Kapitel 20

Nachdem die vier verschwunden waren, blieb Tom noch für eine Weile seltsam und vermied eindeutig den Blickkontakt mit mir. Erst nach und nach wurde er wieder der Alte. Als es bereits dämmerte und das Konzert offiziell beendet war, lehnte er mit entspanntem und zufriedenem Gesichtsausdruck an der rückwärtigen Schrankreihe des Biertrucks und schaute zum Strand, wo die Leute in Grüppchen im Sand saßen. Das Stimmengewirr, gemischt mit Musik aus kleinen Soundboxen, drang zu uns in den Wagen.

Ich war völlig erledigt und verzählte mich zweimal beim Kassensturz. Tom trat an mich heran und blickte über meine Schulter auf die Summe.

»Das war doch ein super Abend!« Seine Stimme war so nah an meinem Ohr, dass ich mir einbildete, sie kitzelte in meinem Nacken. »Hast du Lust auf ein Getränk am Strand? Ich finde, das haben wir uns verdient, bevor wir nach Hause fahren.«

Ein freudiges Kribbeln überzog meine Haut und nistete sich gleichzeitig in meinem Bauch ein. Seit unserer Aussprache war meine körperliche Reaktion auf ihn irgendwie völlig außer Kontrolle geraten. »Ja, gern.«

»Was dagegen, wenn wir eine Cola trinken? Ich muss ja noch fahren.«

»Eine kalte Cola klingt großartig. Nach dem stundenlangen Biergeruch fühle ich mich eh schon leicht beschwipst.«

Tom lachte rau, während er die Tür aufstieß und von draußen die vordere Klappe schloss. Danach verriegelten wir sie gemeinsam von innen. Beim Hinausgehen nahm Tom zwei Flaschen Cola aus dem Kühlschrank. »Denkst du später dran, dass wir die Geldkassette noch hier rausholen?«

Ich nickte und sprang hinter ihm aus dem Wagen. Sofort erfasste mich eine kühle Brise und ließ meine verschwitzte Haut frösteln. »Ich glaube, ich hole mir eben meinen Pullover aus dem Lieferwagen.«

»Okay.« Er warf mir den Schlüssel zu. »Möchtest du auch etwas essen? Pommes oder Crêpe vielleicht? Die haben zwar schon geschlossen, aber vielleicht machen sie für uns eine Ausnahme.«

Kurz überlegte ich. »Lieber was Deftiges, wenn es geht, aber nur mit Ketchup, bitte.«

»Geht klar, bis gleich!« Er lächelte und verschwand in Richtung des Imbisses, der mitten auf der Promenade in einem kleinen Gebäude untergebracht war.

Ich schlenderte zum Parkplatz, drehte mich aber noch einmal um und sah, wie Bent, Nora, Hanna und Lara bei Tom standen. Dieses Mal schien er entspannter. Er lachte, und Lara boxte ihn auf den Arm.

Als ich wenig später mit meinem Hoodie zurückkehrte, waren die vier verschwunden. Tom nahm gerade die Pommesschalen entgegen, und ich eilte zu ihm, um ihm eine abzunehmen.

»Wir haben Glück gehabt, die Fritteuse war noch nicht aus. Komm, wir gehen an den Strand«, forderte er mich auf, und wir spazierten über die Promenade Richtung Wasser. Als der befestigte Bereich endete und meine Schuhe in dem weichen Sand versanken, erschien unwillkürlich ein Lächeln auf meinen Lippen. Das Meer hatte einfach diese Wirkung auf mich. Spürte ich Strandsand unter den Füßen und strich mir der Meereswind um die Nase, schlug mein Glücksbarometer prompt nach oben aus.

Als wir ein freies Plätzchen gefunden hatten und im Sand saßen, streifte ich als Erstes meine Chucks ab und vergrub die Füße im Sand. Tom beobachtete das Ganze amüsiert.

»Strandsand an den nackten Füßen ist eines der schönsten Gefühle, die es gibt.«

»Hm«, murmelte Tom zustimmend und schob sich Pommes in den Mund.

Ich stellte meine Cola neben mich und machte mich ebenfalls über die frittierten Kartoffelstäbchen her.

»Das tut gut«, nuschelte ich mit vollen Wangen. »Beste Pommes ever.«

Tom schüttelte lachend den Kopf und richtete dann seinen Blick aufs Wasser, das inzwischen vom Mond angeleuchtet wurde. »Wie gefällt es dir eigentlich bisher an der Förde – unabhängig von deiner Mission?«

Überrascht von der Frage dachte ich kurz nach. »Bis auf die Tatsache, dass mein Chef dachte, ich würde ihn bestehlen, eigentlich ganz gut.«

Tom grinste, das konnte ich auch in dem fahlen Licht deutlich erkennen.

»Aber sonst ist dein Chef in Ordnung?«, fragte er unschuldig und brachte mich damit zum Lachen.

»Fischt da jemand nach Komplimenten?«, neckte ich ihn.

»Mir liegt nun mal die Zufriedenheit meiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter am Herzen.«

»Ja, schon, er ist ganz okay«, gab ich zurück und presste die Lippen aufeinander, um nicht loszuprusten.

Tom schaute zu mir und griff sich an die Brust. »Und das, obwohl ich dir sogar Suppe gebracht habe.«

»Stimmt, du hast recht. Mein Chef ist mehr als nur okay«, antwortete ich, und in diesem Moment verfingen sich unsere Blicke, und mein Herz schlug eine Spur kräftiger.

»Freut mich«, sagte Tom, und seine Stimme klang einen Hauch rauer als eben. Ich wandte meinen Blick als Erste ab und griff nach seiner leeren Pommesschale.

»Ich bringe die eben in den Müll.« Barfuß stapfte ich zum nächsten Mülleimer, und der Kontakt der nackten Fußsohlen mit dem weichen Sand beruhigte meinen inneren Aufruhr.

Als ich mich wieder neben Tom setzte, schwiegen wir eine Weile. Aber es war ein angenehmes Schweigen, in dem wohl jeder seinen Gedanken nachhing. Irgendwann durchbrach ich es. »Nett, diese Lara, ist das auch eine Freundin von dir?«

»Ja, ich kenne sie schon ziemlich lange.«

»Das merkt man, ihr habt vertraut gewirkt.«

Mit der Flasche Cola auf dem Weg zu seinen Lippen hielt er abrupt inne. »Sag jetzt nicht, du denkst, wir sind zusammen oder so.«

Ertappt errötete ich, hoffte aber, dass die Dunkelheit es verbarg.

»Wieso tust du so, als sei der Gedanke abwegig?«

»Es nervt nur, wenn andauernd jemand sagt: ›Was ist denn mit Lara? Das ist doch eine Nette!‹ Sie ist einfach eher wie eine Schwester für mich. Übrigens sehr nett von dir, dass du einer wildfremden Frau deinen Pulli gibst.« Er schmunzelte, dann deutete er nach vorn auf ein Grüppchen ein paar Meter vor uns. »Schau mal, ist das nicht Friedrich Jr.?«

»Kann sein.« Es war schon fast vollständig dunkel, und ich hatte den Sänger nur aus der Ferne gesehen. Außerdem versuchte ich noch, die völlig unangebrachte Freude einzuordnen, die ich darüber verspürte, dass Lara und Tom eine rein platonische Freundschaft verband.

»Sollen wir uns dazusetzen?«

»Wenn du willst, klar!«

Tom rappelte sich auf und hielt mir dann die Hand hin. Seine Finger schlossen sich warm und kräftig um meine, und ich hätte sie am liebsten einfach weiter festgehalten. Viel zu schnell glitten unsere Hände wieder auseinander. Ich bückte mich, hob meine Schuhe und die Colaflasche auf und folgte Tom.

»Hey, tolles Konzert! Habt ihr was dagegen, wenn wir uns zu euch setzen?«

»Danke, Mann! Du bist doch der Inhaber von der Flensburger Biermanufaktur, oder?«

Tom nickte und setzte sich in den Sand. »Einer davon. Und das ist Aline.« Schüchtern hob ich eine Hand und lächelte, bevor ich mich neben Tom sinken ließ. Aus Versehen ein bisschen zu dicht, sodass unsere Beine sich berührten. Ich wollte etwas abrücken, doch Tom legte seinen Arm um meine Schulter. »Ist dir kalt?«

Nee, heiß, dachte ich. »Geht schon.«

»Okay.« Er lachte wieder in diesem angenehm rauen Ton, und sein Arm verschwand so schnell, wie er gekommen war. Der federleichte Kontakt unserer Beine blieb jedoch bestehen.

»Ich sehe, ihr habt schon erkannt, welches das beste Bier an der Förde ist«, scherzte Tom und deutete auf ein Sixpack Bier mit dem Etikett der Brauerei.

»Klar, was denkst du denn? Möchte jemand von euch eins?«

Tom hob abwehrend die Hände. »Ich muss noch fahren. Aline, wie sieht es mit dir aus?«

»Ich würde eins nehmen.« Nach den Pommes und der Cola fühlte ich mich wieder fit, und mit etwas Grundlage im Magen bekam mir ein Bier sicherlich auch besser. Außerdem war es das mit dem Zitronenhopfen – mein liebstes. Der Typ, der neben dem Sänger saß, nahm eine Flasche und ließ den Kronkorken gekonnt mit dem Feuerzeug runterschnippen, bevor er es mir reichte.

»Prost!«

»Prost!«, antworteten die anderen. Ich nahm einen Schluck und stellte fest, dass ein kühles Bier an einem lauen Sommerabend durchaus eine leckere Sache sein konnte.

Sobald die Leute mitbekamen, dass der Sänger persönlich hier am Strand saß, vergrößerte sich die Gruppe stetig. Jemand brachte eine Handvoll Windlichter mit, die einen warmen Schein über die Gesichter warfen. Tom quatschte mit dem Organisator des Konzerts. Und ich genoss es, inmitten der Leute zu sitzen, dabei die Füße, die allmählich etwas kalt wurden, in dem immer noch warmen Sand zu vergraben und das leise Rauschen der Ostsee im Hintergrund zu hören. Ich fühlte mich plötzlich so mitten im Leben, dass es mich gleichermaßen traurig und glücklich machte. Traurig, weil meine Mutter auch noch viel mehr solcher Momente verdient gehabt hätte, und dennoch glücklich und dankbar dafür, nach der schweren Zeit wieder andere Gefühle als Sorge, Hoffnungslosigkeit und Trauer zu empfinden.

»Alles in Ordnung?«, fragte Tom zwischendurch.

Ich nickte und lächelte. »Alles bestens.«

Ob er wohl meine glänzenden Augen sah? Irgendwas bewog ihn zumindest dazu, seinen Arm erneut um mich zu legen und mich sanft an sich zu ziehen. Es fühlte sich überhaupt nicht seltsam an. Seine Berührung hatte zwar eine elektrisierende Wirkung auf mich, aber gleichzeitig umhüllte mich diese Geste mit einer Woge Geborgenheit, in die ich mich nur zu gern hineinfallen ließ, ohne sie weiter zu hinterfragen. Zu meiner Verwunderung nahm er seinen Arm nicht wieder weg. Jemand hatte den Sänger überredet, noch etwas zu singen, und er stimmte seine Gitarre. Wenige Sekunden später sang er eine leise und ruhigere Version von »Kapitän«, und ich verspürte plötzlich den Wunsch, dass Tom mein Kapitän auf hoher See wäre. Ohne groß darüber nachzudenken, lehnte ich meinen Kopf gegen seine Schulter, genoss es, wie sein Brustkorb sich ruhig und stetig hob und senkte und etwas stärker, wenn er lachte. Er roch nach einer Mischung aus Eau de Toilette und Seeluft, was spontan zu meinem neuen Lieblingsduft wurde. Dann wurde er still, und wir alle lauschten nur noch der Musik.

Als wir eine Stunde später aufbrachen, war es, als würde ich aus einem Traum zurück in den Wachzustand katapultiert. Ohne Toms Nähe fror ich zudem ziemlich. Ich schlang mir die Arme um die Körpermitte.

»Es wird abends echt frisch bei euch.« Meine Zähne schlugen aufeinander, als ich sprach.

Kurz rieb er mir über die Schultern. »Der Sommer neigt sich dem Ende zu. Das ist deutlich an den feucht-kühlen Abend- und Morgenstunden zu spüren. Deswegen ist der Juli auch mein liebster Sommermonat«, sagte er, bevor wir losliefen.

»Wir müssen noch die Geldkassette holen«, erinnerte ich ihn, als er den Parkplatz ansteuerte.

»Ach ja, das hätte ich ganz vergessen.«

Er joggte zum Biertruck, und ich nutzte die Gelegenheit, um mir die Schuhe wieder anzuziehen. Anschließend spazierten wir schweigend zum Lieferwagen. Die eben noch da gewesene Nähe war irgendwie verpufft, und ich fragte mich, was ihn wohl dazu bewogen hatte, mich am Strand in den Arm zu nehmen.

Im Wagen drehte Tom die Heizung auf und schaltete das Radio ein, ehe er losfuhr.