Kapitel 22

Das Telefon klingelte, und ich schlug widerwillig die Augen auf, da es partout nicht aufhörte. Ich lag an der Wand, und Tom lag zwischen mir und dem Nachttisch. Ehe ich mich dazu durchringen konnte, mich aufzusetzen, hielt Tom sich bereits mein Telefon ans Ohr.

»Ja?«, brummte er, und ich war mir nicht sicher, ob er überhaupt schon richtig wach war.

»Bin ich«, murmelte er zehn Sekunden später. »Moment.« Er reichte das Telefon an mich weiter. »Sören. Sorry, ich habe denselben Klingelton und dachte, es ist meins.«

Ich weitete stumm die Augen, als ich das Handy entgegennahm. »Hey Sören«, krächzte ich.

»Aline, wir wollten doch um neun los! Es ist schon halb zehn.«

»Verflixt! Ich habe verschlafen!« Heute sollte Hubert ins Vogelparadies gebracht werden, wie hatte ich das vergessen können? Ich schaute zu dem Grund für meine Vergesslichkeit, der sich auf die Seite gedreht hatte und mich amüsiert betrachtete. Seine Haare standen verwuschelt vom Kopf ab, ein Zustand, an dem ich nicht ganz unschuldig war, und eine der Strähnen fiel ihm in die Stirn. Der Bartschatten war über Nacht etwas intensiver geworden. Unwillkürlich lächelte ich.

»Du brauchst ja nicht mitzufahren«, drang Sörens Stimme an mein Ohr.

»Doch, doch! Gib mir dreißig Minuten. Okay?«

»Dann hole ich dich ab und sag Agnes, dass wir später kommen.«

»Okay, super, bis gleich!«

Ich beendete das Gespräch und kniff die Augen zusammen. »Was er jetzt wohl denkt?«, stöhnte ich.

Tom gluckste. »Ist doch egal. Hast du noch fünf Minuten?« Er zog mich zu sich heran und vergrub sein Gesicht an meinem Hals. »Ich will nämlich noch nicht aufstehen. Übrigens stimmt es nicht, was du gestern gesagt hast – dass nur Frauen solche Dating-Regeln haben. Sören hat auch so eine.«

»Sein Dating-Detox.« Ich kicherte und strich Tom dabei über den Rücken. Sein Shirt hatte er gestern ausgezogen und in Boxershorts geschlafen. Aber wir hatten nicht miteinander geschlafen. Wir hatten geredet, gelacht uns gegenseitig aufgezogen und geküsst – ein wenig den Körper des anderen erkundet. Und als ihm mehrmals die Augen zugefallen waren, hatte ich ihm angeboten, hier zu übernachten. Er hatte sich in dem schmalen Bett an mich gekuschelt, und ich hatte mich in seinen Arm geschmiegt. Es hatte sich so unfassbar schön angefühlt, dass ich mit einem Lächeln auf den Lippen einschlief. Trotz der kurzen Zeit, die wir uns erst kannten, war es, als würde Tom dafür sorgen, dass die böse Welt draußen blieb, solange er in meiner Nähe war. Lächelnd küsste ich ihn auf die Stirn.

»Ich muss unter die Dusche und mich beeilen. Aber du kannst ruhig weiterschlafen.«

Er grummelte etwas, das ich nicht verstand, ehe er seinen Kopf zurücklegte und mich ansah. »Ich geh lieber nach Hause, duschen und Zähne putzen. Und dann werde ich arbeiten, während ihr dieses Federvieh verkuppelt.«

»Okay, du findest allein raus? Ich muss jetzt wirklich dringend unter die Dusche.«

»Autsch, das ist hart.«

»Sorry!«, sagte ich lachend und löste mich von ihm. Doch er hielt mich am Handgelenk fest und zog mich für einen letzten Kuss zurück, ehe er mich gehen ließ.

»Bis später«, murmelte er und drückte sein Gesicht seufzend ins Kissen.

Eilig ging ich ins Bad. Unter der Dusche ließ ich den gestrigen Abend noch einmal Revue passieren, und ein euphorisierendes Kribbeln durchzog meinen Körper.

Als ich hörte, wie die Wohnungstür ins Schloss fiel, trocknete ich mir gerade die Haare ab. Fürs Föhnen blieb keine Zeit, daher band ich sie im Nacken zusammen. Hastig wühlte ich in meinen Sachen und entschied mich spontan für ein luftiges schwarzes Kleid. Der hellgraue Hoodie durfte aber nicht fehlen und die Chucks ebenso wenig. Ich zog sie im Laufen an und klemmte mir dabei eine trockene Scheibe Brot zwischen die Lippen. Unten vermied ich den Blick nach rechts, falls Jette schon da sein sollte und sie womöglich gerade gesehen hatte, wie Tom von oben kam.

Sören fuhr genau in dem Moment vor, als ich die Stufen hinuntersprang. Am Himmel türmten sich heute die Wolken, und ich fröstelte mit meinen nassen Haaren. Toms Fahrrad war verschwunden, wie mir ein Blick über den Parkplatz bestätigte.

»Hey!«, rief ich, als ich mich auf den Beifahrersitz gleiten ließ.

»Arschloch!«, kam es von der Rückbank.

»Guten Morgen«, sagte Sören mit einem sehr breiten Grinsen im Gesicht.

»Keine Fragen vor der Autobahn, bitte. Ich muss erst mal frühstücken.«

»Eine trockene Scheibe Toast?«

»Ich habe nach dem Nächstbesten gegriffen«, erwiderte ich mit einem Schulterzucken und biss hinein, reichte danach ein kleines Stückchen nach hinten zwischen die Stäbe des Käfigs.

Sören gab mir exakt Zeit, bis er sich in den Verkehr auf der A7 eingefädelt hatte.

»Also …«, sagte er. »Wir sind auf der Autobahn.«

»Das sehe ich«, brummte ich. »Können wir bitte einfach nicht darüber reden? Ich muss das erst mal für mich selbst einordnen.«

»Was genau einordnen?«, bohrte Sören schonungslos nach. »Ich nehme nicht an, dass er heute Morgen vorbeigekommen ist und dann aus Versehen dein Telefon gegriffen und halb verschlafen hineingegrummelt hat?«

»Na schön! Er hat bei mir übernachtet. Aber nur übernachtet!«

»Da lief gar nichts?«

»Sören!«

Sören lachte und hob kurz entschuldigend seine Hände vom Lenkrad. »Na ja, er ist mein bester Freund und du eine neue gute Freundin. Und ich bin auf Dating-Detox, da will ich zumindest an eurer Story teilhaben.«

»Womöglich solltest du dein Sabbatical vorzeitig beenden, du scheinst auf Entzug zu sein«, zog ich ihn auf.

»Keine Chance, ich ziehe das durch, und danach finde ich die Eine.«

»Na schön, wie du meinst.« Lachend schüttelte ich den Kopf und hoffte, diese hohen Erwartungen würden nach der Pause nicht enttäuscht werden. »Und wegen ›unserer Story‹ – frag doch deinen Kumpel«, schlug ich vor.

»Werde ich, keine Sorge. Aber was ist denn aus …« Sören zögerte.

»Aus seiner Anschuldigung geworden? Die konnte ich wohl endlich glaubhaft aus dem Weg räumen.«

»Das ist gut.«

»Ich habe euch übrigens neulich im Büro gehört. Danke, dass du mir beigestanden hast, obwohl du mich kaum kanntest.«

»Ich konnte mir das einfach nicht von dir vorstellen.«

»Aber an deinem Bild über naive Frauen solltest du vor deinem nächsten Date vielleicht noch arbeiten.«

»Das war nicht so gemeint …«, versuchte er, sich rauszureden, und ich hätte schwören können, seine Wangen verfärbten sich dabei eine Spur rosa.

»Schon klar!« Ich lachte, bevor ich wieder ernster wurde. »Danke, Sören, dafür, dass du mir geholfen hast, hier anzukommen. Ich war schon lange nicht mehr so …« Ich sah aus dem Fenster. »Glücklich«, beendete ich schließlich den Satz.

»Ey, ich muss dir dankbar sein, schließlich hilfst du mir bei Hubert. Und dein Glücklichsein hat nicht doch vielleicht eher was mit Tom zu tun?«

Sofort spürte ich, wie sich nun rote Flecken an meinen Hals hinaufschlichen. »Auch«, gab ich zu und biss mir auf die Lippe, um dieses glücksduselige Grinsen im Zaum zu halten.

»Tom ist echt einer von den Guten. Auch wenn er nichts für Hubert übrig hat. Aber er hat mal eine Ente gerettet, als wir mit dem Boot draußen waren. Sie hatte es irgendwie geschafft, sich völlig in einem Stück Angelsehne zu verheddert. Zum Dank hat sie ihn danach gebissen.«

»Womöglich mag er Hubert deswegen nicht«, flachste ich. »Seid ihr eigentlich schon lange befreundet?«

»Fast zehn Jahre. Wir sind in dieselbe Schule gegangen, aber da war er eine Zeit lang echt schräg drauf. Angefreundet haben wir uns erst später. Wir haben damals gleichzeitig mit dem Kiten angefangen. Er … also in der Schulzeit hatte er eine schlimme Phase.«

»Weil seine Eltern gestorben sind.«

Sören schien verwundert, fing sich aber schnell wieder. »Ja. Er hat dir davon erzählt?«

Ich nickte.

»Das ist gut, er redet nämlich nicht oft darüber.«

Ich schaute Sören an. »Du bist auch echt in Ordnung, Sören Federlein . Auch einer von den Guten.« Kurz zog ich in Erwägung, Sören alles zu erzählen – weswegen ich hier war, warum Tom mir von seinen Eltern erzählt hatte. Doch etwas hielt mich davon ab, und letztlich war es auch nicht in zwei Minuten erklärt.

»Macht vielleicht das Dating-Detox«, scherzte er. »Moment, wieso Sören Federlein

»Ach, ich zeichne da gerade an etwas, und es könnte sein, dass du und Hubert mich inspiriert haben.«

»Ich habe dich inspiriert? Hast du das gehört, Hubert?«

»Arschloch«, kam es erneut von der Rückbank, und dann gurgelte die Klospülung. Ich musste kichern. »Dieser Vogel ist absurd!«

Den Rest der Hinfahrt redeten wir über Hubert und ob er sich wohl sofort verlieben würde, und wir fragten uns, ob er seine Angetraute ebenfalls Arschloch nennen würde.

Bald darauf kamen wir beim Vogelparadies an, und Sören parkte den Wagen. Er nahm den Reisekäfig von der Rückbank, und ich drückte auf die Klingel.

Agnes öffnete uns. »Da seid ihr ja, wie schön! Kommt herein.«

Wir gingen an ihr vorbei.

»Arschloch!«

»Na, du bist ja ein ganz charmanter Kandidat«, sagte Agnes belustigt. »Aber das wird die Beo-Dame nicht stören.«

»Lassen wir sie jetzt gleich zusammen?«, fragte ich gespannt.

»Nein, Hubert muss erst mal gründlich untersucht werden und bis dahin in Quarantäne.«

»Oh, wie schade.«

»Aber ich halte euch auf dem Laufenden und schicke euch Videos. Jetzt zeige ich euch erst mal seine vorläufige Unterkunft.«

Wir folgten ihr durchs Haus bis in einen kleinen Raum, der wohl das Quarantänezimmer war. Trotzdem war es ansprechend eingerichtet. Mit Seilen und Ästen im oberen Drittel des Raumes und einem Fenster nach draußen.

»Ich denke, hier wird er sich wohl fühlen, oder, Sören?«

Sören war ganz still geworden. »Ja, sieht schön aus«, murmelte er dann.

»Alles okay?«, fragte ich ihn leise.

»Es ist nur … es kommt mir vor, als würde ich ihn im Stich lassen.«

»Ach Quatsch, du sorgst dafür, dass er ein artgerechteres Leben führen kann. Du wirst sein Held sein.« Ich knuffte ihn sanft gegen den Oberarm und entlockte ihm damit ein Lächeln.

»Du hast ja recht.«

»Ich schicke jeden Tag ein Update per WhatsApp, einverstanden?«, bot Agnes an.

Sören nickte. »Mach’s gut Hubert! Bis bald und viel Spaß bei deinem Date.«

»Arschloch.«

»Ja, wir dich auch«, antwortete ich schmunzelnd.

Wir gaben Agnes noch die Papiere für den Beo, und Sören unterschrieb einen Vertrag, der sie bevollmächtigte, sich um den Vogel zu kümmern, bis Sörens Vater wieder da war.

Schließlich verabschiedeten wir uns und fuhren kurze Zeit später auf der Autobahn zurück in Richtung Norden.

»Du hast das Richtige getan«, versicherte ich Sören nochmals.

»Ich weiß. Trotzdem hoffe ich, dass mein Vater sich dazu entscheidet, beide Vögel zu sich zu nehmen. Ich würde Hubert sonst vermissen, und Platz genug hätte er.«

»Ich drücke dir die Daumen.«

»Weißt du, Tom ist ein bisschen wie Hubert. Er wirkt so locker und hat immer einen lustigen Spruch parat, aber unter dem glänzenden Gefieder ist er einsam. Ich würde mich freuen, wenn das was wird mit euch. Tom braucht jemanden, den er genauso liebt wie seine Brauerei. Das wäre gut für ihn.«

»Ich mag ihn auch – sehr, aber es war nur eine Nacht, wir haben uns nur geküsst und … ich bleibe nur bis Oktober«, antwortete ich etwas überfordert.

»Kann man nicht von überall Bücher illustrieren?«

»Sicher, aber ich weiß doch überhaupt nicht, wie Tom die Situation sieht. Bitte interpretiere nicht zu viel hinein«, antwortete ich. Es reichte ja schon, dass ich die Dinge unnötig verkompliziert hatte, indem ich dem Geschäftspartner meines vermeintlichen Vaters nähergekommen war. Mich sogar in ihn verguckt hatte. Wenn ich ehrlich war, sogar schon in das Bild von ihm, das ich auf der Website gesehen hatte, als ich noch traurig in der Bochumer Wohnung saß. Ein Teil von mir wünschte sich plötzlich, dass Jens Martens seinen Aufenthalt auf Martinique bis ins Unendliche verlängern würde. Damit ich die Chance hatte, weiter in dieser glücklichen Blase zu leben. Denn wer wusste schon, was kommen würde, wenn Jens Martens zurück war und es sich bei ihm tatsächlich um meinen Vater handelte. Ich schluckte und schaute aus dem Fenster, wo die Wiesen vorbeizogen.

Sören und ich aßen noch eine Kleinigkeit am Hafen, bevor er mich bei der Brauerei rausließ und ich mich sputen musste, um pünktlich zum Schichtbeginn in der Bar zu sein.

Auf dem Weg dorthin rannte ich geradewegs in Tom hinein. Seine Hände umgriffen meine Oberarme und verhinderten so, dass ich strauchelte. Doch seine Finger blieben auch noch dort liegen, als ich das Gleichgewicht zurückerlangt hatte, und meine Haut wurde ganz heiß an den Stellen, wo sie mich berührten.

»Und? Habt ihr den Vogel erfolgreich verkuppelt?«

»Noch nicht, er muss erst mal in Quarantäne. Scheint kompliziert zu sein, so eine Vogelhochzeit.«

Tom lächelte.

»Ich muss zur Arbeit, sonst mahnt mein Chef mich vielleicht ab. Der hat mich eh auf dem Kieker.«

»Du arbeitest heute? Obwohl du gestern den Dienst bei dem Konzert hattest?«

»Ich hatte doch die Schicht getauscht, als wir surfen waren.«

»Ach richtig … Apropos surfen: Hättest du Lust, morgen mit mir nach Rømø zu fahren? Ich würde dann auch heute weiterarbeiten und morgen dafür freimachen.«

Mein Herz vollführte einen Salto, zumindest fühlte es sich so an.

»Gern! Ich weiß zwar nicht, wo Rømø ist …«

»Drüben an der Nordsee. Du meintest doch gestern, du würdest gern mal hin.«

Meine Mundwinkel zogen sich noch weiter nach oben. Gestern hatte ich nur beiläufig erwähnt, dass ich es faszinierend fand, wie dicht hier zwei Meere beieinanderlagen, und dass ich auf jeden Fall der Nordsee mal einen Besuch abstatten wollte. Sein Vorschlag rührte mich, und ich spürte das Verlangen, ihn zu küssen. Was im Gang kurz vor der Bar wohl mehr als unangebracht war.

»Du lässt mich jetzt wohl besser los.« Mit dem Kopf deutete ich zum Lokal, wo Dana schon neugierig um die Ecke linste. »Ich komme sonst zu spät.«

»Sorry.« Er zog seine Hände zurück. »Dann morgen um zehn?«

»Klingt gut!«

Die ersten Schritte ging ich rückwärts, ehe ich mich umdrehte und an die Theke eilte.

»Da bin ich!«, rief ich Dana etwas zu laut zu und ergriff meine Schürze. »Wo ist denn Joris?«

»Krank«, erwiderte Dana. »Ich musste einspringen.«

In den nächsten Minuten polierte ich etwas zu eifrig die Gläser und ignorierte Danas neugierige Blicke.

»Mir kannst du es doch erzählen.« Sie lehnte sich neben mich ans Spülbecken.

»Was erzählen?«, fragte ich und hoffte, Gerald würde gleich die nächsten Teller fertig haben.

»Da lief doch was zwischen dir und unserem sexy Chef.«

»Dana …« Warum brauchte Gerald nur so lange für den ollen Zander?

Dana lachte auf und stieß sich vom Becken ab. »Du bist so rot wie ein Feuerwehrauto.«

Ich hörte auf, an dem Glas herumzupolieren, und sah sie an. »Bitte erzähle es keinem, okay?«

Unschuldig hob sie beide Hände. »Versprochen. Aber ich hatte es einfach im Gefühl, da war von Anfang an so ein Knistern zwischen euch! Und ich bin sicherlich nicht die Einzige, die es bemerkt hat.« Sie zwinkerte, und ich seufzte unwillkürlich, leicht überfordert mit der Situation.

»Wie war denn eigentlich dein Date bei dem Konzert? Ich habe dich dort gar nicht gesehen«, versuchte ich, das Thema zu wechseln.