. Meinen Bikini hatte ich zu Hause schon druntergezogen. Ich nahm den Anzug, öffnete den Reißverschluss am Rücken und schob meine Füße hinein. Doch dann stockte es. Mühsam zerrte ich ihn bis über meinen Po, da steckte Tom schon seinen Kopf um die Ecke. »Fertig?«

Seinen Anzug hatte er auch nur bis zur Hüfte hochgezogen, die Ärmel baumelten herunter.

»Ich glaube, der ist zu klein.«

Tom lachte rau. »Ich glaube nicht, der muss so eng sitzen, sonst läuft zu viel Wasser rein. Es muss sich anfühlen wie eine Wurstpelle.«

»Na, dann passt er.«

»Am besten lässt du ihn erst mal so, sonst ist es zu heiß. Ihr braucht ja noch eine kleine theoretische Einweisung, ehe wir ins Wasser gehen. Bist du gut eingecremt? Ich habe Sonnenschutz dabei.«

»Bin ich«, antwortete ich und geriet schon mit halb hochgezogenem Neo ins Schwitzen bei der Vorstellung, wie Tom mir dabei behilflich war, meinen Rücken einzucremen.

»Gut, dann kommt jetzt auch schon die erste Lektion: Wie trage ich ein Board. Du gehst am besten zur Spitze, ich fasse hinten an und halte das Segel. Du musst drauf achten, dass es immer vom Wind abgewandt ist, sonst reißt er es hoch, und du hast es im Gesicht.«

»Verstanden – aber woher weiß ich, von wo der Wind kommt?«

Tom ließ das Brett samt Segel wieder sinken. »Ist das eine ernst gemeinte Frage?«

»Weiß ich nicht … ja, schon.«

»Okay, Stadtmädchen, ich erkläre es dir gleich am Strand.«

»Flensburg ist auch eine Stadt, Stadtjunge. Es fehlen sogar nur noch wenige Einwohner bis zur Großstadt, habe ich gelesen«, murmelte ich.

Tom verkniff sich ein Grinsen und deutete zur Boardspitze, die ich daraufhin anhob.

Am Strand warteten schon Nora und Bent. Sie saßen im Sand, die Neos ebenfalls bis zur Hüfte hochgezogen. Zwischen ihnen hockte ein rotgetigerter Kater mit weißer Brust und weißen Vorderbeinen, der sichtlich die Streicheleinheiten von Nora genoss. Wir legten das Brett an die Wasserkante.

»Meins kann ich schnell allein holen«, verkündete Tom und joggte zurück. Der Kater entdeckte mich und kam mit erhobenem Schwanz zu mir rüber. Ich beugte mich zu ihm und kraulte ihn hinter den Ohren. »Ein Kater am Strand, ist das nicht eher ungewöhnlich?«

»Das ist Fox. Er lebt auf dem Campingplatz. Bent hat ihn bei einem Feuerwehreinsatz gerettet, seitdem weicht er ihm nicht mehr von der Seite«, erklärte Nora. »Er ist sogar mal zu mir aufs SU P -Board gesprungen, als Bent schwimmen war.« Sie lächelte bei der Erinnerung daran.

»Meinem Charme kann man halt nur schwer widerstehen, du bist schließlich auch wieder zu mir zurückgekommen.«

Nora stieß ihren Freund mit dem Ellenbogen in die Seite. »Äh, ich bin nicht wegen dir zurückgekommen.«

»Nicht mal ein wenig? Brich mir nicht das Herz, indem du so was behauptest.«

»In meiner Erinnerung ist sie wegen dir überhaupt erst von hier abgehauen«, kommentierte Tom, der in dem Augenblick wieder auftauchte.

Nora lachte. »Die Wahrheit liegt wohl irgendwo dazwischen.« Bent zog sie an sich und küsste sie.

»Sie sind schrecklich frisch verliebt, und es ist nur schwer zu ertragen«, sagte Tom an mich gewandt und seufzte theatralisch.

»Du bist nur eifersüchtig.«

»Wie auch immer«, murmelte Tom und verdrehte in meine Richtung die Augen.

Ich schmunzelte. »Du wolltest mir zeigen, wie man die Windrichtung bestimmt.«

»Richtig!« Tom trat näher zu mir, fasste mich an den Schultern und drehte mich um meine eigene Achse. »Der einfachste Weg: Schau auf die Fahne bei der Surfschule. Wenn es keine gibt …« Er drehte mich noch etwas weiter, bis ich mit dem Rücken zum Strand stand. Seine warmen Hände auf meinen nackten Schultern lösten ein Kribbeln an den Stellen aus, und es fiel mir schwer, mich auf seine Worte zu konzentrieren. »… schau auf die Bäume oder die Strandgräser.«

Ich nickte und schluckte einmal, um meine trockene Kehle zu befeuchten.

»Falls Windkraftanlagen in der Nähe sind, kannst du dich außerdem an denen orientieren. Sie haben ihre Nase immer in den Wind gedreht«, fügte Bent hinzu.

»Also, aus welcher Richtung weht er heute?« Tom sah mich auffordernd an.

»Von dort.« Ich deutete in Richtung des Parkplatzes.

»Genau, aus West. Ähm, breite mal deine Arme aus, um das Segel zu imitieren.«

Zögernd folgte ich der Aufforderung, kam mir aber ein bisschen albern dabei vor. Tom positionierte mich so, dass ich den Wind im Rücken hatte.

»Diese Seite ist Luv – die zum Wind zu gewandte Seite. Die andere ist Lee, dort wo der Wind hinweeeht . So habe ich es mir früher gemerkt.«

Nora hatte nun ebenfalls die Arme ausgebreitet.

»Auf Amwindkurs segeln wir fünfundvierzig Grad nach Luv. Also wie?«

Kurz überlegte ich und drehte mich dann entsprechend.

»Genau. So fangen wir an.«

»Wir sollten ihnen noch zeigen, wie die Grundposition ist und wie sie das Segel hochholen«, warf Bent ein.

»Stimmt, habe ich vergessen.«

Bent machte es vor, und im Anschluss übten wir es einmal auf dem Trockenen. Schien ganz simpel zu sein, obwohl ich merkte, dass der Wind sofort begann, mit dem Segel zu spielen, sobald ich es mit der Aufholleine aus dem Sand zog.

Als Nächstes zerrten wir die Neos über unsere Oberkörper. An den Armen rutschte er noch schlechter als zuvor an den Beinen, weil die Haut nun von der Bewegung in der Sonne feucht war. Irgendwann hatte ich es geschafft, ihn hochzuziehen, da legte Tom mir ein langes Band über die Schulter.

»Hier, damit kannst du ihn selbst schließen.« Ein kleiner angenehmer Schauder erfasste mich. Er stand so dicht hinter mir, dass ich glaubte, seinen Atem in meinem Nacken zu spüren. Dazu trieb der Wind mir seinen Duft in die Nase, er roch herrlich nach Sonnencreme. Der Geruch erinnerte an einen unbeschwerten Sommertag. Langsam zog ich den Reißverschluss zu, und Tom verschloss anschließend eine Lasche mit Klett an meinem Hals, streifte dabei meine Haut, was die Beschleunigung meines Herzschlages zur Folge hatte. Ich schluckte erneut und trat einen Schritt vor, um den Abstand zwischen uns zu vergrößern.

Tom grinste mich an, und ich hatte die Befürchtung, dass ihm meine Reaktion nicht entgangen war. Wir zogen die Bretter weiter ins Wasser hinein, und der Kater blieb mauzend am Ufer zurück.

Um uns nicht gegenseitig zu behindern, vergrößerten wir den Abstand zwischen uns. Tom half mir, mein Segel auszurichten. Als es in der richtigen Richtung im Wasser trieb, kletterte ich aufs Brett, was leichter ging, als ich angenommen hatte. Es lag ziemlich stabil auf den seichten Wellen. Ich angelte nach der Aufholleine und zog. Sobald ich das Segel hochgeholt und meine Hand um den Mast gelegt hatte, zerrte der Wind daran.

»Lass die Hand am Mast und warte erst mal ab, bis du gut stehst und deine Position gefunden hast.«

Ich befolgte seine Anweisung. Das Board drehte seinen Bug etwas in den Wind.

»Jetzt greifst du mit der freien Hand an den Gabelbaum und holst dicht.«

»Was soll ich machen?«

»Du ziehst das Rick zu dir ran, bis du den Wind spürst und langsam anfährst.«

»Okay.« Ich versuchte, alles umzusetzen. Der Wind kämpfte mit mir um das Segel, doch dann fand ich den Punkt, wo der Luftstrom mich vorwärtstrieb. Ich konnte es kaum glauben, aber ich fuhr! Ich surfte!

»Super!«, rief Tom und tauchte kurze Zeit später auf seinem Brett neben mir auf. Ich wagte einen flüchtigen Blick zu ihm hinüber. Er grinste, und mein Herz machte einen Freudenhüpfer. Wann hatte ich solch pure Freude zum letzten Mal verspürt?

Der Wind spielte mit den Strähnen meines Ponys, und meine Lippen schmeckten salzig. Viel zu schnell waren wir fast wieder am Strand angekommen.

»Jetzt gehst du zurück in die Grundstellung, Segel am ausgestreckten Arm halten, und ich zeige dir eine einfache Wendung.«

So gut es ging, verfolgte ich, wie Tom sein Segel nach hinten über das Heck führte und sich zeitgleich die Spitze gegen den Wind drehte. Keine zehn Sekunden später hatte er sein Surfboard gewendet.

»Jetzt du!«

Deutlich wackeliger beugte ich den Mast nach hinten. Erst tat sich nichts, doch als ich ihn fast übers Heck geschoben hatte, spürte ich, wie sich das Board unter mir drehte.

»Ja, super, jetzt langsam mit den Füßen um den Mastfuß herum.«

Als ich in derselben Position stand wie Tom, lachte ich ungläubig auf und schaute über die Schulter zu ihm. Kurz verfingen sich unsere Blicke, und schon bekam der Wind mein Segel zu fassen und brachte mich aus dem Gleichgewicht. Mit dem Hintern zuerst fiel ich ins kühle Nass, das Segel platschte über mir auf die Wasseroberfläche.

Prustend drückte ich es von mir weg.

Ich hörte, wie Tom neben mir ins Wasser sprang.

»Alles okay?« Er schob das Segel auf die andere Seite des Bretts. Ich nickte und strich mir die Haare aus dem Gesicht.

»Du musst das Segel loslassen, damit du es nicht auf den Kopf bekommst. Wenn du es loslässt, drückt der Wind es automatisch von dir weg. Okay?«

Für einen Moment bildete ich mir ein, Sorge in seinen Worten zu hören. Erneut nickte ich. Die kleine Abkühlung tat gut und machte die Temperatur in dem Neoprenanzug erträglich. Das Wasser war hier nur hüfthoch, und ich tauchte nochmal komplett unter.

»Gute Idee.« Tom lachte und glitt ebenfalls samt Kopf unter die Wasseroberfläche. Ich schaute zu Nora und Bent, die gerade zu zweit auf einem Board standen.

Prustend tauchte Tom wieder auf und folgte meinem Blick. »Ich sag ja, die sind nur schwer zu ertragen. Hätte ich den Tag allein mit den beiden verbringen müssen, hätte ich mich wahrscheinlich freiwillig ertränkt«, sagte er.

»Ist doch schön. Das Leben ist kurz, und was gibt es Schöneres, als so glücklich zu sein wie die zwei?«, erwiderte ich mit einem Schulterzucken und krabbelte zurück aufs Board. Tom sah mich noch eine Weile an – ich spürte seinen Blick durch die dicke Neoprenschicht auf meinem Rücken –, ehe er sich räusperte und sagte: »Okay, also wieder das Segel in die Grundstellung holen, Gewicht verlagern, eine Hand an den Gabelbaum und ein wenig ziehen, bis das Segel mit Wind gefüllt ist.«

In der nächsten Stunde düste ich auf Amwindkurs schräg vom Strand weg bis zur Boje, die das Ende des Stehbereichs markierte. Dort wendete ich, was von Mal zu Mal flüssiger verlief. Hin und wieder plumpste ich auch ins Wasser, was aber dem Spaß keinen Abbruch tat. Nora surfte auf demselben Kurs zehn Meter versetzt zu mir ähnlich erfolgreich hin und her.

Die Männer waren kurzzeitig etwas weiter hinausgefahren, während wir allein übten. Außerhalb der geschützten Bucht wehte der Wind stärker, und die zwei preschten deutlich schneller übers Wasser als Nora und ich. Für eine Weile machte ich eine Pause und sah ihnen auf meinem Brett sitzend zu.

Ich war mittlerweile ganz schön erledigt, aber auch glücklich. Es war ein unglaubliches Gefühl, mit dem Surfbrett über das Wasser zu sausen. Obwohl es von außen betrachtet wohl eher einem Schneckentempo gleichkam, fühlte es sich für mich an, als jagte ich über die Wellen. Niemals hätte ich gedacht, dass man es so schnell lernen konnte. Ich würde auf jeden Fall weitersurfen.

Der Wind hatte nun auch in der Bucht aufgefrischt. Er zerrte deutlich stärker an meinem Haar, und Böen kräuselten die Wasseroberfläche.

»Ein letztes Mal?«, rief Nora mir fragend von ihrem Brett aus zu. »Dann bin ich ausgepowert für heute.«

»Geht mir ähnlich. Dann einmal bis zur Boje und anschließend zum Strand?«

Nora reckte den Daumen nach oben. Ich sammelte meine letzten Kräfte, brachte das Segel in die richtige Position und zog es hoch. Der Wind spielte nun deutlich stärker damit, doch es gelang mir, mich auszubalancieren und loszufahren. Nora befand sich in meinem Rücken, daher konnte ich nicht sehen, ob sie es ebenfalls geschafft hatte. Der Wind beschleunigte das Board, in einer Böe musste ich ganz schön kämpfen, um das Segel ruhig zu halten. Ich kam mir vor, als würde ich übers Wasser schweben. Unwillkürlich lächelte ich und fuhr ein Stück hinter die Boje. Dann zerrte der Wind erneut an meinem Segel, und dieses Mal gewann er. Ich ließ den Gabelbaum los und landete mit dem Po voran im Wasser.

Erst da wurde mir bewusst, dass es hier ganz schön tief war. Meine Füße touchierten nicht den Grund beim Eintauchen. Unter mir befand sich ein dunkelgrünes Seegrasfeld. Ich schaute zu Nora, die bereits wieder auf dem Rückweg war. Ich griff zum Board und versuchte, schwimmend in den Stehbereich zu gelangen, der nur wenige Meter entfernt war und dennoch unerreichbar schien. Der Wind ließ nicht zu, dass ich mit dem Board im Schlepptau auch nur einen Meter vorwärtskam. Erschöpft zog ich mich auf Brett.

In dem Moment passierten mehrere Dinge gleichzeitig: Das Rettungsboot der Surfschule startete zehn Meter entfernt und sauste an mir vorbei. Ich schaute ihm nach. Scheinbar war außerhalb der Bucht jemand in Schwierigkeiten. Bei Bent und Tom schien alles in Ordnung zu sein, sie waren auf dem Weg zurück. Der Wind frischte noch weiter auf, und der Himmel verdunkelte sich. Die Wasseroberfläche wirkte mit einem Mal viel dunkler und unruhiger. Ich hatte Probleme, überhaupt in die Grundstellung zu kommen, und dann kämpfte ich eine gefühlte Ewigkeit mit dem Segel.

Die Männer kamen auf mich zu gesurft.

»Aline, du treibst immer weiter raus, du musst zurück zum Strand!«, rief Tom, als er an mir vorbeifuhr und kurz hinter mir gekonnt wendete. Ich hob den Blick zum Ufer. Scheiße. Ohne es zu merken, war ich in der kurzen Zeit weit hinter die Bojen getrieben.

»Kommt ihr klar?«, fragte Bent, und anscheinend bejahte Tom die Frage, denn Bent hielt danach Kurs auf den Strand.

»Ich krieg es irgendwie nicht mehr hin«, jammerte ich, und langsam stieg ein ungutes Gefühl in mir hoch.

»Aline, hey, schau mich an«, sagte Tom ruhig, aber bestimmt.

Ich hob meinen Blick. Er hatte sein Segel fallen lassen und trieb nun neben mir. Seine Miene war sanft, und ein zuversichtliches Lächeln lag auf seinen Lippen. »Wir surfen jetzt einfach einen richtig schönen Amwindkurs zum Strand. Siehst du dahinten das gelbe Naturschutzschild am Rande der Bucht? Das ist unser Kurs.«

Suchend scannte ich den Strand und entdeckte das Schild weit rechts. Offenbar hatte ich in meinem Versuch, möglichst schnell zurück zum Ufer zu kommen, den Kurs völlig aus den Augen verloren. »Sehe ich!«, rief ich.

»Okay, dann ein letztes Mal hinstellen, Segel hochholen und die Fahrt genießen.« Er zwinkerte mir zu. »Ich bin direkt neben dir.«

Ich nickte. Das Wissen, dass Tom da war, beruhigte mich, und ich fühlte mich dem Wind und dem Wasser nicht mehr so hilflos ausgeliefert. Es gelang mir schließlich, das Segel in die Grundstellung hochzuholen, meine Hand auf den Gabelbaum zu legen und loszufahren.

»Genau so, nicht so weit aufmachen, damit der Wind es dir nicht wieder aus der Hand reißt«, feuerte Tom mich an.

Das gelbe Schild am Ufer fest im Blick, erreichte ich schließlich den stehbaren Bereich und atmete erleichtert auf, als ich den hellgelben Untergrund sah, der im Vergleich zu dem dunklen Seegras weitaus einladender wirkte.

»Hier ist es kniehoch!«, rief Tom.

Ich ließ mein Segel los und hüpfte vom Board. Tom tat dasselbe. »Wir können jetzt im Zickzackkurs zu Bent und Nora surfen, oder wir ziehen die Bretter hin.«

»Ich werde laufen, ich habe für heute genug, aber du kannst gern surfen.«

»Ach Quatsch. Ich hätte dich nicht allein lassen sollen, dann wärst du gar nicht in diese Situation geraten.«

Tom warf sein Segel auf das Brett, und ich wollte es ihm gleichtun, scheiterte allerdings, und Tom fasste mit an.

»Du hast ja deutlich gesagt, ich soll im stehbaren Bereich bleiben. Ich schätze, ich bin etwas übermütig geworden und habe die Quittung dafür bekommen.«

»So was gehört dazu. Du hast das echt super gemacht fürs erste Mal. Ich hoffe, der kleine Schreck hat dir nicht die Lust verdorben.« Wir wateten nebeneinander durchs flache Wasser auf Bent und Nora zu.

»Nein, dafür hat es viel zu viel Spaß gemacht! Ich weiß ja, wo mein Fehler lag. Und nächstes Mal höre ich auf, wenn ich merke, dass ich keine Kraft mehr habe.«

Ungefragt griff Tom nach der Spitze meines Brettes. Auf meinen fragenden Blick hin sagte er: »Damit du morgen noch ein Tablett tragen kannst.«

Ich lächelte, er lächelte zurück, und in meinem Bauch flatterte es.

»Wo ist wohl das Rettungsboot hingefahren? Das hat mich nämlich zusätzlich abgelenkt.«

»Ein Foiler ist nicht mehr zurückgekommen und war schon in der Fahrrinne.«

Nora kam uns entgegengelaufen. »Aline, Mensch, wohin wolltest du denn? Nach Dänemark?« Sie grinste.

Als ich bei ihr ankam, legte sie mir einen Arm um die Schulter. Diese freundschaftliche Geste vertrieb den letzten Schrecken, und ich musste selbst über die Aktion lachen. Zumindest hatte kein Rettungsboot ausrücken müssen, um mich einzusammeln.

Tom und ich verstauten die Boards in Sörens Anhänger. Dann tranken wir am Strand mit Bent und Nora noch eine Cola, die wir im Shop des Surfladens kauften, bevor wir aufbrachen.

»Hat mich gefreut, dich kennenzulernen«, sagte Nora zum Abschied. »Sehen wir uns bald zur nächsten Surfstunde?«

»Ja, gern. Hat Spaß gemacht.«

»Grüßt Sören!«, rief Bent noch, als die zwei wieder zum Campingplatz gingen.

»Wir sollten Sören mal anrufen und ihn fragen, wie es ihm geht«, sagte ich und hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich die letzten drei Stunden nicht ein Mal an ihn gedacht hatte.

Während Tom den Anhänger an sein Auto kuppelte, holte ich mein Handy aus der Tasche und wählte Sörens Nummer.

»Ja?«, kam es gequält vom anderen Ende der Leitung.

»Hier ist Aline, wir wollten mal hören, wie es dir geht.«

»Scheiße.«

»Oje, braucht du etwas?«

»Nein, alles gut.«

»Bist du dir sicher?«

»Ja, ich will dich auch nicht anstecken.«

»Okay, dann gute Besserung! Und melde dich, wenn was ist.«

Ich legte auf und ging zu Tom, der gerade dabei war, den Stecker des Anhängers in die Dose am Auto zu stecken.

»Und?«, fragte er.

»Es geht ihm schlecht, aber er sagt, er braucht nichts. Meinst du nicht, wir sollten doch mal nach ihm schauen?«

»Glaube mir, ihm wird es an nichts fehlen, seine Mutter wohnt gleich nebenan.« Tom grinste.

Ich hingegen runzelte die Stirn. »Ich dachte, die sind gerade weg, und er versorgt deswegen den Vogel?«

Tom schüttelte den Kopf und bedeutete mir einzusteigen, während er selbst die Fahrertür öffnete. Als ich mich neben ihm auf den Sitz gleiten ließ, antwortete er: »Seine Eltern sind geschieden.«

»Ach so.« Gab es eigentlich auf dieser Welt noch intakte Familien? Wahrscheinlich hatte mir deshalb nie ein Vater gefehlt. Ich kannte nur wenige Leute, die in dieser Bilderbuchkonstellation einer Familie groß geworden waren.

Ich schaute aus dem Fenster, während wir die Halbinsel Holnis verließen. Die seichten Hügel und der dichte Wald zogen an mir vorbei, bis wir das Örtchen Glücksburg erreichten und meine Lider schwer wurden.

Als Tom schließlich auf den Parkplatz der Brauerei in Flensburg bog, schreckte ich hoch. Offenbar war ich eingenickt. Toms Mundwinkel zuckten, während ich nach dem Öffner für den Sicherheitsgurt tastete.

»Vielen Dank für die Surfstunde und dafür, dass du mich mit zurückgenommen hast.«

»Gern! Tat gut, mal für ein paar Stunden Pause zu haben.«

Ich nickte und schaute zu dem vollbesetzten Außenbereich.

»Dann bis morgen!«

Nachdem ich ausgestiegen war, wartete ich noch, bis Tom seinen Wagen gewendet hatte, dann stieg ich die Stufen zum Eingang hinauf. Dana winkte mir von der Bar aus zu, und ich entschied, ihr kurz Hallo zu sagen.

Sie zapfte gerade ein Bier.

»Hey, wie läuft’s?«

»Viel los. Wie war die Surfstunde? Du hast mir gar nicht erzählt, dass du sie mit unserem heißen Juniorchef hast.«

Ich spürte prompt, wie mir die Wärme in die Wangen stieg.

»Das war auch anders geplant. Sein Kumpel Sören hatte mich dazu eingeladen, aber der musste dann vorzeitig nach Hause, weil er sich einen Infekt eingefangen hat.«

»Soso … und wie war es?«

»Gut, aber anstrengend. Ich haue mich jetzt aufs Bett und schaue Netflix.«

»Hör auf, mich neidisch zu machen«, flachste sie. »Samstag steht aber, oder?«

»Klar.« Ich wollte mich schon umdrehen, als sie weitersprach.

»Ihr würdet ein nettes Paar abgeben … Jette sagt übrigens, er hat zurzeit keine Freundin. Wenn er ein paar Jahre jünger wäre, würde ich für ihn sogar mein Konzertdate mit Christoph sausen lassen.«

»Dana, er ist unser Chef! Und willst du jetzt etwa sagen, dass ich alt bin?«, versuchte ich, das Ganze ins Lustige zu ziehen, obwohl ihre Worte seltsame Gefühle in mir auslösten. Gefühle, die ich schon viel zu lange nicht mehr verspürt hatte. Sehnsucht nach Nähe, zum Beispiel, nach Zuneigung, Zärtlichkeiten und … dem Gefühl, verliebt zu sein.

»Na und? Die meisten Beziehungen entstehen bei der Arbeit. Oder auf Tinder. Aber ich denke, Ersteres hat die besseren Erfolgsaussichten.«

Schmunzelnd schüttelte ich den Kopf. »Ich werde jetzt netflixen, und deine Gäste warten.«

Dana bedachte mich noch mit einem wissenden Blick, dann nahm sie das Tablett, und ich ging hoch in meine Wohnung. Meine Wohnung – ja, so fühlte es sich an. Schon nach so kurzer Zeit. Fast war ich erleichtert, dass Jens Martens noch auf Martinique weilte und ich in Bezug auf ihn keine Entscheidung treffen musste. Noch nicht …