Kapitel 24

Am nächsten Morgen rief mich meine Tante an.

»Hallo Aline! Ich wollte mal hören, wie es dir geht und ob du schon mehr herausgefunden hast«, sagte sie.

»Dieser Jens Martens ist immer noch auf Martinique, und außer ihm habe ich keine Ansatzpunkte«, erwiderte ich.

»Möchtest du vielleicht doch, dass ich mal mit unseren Pflegeeltern spreche, ob sie sich noch an den Nachnamen oder die alte Anschrift von der Freundin von Margit erinnern?«

Ich wusste, wie schwer es Karin fallen würde, Kontakt zu ihnen aufzunehmen, deshalb sagte ich: »Das brauchst du nicht. Du könntest mir aber die Adresse geben, dann nehme ich gegebenenfalls selbst Kontakt auf, wenn ich bei Jens Martens nicht weiterkomme. Seine Rückkehr möchte ich aber erst mal abwarten.«

»Aber was machst du denn so lange dort oben?«

Einige Sekunden war es still in der Leitung.

»Leben«, flüsterte ich schließlich. »Das erste Mal seit zwei Jahren.«

Meine Tante schwieg für einen Moment, ehe sie leise bemerkte: »Ich wünschte, sie hätte mir gesagt, dass sie krank ist. Aber genauso wünschte ich, dass ich mich früher gemeldet hätte, mich einfach mal erkundigt hätte, wie es euch geht.«

Ich nickte. Ja, das wünschte ich rückblickend auch, aber ich sagte nichts. Es war offensichtlich, dass Karin sich bereits selbst ein schlechtes Gewissen machte. Und wem nützte das jetzt noch? Meiner Mutter nicht mehr. Doch es zeigte sehr deutlich, dass man sein Leben nicht mit Streitigkeiten vergeuden sollte, weil es irgendwann zu spät sein könnte, sie beizulegen.

Die Woche verging wie im Flug. Neben den Schichten im Restaurant versendete ich Etsy-Bestellungen, druckte neue Bilder, zeichnete an meinem Comic und an dem von Tom alias Mister Superbrewer oder Mister Beertastic – ich war mir da noch nicht sicher. Die Stunden, die dann noch blieben, verbrachte ich mit Tom. An einem Tag leistete Sören uns Gesellschaft, und ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich mich so wenig bei ihm gemeldet hatte. Er berichtete von den Fortschritten bei der Verkupplung von Hubert und der Beo-Dame und schien nun auch nicht mehr so traurig, den Vogel bei Agnes gelassen zu haben.

Am Donnerstag aß ich nachmittags am Hafen ein Fischbrötchen und vollendete meinen Tom-Comic auf den Palettenbänken. Mister Superbrewer stand nun auf dem Deckblatt, das fand ich irgendwie cooler als Mister Beertastic. Anschließend kaufte ich noch ein Fischbrötchen und brachte es Tom in die Brauerei. Er stand gerade auf einer Leiter und linste in einen der Kessel. Als er mich bemerkte, erhellte sich sein ganzes Gesicht, wie jedes Mal, wenn er mich sah, und ich hätte gar nicht ausdrücken können, was das in meinem Inneren anrichtete.

»Hunger?«, rief ich und wackelte mit dem Brötchen in der Hand.

Er sprang von der Leiter und kam auf mich zu, küsste mich auf die Stirn und schnappte sich mein Mitbringsel. »Du bist die Beste! Sollen wir uns kurz setzen?«

Wir gingen zu dem kleinen Tisch in der Ecke, wo Tom beherzt in das Brötchen biss. Mit vollem Mund deutete er auf meinen Block. »Hast du an deinem Comic weitergezeichnet?«

»Ehrlich gesagt habe ich etwas für dich gezeichnet.«

Seine Augen weiteten sich erfreut. Er verdrückte mit wenigen Bissen das Fischbrötchen und putzte sich anschießend die Finger mit der Serviette sauber. Etwas nervös schob ich ihm den Block rüber und beobachtete jede Regung in seinem Gesicht, als er ihn aufschlug.

Einige Sekunden verharrte sein Blick auf dem Papier, ehe er zu mir aufschaute. »Mister Superbrewer? Bin ich das?«

Ich spürte, wie meine Wangen warm wurden, als ich nickte. »Ich dachte, du freust dich vielleicht über deinen eigenen Comic, in meinem bist du ja nicht so gut weggekommen als Stinktier – obwohl es sich am Ende doch als guter Kumpel entpuppt.«

»Das ist – ich weiß nicht, was ich sagen soll. Wow, danke, Aline. Das ist genial!« Er blätterte durch die Seiten.

»Freut mich, dass er dir gefällt.«

»Er gefällt mir nicht nur, es ist … Ich bin einfach sprachlos.«

Allmählich stiegen mir angesichts seiner Freude Tränen der Rührung in die Augen, doch ich blinzelte entschieden dagegen an.

»Ich habe meinen eigenen Zaubertrank, ha, ich fasse es nicht!« Tom stand auf und trat um den Tisch herum, griff nach meiner Hand und zog mich hoch. Dann legte er beide Hände an meine Wangen. »Schmeckt jetzt bestimmt ein bisschen nach gebratenem Fisch …«

»Macht nichts, ich habe vorhin auch eins davon gegessen, ich stehe also auf gebratenen Fisch.« Ich grinste, ehe seine Lippen sich auf meine senkten. Er küsste mich langsam und zärtlich. Dieser Kuss fühlte sich anders an als alle zuvor, und ich verlor ein noch größeres Stück meines Herzens an Tom. Ich hoffte, es ging ihm genauso.

»Kinners, ihr bringt einen alten Mann in Verlegenheit!«, brummte plötzlich Knut hinter uns, und ich zuckte ertappt zusammen. Abrupt löste ich mich von Tom und spürte schon die roten Flecken an meinem Hals hinaufwandern. Aber Tom zog mich nochmal an sich und ließ sich von Knuts Gemurmel im Hintergrund nicht stören.

Abends kam Tom nach der Arbeit zu mir und hatte Essen aus der Bar dabei. Während wir an dem kleinen Tisch saßen und uns Geralds Risotto schmecken ließen, nickte Tom zu dem Stapel mit meinen Zeichenutensilien.

»Weißt du, ich habe nachgedacht, ich finde, du solltest deinen Waschbären-Comic an einen Verlag schicken. Er ist echt gut.«

Bedächtig kaute ich den Bissen zu Ende. »Aber er ist noch nicht ganz fertig.«

»Muss er das sein, um sich damit einem Verlag vorzustellen?«

Ich zuckte ausweichend mit den Schultern.

»Ich weiß, dass es nach so einem Verlust schwer ist, wieder in die Spur zu kommen und auch etwas für sich zu tun. Träume zu haben, Freude zu empfinden – all diese Dinge, die wichtig sind für ein glückliches Leben.«

Mit aufeinandergepressten Lippen nickte ich. »Ich habe damit wegen ihr aufgehört, und nun wieder an das frühere Leben anzuknüpfen fühlt sich an, als würde ich die letzten zwei Jahre auslöschen.«

»Aber der Comic erzählt doch genau diese Geschichte oder nicht? Ist nicht Ria die Räuberin nach dem Tod ihrer Mutter ganz allein auf der Welt und begreift, dass sie losziehen und sich Freunde suchen muss, damit sie wieder glücklich wird? Diese Botschaft – ich finde, das sollte gedruckt werden.«

»Hör auf, sonst heule ich gleich!«

»Dann lass laufen, manchmal muss es einfach raus.«

Er zog mich von meinem Stuhl zu sich heran, bis ich auf seinem Schoss saß. Ich vergrub mein Gesicht an seiner Halsbeuge, während er mir sanft über den Rücken strich.

Nach einer Weile richtete ich mich auf. »Vielleicht schicke ich es an eine Agentur oder an meinen alten Kontakt im Verlag, auch wenn sie mich aufgrund des abgebrochenen Auftrags wahrscheinlich nicht in bester Erinnerung haben.«

»Versuch es. Und wenn die es nicht wollen, sind sie es, die etwas verpassen, nicht du!«

»Du bist so sweet!«, sagte ich und knabberte an seinem Ohrläppchen. »Hm, ja, sehr lecker.« Ich strich mit meinen Fingern erst an seinem Shirt entlang, dann ließ ich sie unter den weichen Baumwollstoff gleiten. Ein rauer Laut drang aus Toms Kehle, und er fand meine Lippen. Der Kuss wurde leidenschaftlicher und unsere Finger rastloser auf dem Körper des anderen. Wir hatten bisher noch nicht miteinander geschlafen, aber seine Geduld in allen Ehren – ich wollte nicht länger warten.

Ich stand auf und zog ihn mit mir. Vor dem Bett griff ich an den Saum meines Shirts, zog es über den Kopf und ließ es achtlos auf den Boden fallen. Anschließend öffnete ich meine Jeansshorts und ließ sie hinuntergleiten, genoss dabei den hungrigen Blick von Tom und wie sein Brustkorb sich deutlich schneller hob und senkte.

»Aline, bist du dir sicher …«

»Absolut sicher!«, fiel ich ihm ins Wort und öffnete meinen BH . »Hast du …?«

Ich hatte den Satz noch nicht einmal zu Ende gesprochen, da hatte Tom schon ein Kondom aus seiner Geldbörse gezerrt und hielt es triumphierend hoch. »Es ist nicht so, dass ich mir das in den letzten Tagen nicht ungefähr eine Million Mal ausgemalt hätte«, erklärte er auf meinen überraschten Blick hin, und ich grinste.

Zwei Sekunden später lag ich auf der Matratze und blickte in ein paar lodernde grüne Augen.

Wie eine zufriedene Katze schmiegte ich mich an Tom. Warum nur hatten wir uns mit dem Sex so viel Zeit gelassen? Jetzt würde ich auf jeden Fall nicht mehr genug davon bekommen können. Toms Finger glitten träge über meine Seite. Sein Mund verteilte kleine Küsse auf meinem Gesicht.

»Hast du Lust, an deinem nächsten freien Tag mit dem Boot zu den Ochseninseln zu fahren?«, murmelte er in meine Haare. »Ich stehe auf den Duft deines Shampoos.«

»Liebend gern«, flüsterte ich, während ich mich noch etwas enger an ihn kuschelte. »Wir sollten Sören fragen, ob er mitwill. Schließlich hatte er diese Fahrt ja schon geplant, als ich erst wenige Tage hier war.«

Tom hob den Kopf. »Du denkst jetzt – in diesem Moment – an Sören?«

Ich kicherte. »Sorry, aber er ist dein bester Freund und mein Kumpel, und wir haben ihn beide sträflich vernachlässigt in den letzten Tagen.«

»Okay«, brummte Tom. »Wenn es sein muss.«