Kapitel 23

Die Schicht am Sonntag verlief recht ruhig. Die Gäste waren angesichts der neu beginnenden Woche zeitig nach Hause gegangen, und wir konnten pünktlich schließen. Weil ich ziemlich aufgewühlt war, hatte ich noch stundenlang gezeichnet. Erst an der Geschichte von Ria der Waschbärin, und dann hatte ich einen kleinen Comic für Tom begonnen, in dem er der Superheld war, mit einem Cape wie Superman, und einen Zaubertrank wie die Gallier braute, der ihn dazu befähigte, seine Stadt vor bösen Räubern zu schützen. Ich genoss es, mich so im Zeichnen und Illustrieren zu verlieren. Allein dafür hatte es sich gelohnt, Bochum zu verlassen. Ich war mir nicht sicher, ob es mir dort genauso rasch gelungen wäre, die dunklen Schatten abzustreifen.

Auch heute Morgen hatte ich gleich weitergezeichnet. Schließlich legte ich den Stift beiseite, packte aber kurzerhand die Zeichenutensilien zu den anderen Sachen in die Strandtasche. Vielleicht fand ich auf Rømø Gelegenheit weiterzumachen, überlegte ich, während ich eine Portion gefrorene Bananenstücke aus dem Eisfach holte und sie in den Smoothie-Maker gab. Es folgte etwas Zitronensaft und pflanzliche Milch, ehe ich den Deckel schloss und das Ganze pürierte. Den Shake füllte ich in zwei Glasbehälter mit Schraubverschluss und wiederverwendbaren Strohhalmen. Ich hatte sie mir vor einigen Tagen in der Stadt bei Depot gekauft.

Als Tom um kurz vor zehn bei mir klopfte, öffnete ich mit einem Flattern im Bauch die Tür.

»Hey, bist du startklar?«

»Jup. Möchtest du einen eisigen Bananen-Smoothie?«

»Sehr gern!«

Ich drückte ihm eines der Gläser in die Hand und zog die Tür hinter mir ins Schloss.

»Hm, der ist besser als jeder Milchshake, den ich bisher getrunken habe. So fruchtig und frisch.«

»Er ist ja auch frisch, und es sind nur drei Zutaten drin: gefrorene Bananen, Mandel-Hafer-Milch und Zitrone.«

»Mandel-Hafer-Milch?«

»Die ist gesünder. Ich habe für meine Mutter nach Alternativen zu Kuhmilch gesucht, weil sie die nicht mehr vertrug, und dadurch meine Liebe zu Mandel-Hafer-Milch entdeckt. Wusstest du, dass Haferflocken richtiges Superfood sind?«

Tom schaute skeptisch.

»Doch ehrlich!« Ich grinste ihn mit dem Strohhalm zwischen den Zähnen an, während Tom auf den alten Lieferwagen zuhielt.

»Wir fahren mit dem Oldtimer?«

»Ich habe die Surfbretter hintendrauf.«

»Ah, okay, schon praktisch, so eine Ladefläche.«

Der Motor des Wagens blubberte schwerfällig los, und Tom lenkte ihn mit einer Hand raus aus der Stadt. In der anderen hielt er den Shake und schlürfte die letzten Tropfen, als wir die dänische Grenze überquerten.

»Superlecker. Ich bin jetzt auch ein Fan von Mandel-Hirse-Milch.«

»Mandel-Hafer-Milch.« Ich lächelte.

Dann wurde Tom wieder ernster. »Es muss hart für dich gewesen sein, dich ganz allein um deine Mutter zu kümmern. Meine Eltern waren von einem auf den anderen Tag einfach nicht mehr da. Das ist anders, schätze ich. Ein Schock mit dem Holzhammer. Aber seiner eigenen Mutter beim Leiden zuzusehen … das ist …«

»In der Situation funktioniert man einfach und bleibt stark. Einer muss schließlich die Fahne der Hoffnung hochhalten, und wenn ein geliebter Mensch es nicht mehr kann, dann übernimmt man das für ihn.«

Tom nickte. »Deine Mutter war bestimmt sehr stolz auf dich.« Er stellte sein leeres Glas in die Ablage und griff dann nach meiner Hand, drückte sie und legte unsere verschränkten Finger zwischen uns ab, während er sanft mit seinem Daumen über meine Haut fuhr.

Ich konnte wegen des Kloßes in meinem Hals nicht antworten und presste lediglich die Lippen zu einem verkniffenen Lächeln zusammen.

»Auch wenn ich deine Situation nicht exakt nachempfinden kann, kann ich dir doch versprechen, dass es irgendwann weniger wehtut.«

Als Antwort drückte ich seine Hand und wünschte mir in diesem Moment, dass er meine nie wieder loslassen würde.

Eine Stunde später fuhren wir über einen Damm, der laut Tom die Insel Rømø – oder auf Deutsch Röm – mit dem dänischen Festland verband. Links und rechts erstreckten sich Salzwiesen und das Wattenmeer. Ich war in der Zwischenzeit näher an ihn herangerutscht und lehnte nun meinen Kopf gegen seine Schulter.

»Wow, ist das schön hier«, flüsterte ich mit Blick aus dem Fenster.

»Es wird noch viel besser, warte nur ab!« Er drückte mir einen Kuss aufs Haar, und meine Kopfhaut prickelte an der Stelle. Als wir die Insel erreichten, führte uns die Straße durch wunderschöne Heidelandschaften, gespickt mit Wäldern aus Kiefern. Dazwischen blitzte teilweise der helle Sandboden auf. Die Insel schien komplett aus Sand zu bestehen, wie eine gigantische Sandbank. Ich richtete mich auf und rutschte zurück auf meine Seite, bestaunte die Landschaft wie ein Kind, das zum ersten Mal eine Kirmes sah.

»Und es ist immer noch nicht das Beste«, verkündete Tom fröhlich.

Wir passierten einen großen Parkplatz vor einer Reihe Gebäude, in denen Geschäfte unterbracht waren. »Müssen wir hier nicht unseren Wagen abstellen?«, fragte ich und wunderte mich, dass Tom an den vielen parkenden Autos vorbeifuhr.

»Nö, das Beste kommt nämlich jetzt .« Wir überquerten eine letzte Ampel, und dann endete die Straße einfach zwischen zwei Dünen, und Tom fuhr auf dem Sand weiter. Vor uns öffnete sich ein Strand, bestehend aus leuchtendem Sand bis zum Horizont.

»Hier fährt man mit dem Auto einfach auf den Strand?«, fragte ich und verrenkte meinen Hals, um nichts zu verpassen. Vor uns parkten Pkw und Wohnmobile in langen Reihen auf der riesigen Sandfläche, die bestimmt einen Kilometer oder sogar zwei oder drei breit war. Denn die Wasserkante konnte ich von hier nur erahnen, weil sie sich in der Ferne mit dem Horizont vermischte.

»Ja, von sieben Uhr morgens bis neun Uhr abends ist es erlaubt.«

»Oh, schade, übernachten darf man nicht?«

»Nee, dann würden wohl einige mit dem Wohnmobil einfach für immer stehenbleiben. Ich würde das zumindest machen, wenn ich eins hätte.«

»Ich auch!«

Obwohl es keinerlei Schilder oder Begrenzungen gab, steuerte Tom den Wagen zielsicher auf einer festgefahrenen Spur über den Sand, die – wie abgesprochen – alle zu benutzen schienen.

»Wir können wahrscheinlich nicht allzu weit nach vorn. Die alte Kiste ist verdammt schwer, und ich habe keine Lust, mich festzufahren. Das Rausziehen lassen die Dänen sich teuer bezahlen. Aber schauen wir mal, wie weit wir kommen.«

Wir kamen dann doch ziemlich weit und ergatterten eine große Lücke kaum fünfzig Meter vom Wasser entfernt. Ich quietschte vergnügt auf und sprang aus dem Wagen. Erwartungsvoll sah ich Tom an.

»Sollen wir nicht erst alles aufbauen?«, fragte er und deutete zur Ladefläche.

»Erst einmal mit den Füßen in die Nordsee. Bitte!«

»Na schön, wenn dich das so glücklich macht. Stadtmädchen.«

»Sagte der Stadtjunge.«

»Einer Stadt am Meer.«

»Ich weiß.« Ich seufzte, ehe ich lossprintete und an der Wasserkante die Flip-Flops von den Füßen kickte. Das Wasser schwappte in einer großen Welle an meine Beine, und ich sprang ein Stück zurück.

»Etwas mehr Bewegung als in unserer Badewanne«, scherzte Tom.

»Dafür kann man den Grund nicht so gut sehen. Ich hoffe, ich trete auf keinen Krebs.«

»Das hofft der Krebs sicherlich auch.«

Ich spritzte mit meinem Fuß ein wenig Wasser auf Tom.

»Hey!«, empörte er sich und rächte sich prompt. Sein Fuß wirbelte nur weit mehr Wasser in meine Richtung, und ich keuchte auf, als die Spritzer mein T-Shirt durchnässten. Tom grinste frech.

»Na warte!« Ich beugte mich vor und schaufelte wie ein Raddampfer mit beiden Händen Wasser in seine Richtung.

»Hör auf, oder du wirst es bereuen!«

»Oh, jetzt habe ich aber Angst!«

Hätte ich mal besser haben sollen, denn zwei Sekunden später kam Tom, meiner Wasserfontäne zum Trotz, auf mich zugerannt. Ich quietschte vergnügt auf und stürmte los. Es dauerte nicht lange, bis er mich eingeholt hatte und seine Hände sich um meine Hüfte schlangen. Er wuchtete mich auf seine Schulter wie einen Sack Mehl und schritt ein paar Meter weiter ins Wasser.

»Bitte nicht!«, rief ich lachend und krallte mich in sein Shirt. Tom ließ mich runter, bis ich ganz dicht vor ihm stand, die Hände auf seine Brust gelegt. Die kalten Wellen der Nordsee spülten bis an den Saum meiner Jeansshorts. Ich stellte mich auf Zehenspitzen, umfasste Toms Nacken und zog seinen Kopf zu mir herunter. Seine Lippen schmeckten salzig, ein bisschen nach Banane und nach etwas, von dem ich nicht genug bekommen konnte. Seine Finger strichen meinen Rücken hinunter und schoben sich in die hinteren Taschen meiner Jeans.

Völlig durchnässt kamen wir zehn Minuten später wieder beim Wagen an. Gemeinsam hievten wir die Surfausrüstung von der Ladefläche. Anschießend legte Tom zwei dicke Decken auf die Pritsche und zauberte ein Sonnensegel hervor, das er an den beiden Seitenspiegel befestigte und dann übers Dach der Fahrerkabine und über die Ladefläche spannte. Die Spitze des dreieckigen Tuches band er an einen Holzstab, den er mit einem Hammer in den Sand trieb. Ich krabbelte als Erste auf die Ladefläche und lehnte mich mit dem Rücken an das Fahrerhaus. Tom hatte so geparkt, dass wir in Richtung Meer schauten.

»Das ist fantastisch«, bemerkte ich und kuschelte mich an ihn, als er es sich neben mir bequem gemacht hatte. »Daran könnte ich mich gewöhnen.«

»Könntest du?«

»Könnte ich.«

Er strich mir sanft den Pony zur Seite, der schon wieder gewachsen war und sich immerzu in meinen Wimpern verfing.

»Ich mich auch.«

Lächelnd hob ich den Kopf, während kleine Flattertierchen in meinem Bauch eine wilde Party veranstalteten. Toms grüne Augen blickten so unendlich sanft auf mich herab, dass ich die Hand hob und sie an seine Wange legte. Langsam beugte er sich vor und küsste mich, knabberte an meiner Lippe und spielte mit meiner Zunge. Irgendwann lehnte er sich zurück und schloss die Augen, hielt mich aber fest in seinem Arm, als wollte er sichergehen, dass ich mich nicht davonstahl. »Aber wir liegen jetzt nicht den ganzen Tag rum, wir gehen auch surfen«, murmelte er.

Ich grinste und nickte an seiner Brust. »Aber noch nicht.«

Eine Stunde später quetschten wir uns in die Neoprenanzüge, und Tom half mir, mein Surfbrett zusammenzubauen.

»Die Nordsee ist ein wenig anspruchsvoller als die Ostsee. Es ist wichtig, dass du nicht zu weit raussurfst.«

»Keine Sorge, dass passiert mir nicht noch einmal.«

»Willst du dir gar kein Brett fertig machen?« Erst jetzt fiel mir auf, dass Tom nur ein winziges Brett mit Fußschlaufen dabeihatte.

»Der Wind soll in etwa einer Stunde auffrischen, wenn es für dich okay ist, würde ich dann lieber mit dem Kite raus.«

»Klar, wieso nicht. Dann habe ich die Ladefläche ganz für mich allein«, zog ich ihn auf.

Er grinste und stahl sich einen Kuss, ehe er das Heck meines Boards und das Segel anhob und es mit mir ins Wasser trug. »Also, Ruhrpottmädchen, von wo kommt der Wind?«

Ich verdrehte lachend die Augen über den neuen Spitznamen und schaute mich um, entdeckte eine Fahne an einem Rettungsturm, die es mir verriet. Außerdem war der Wind hier viel deutlicher zu spüren und die Richtung leichter auszumachen.

»Gut, und wie verläuft dein Amwindkurs?«

Ich breitete meine Arme aus und drehte mich entsprechend. Tom korrigierte mich ein wenig, nickte dann zufrieden.

»Hier wird es definitiv schneller tief, aber das Gute ist, der auflandige Wind drückt dich zurück an Land und nicht raus. Also besteht keine Gefahr, dass ich dich auf Sylt abholen muss.«

Ich lächelte ihn an, weil mein Herz ganz warm wurde angesichts seiner offensichtlichen Sorge um mich.

»Ich pass auf, versprochen.«

»Ich bin auch gleich hier vorn.«

Tom blieb stehen, während ich mein Board allein weiter rauszog. Ich richtete es zum Kurs aus und kletterte hinauf. Mit der Aufholleine holte ich den Mast in die Grundposition und wartete, bis das Board perfekt ausgerichtet war. Ein wenig Herzklopfen hatte ich, wenn ich an das Ende der letzten Surfstunde dachte, aber da ich wusste, wo mein Fehler gelegen hatte, musste ich heute einfach nur die Nerven behalten. Entschlossen holte ich das Segel weiter hoch und griff an den Gabelbaum, genoss das Gefühl, als der Wind das Segel erfasste und das Brett über das Wasser schob. Innerlich juchzte ich auf. Das war so verdammt cool! Mir gelang die erste Wende recht gut, und ich fuhr auf demselben Kurs zurück. Mit jedem Richtungswechsel wurde ich sicherer, und der Wind riss mir das Segel nur wenige Male aus der Hand. Meistens schaffte ich es, es in der Grundstellung zu behalten, bis die Böe mich wieder losließ. Tom winkte mich zu sich, und durch Kreuzen surfte ich dicht an ihn heran.

»Das sieht schon richtig gut aus!«, rief er. »Komm, ich zeige dir, wie du die Wendung in der Fahrt machst. Dafür brauch ich kurz das Board.«

Ich sprang ins Wasser und übergab es an ihn. Das Salzwasser rann mir aus den Haaren übers Gesicht, und wieder verspürte ich diese Freiheit, wie sie einem wohl nur das Meer geben konnte. Meerwasser heilte alle Wunden, das hatte Jette gesagt. Nun verstand ich, wieso.

»Genau hinschauen, okay?«

Ich nickte und schnaufte durch, während Tom anfuhr. Er vollführte eine Wendung und kam zurück.

»Hast du gesehen? Eigentlich ist es ganz ähnlich zu der, die du bisher gemacht hast, nur aus der Fahrt heraus.«

Er fuhr an mir vorbei und wendete erneut. Dieses Mal achtete ich auf seine Füße, die mit dem Rumdrücken des Mastbaumes die Position wechselten.

Tom hüpfte ins Wasser und gab mir das Board zurück. Ich hievte mich hinauf, richtete es aus, fuhr los und versuchte die Wendung.

»Jetzt die Hände umgreifen!«, rief Tom.

Ach ja, die musste ich ja auch wechseln … Etwas holperig gelang mir der Richtungswechsel.

»Gut, nächstes Mal richtig schön aus voller Fahrt heraus, den Mastbaum über das Heck drücken, ruhig etwas zügiger.«

Der hatte gut reden. Es gab so viele Sachen zu bedenken!

Doch bei jedem Versuch gelang es mir besser, bis ich schließlich erschöpft zu Tom fuhr. »Ich bin erledigt!«, rief ich und glitt ins Wasser, genoss die kühle Nordsee, die dank des Neoprenanzugs wunderbar auszuhalten war.

»Der Wind hat auch schon zugelegt.«

Ich prustete mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Das habe ich gemerkt, es wurde schwerer, das Segel zu halten.«

»Du machst das super. Dafür, dass es erst dein zweites Mal ist, ist das echt beeindruckend.«

»Danke, dass du mir das alles beibringst. Auf dem Wasser, dieses Gefühl – alles andere wird irgendwie unwichtig. Ich bin da ganz bei mir selbst und frei von allem.«

»Schön gesagt, ich weiß genau, was du meinst. Du darfst nur nie denken, das Meer ist dein Freund, und den Respekt verlieren. Es will dir nichts Böses, aber es passt auch nicht auf dich auf. Für das Meer spielt es keine Rolle, ob seine Wellen dich überrollen oder du auf ihnen surfst.«

»Vielleicht macht gerade das die Freiheit aus?«

»Kann sein.«

Wir trugen das Board an den Strand, wo ich als Erstes den Neo öffnete und ihn mir bis zur Hüfte herunterzog. Während Tom seine Kiteausrüstung zusammenstellte, baute ich mein Surfboard auseinander.

»Also magst du Kiten lieber als Windsurfen?«

»Hm, ich mag beides. Aber beim Kiten gibt es nur den Actionmodus, ich denke, das mag ich daran. Um beim Windsurfen auf dieses krasse Level mit Sprüngen und so weiter zu kommen, muss man verdammt gut sein. Da reicht es nicht, wenn man es alle zwei Wochen mal aufs Board schafft.« Er deutete auf den Kiteschirm, an dem einige dünne Schnüre befestigt waren. »Kannst du den Schirm am Strand in Position halten, bis ich ihn hochhole?«

»Klar!«

Tom arrangierte alles, was mir ziemlich aufwendig vorkam. Während ich an der Wasserkante hinter dem Kite hockte und es festhielt, damit es sich nicht verhedderte, lief Tom mit dem einem Snowboard ähnlichen Board ins Wasser. Die Stange, an der der Schirm befestigt war, hielt er in der anderen Hand. Dann ging alles ganz schnell. Tom gab mir ein Zeichen, und kurz darauf hob sich der Schirm hoch in die Luft. Tom lenkte ihn in die gewünschte Position, dann steckte er die Füße in die Schlaufen auf dem Board und sauste los.

Und ich verstand, was er mit dem Actionmodus gemeint hatte. Nicht nur, dass er mit der Kraft des Segels am Himmel viel schneller auf dem Wasser unterwegs war, zudem ermöglichte es ihm auch zu springen. Einmal ließ er sich von dem Segel so weit hochziehen, dass ich erschrocken die Luft anhielt, bis er wieder sicher auf dem Wasser landete. Wie gebannt stand ich am Ufer, schaute ihm zu und spürte, wie ich mich noch ein bisschen mehr in ihn verknallte.

Doch ob das eine gute Idee war, vermochte ich nicht zu sagen. Jens Martens drängte sich in den Vordergrund meiner Gedanken, und ich schluckte. Was wäre, wenn ich einfach weiter an der Geschichte meiner Mutter festhalten würde? Doch würde ich mich dann nicht selbst um die Wahrheit betrügen? War ich es mir nicht schuldig herauszufinden, ob er tatsächlich mein Vater war?

Eine Weile stand ich noch an der Wasserkante und sah Tom zu, bis ich mal dringend aufs Klo musste. Ich lief zum Wagen und zerrte mir zunächst den Neoprenanzug von den Beinen. Als wir auf den Strand gefahren waren, hatte ich einen Toilettenwagen gesehen. Ich lief grob in die Richtung und fand ihn bald darauf.

Zurück beim Wagen machte ich es mir auf der Ladefläche bequem und holte meinen Zeichenblock aus der Tasche. Mein Superheld Tom konnte nun mit seinem Zaubergebräu über die Wellen fliegen. Zwischendurch schaute ich auf und genoss es, Tom auf dem Wasser zuzusehen. Das Sonnensegel blähte sich über mir im Wind, in einigen Metern Entfernung baute eine Familie eine riesige Sandburg mitsamt Wassergraben, und ich erwischte mich dabei, wie ich mir wünschte, hierbleiben und irgendwann mit meiner eigenen Familie Sandburgen bauen zu können.

Als ich das nächste Mal aufschaute, lag Toms Schirm schon auf dem Strand. Ich legte meinen Zeichenblock beiseite und kletterte von der Ladefläche, um ihm zu helfen.

»Ich kümmere mich um den Schirm, nimmst du das Board mit?«, fragte er und reichte es mir. Sein dunkles Haar hing ihm nass in die Stirn, und es sah viel länger aus, die grünen Augen leuchteten hell in seinem sonnengebräunten Gesicht, und ich konnte nicht anders, als mich vorzubeugen und meine Lippen auf seine zu drücken. »Hm, salzig«, murmelte ich dabei. Als ich mich wieder zurückzog, fing ich einen Blick auf, den ich nicht ganz deuten konnte. Ich lächelte unsicher und trug dann das Board zum Wagen.

Den Rest des Nachmittages verbrachten wir unter dem Sonnensegel. Tom versuchte, nach meinem Zeichenblock zu angeln, aber ich schlug ihm auf die Finger.

»Noch nicht! Wenn es fertig ist, zeige ich es dir, versprochen.«

»Na schön, dann muss ich mich anders beschäftigen.« Er rollte sich kurzerhand auf mich, und ich genoss seinen schweren warmen Körper auf meinem. Nachdem er sämtliche nackte Haut von mir mit Küssen bedeckt hatte, flüsterte er in mein Ohr: »Du hast einen Sonnenbrand.«

»Quatsch, ich war doch die meiste Zeit im Schatten oder im Neo!«

»Deine süße kleine Nase aber nicht.« Er küsste mich auf die Spitze. »Hast du dich nicht eingecremt?«

»Doch, aber nur mit dreißiger Lichtschutzfaktor. Hat wohl nicht gereicht.«

Tom rollte sich von mir runter, legte sich neben mich und verschränkte die Arme hinter seinem Kopf.

»Wenn du auf oder am Wasser bist, solltest du immer fünfzig nehmen. Ich nehme ja schon dreißig und, na ja, meine Haut ist nicht wie die von Schneewittchen.«

Ich boxte ihn in die Seite. »Nicht so frech!«

Lautlos lachte er auf und schaute aufs Meer. Nach einer Weile fragte er: »Hast du die roten Haare und die helle Haut von deiner Mutter geerbt?«

»Wieso fragst du?« Etwas störte mich an der Frage, ohne dass ich genau wusste, was.

»Nun, weil Jens und seine Familie … also, die haben alle strohblondes Haar und dennoch einen dunkleren Teint.«

»Aha, ja, habe ich dann wohl von meiner Mutter«, erwiderte ich knapp.

Offensichtlich war er immer noch der Ansicht, dass an der Geschichte nichts dran sein konnte. Und auch wenn ich selbst Zweifel hatte, tat es mir weh. Vielleicht weil ich wollte, dass er auf meiner Seite stand.

Tom schien die plötzliche Spannung in der Luft nicht zu entgehen. »Weißt du, damals, als meine Eltern verunglückt sind, war ich zwar schon fast volljährig, aber ich verlor irgendwie den Halt. Ich habe dumme Sachen angestellt und mit den falschen Leuten rumgehangen. Ich glaube, ich habe einfach das Leben herausgefordert, weil ich mir nicht sicher war, ob es für mich noch Sinn machte weiterzumachen. Meine Eltern waren ziemlich cool. Mein Vater hat mir das Surfen beigebracht, und wir waren immer viel am Wasser. Jens war mit meinem Vater befreundet. Als er mitbekam, wie es um mich steht, hat er mir geholfen, wieder auf die Füße zu kommen.«

Ich griff nach Toms Hand und drückte sie. Es tat mir unwahrscheinlich leid für den jugendlichen Tom, fühlte ich mich doch jetzt mit achtundzwanzig Jahren auch recht verloren. Und ich verstand ein bisschen besser, warum er so loyal Jens gegenüber war. Aber all den Indizien, die auf Jens deuteten, hätte er sich dennoch nicht verschließen sollen.