Kapitel 28

Nicht einmal vierundzwanzig Stunden später verabschiedete ich mich am Bahnsteig wieder von Anni.

»Vielen Dank, dass du hergekommen bist! Es tat so gut, dich zu sehen.«

»Klaro, und es tut mir unendlich leid, dass ich dir in den letzten Wochen und Monaten nicht beistehen konnte.« Sie drückte mich an sich. »Überlege es dir nochmal mit diesem Jens Martens, du könntest ihn ja auch allein darauf ansprechen, ohne dass seine Familie etwas davon mitbekommt. Dann hättest du zumindest für dich Gewissheit. Und rede mit Tom.«

»Mal sehen«, antwortete ich vage. Ich wollte nicht das Geheimnis eines Familienvaters sein. Auch wenn ich nicht genau wusste, was ich mir eigentlich erhofft hatte – das war es gewiss nicht. Meine Freundin stieg in den Zug, und ich schaute ihm hinterher, während er aus dem Bahnhof fuhr.

Als ich mein Auto wieder vor der Brauerei parkte, stellte ich erleichtert fest, dass Toms privater Wagen wie auch am Abend zuvor nicht da war. Dies verschaffte mir noch etwas Zeit, mir zu überlegen, was ich zu ihm sagen wollte, wie es überhaupt weitergehen sollte.

Wenn ich an Tom dachte, stach es ununterbrochen in meiner Brust. Aber ich hatte schon Schlimmeres durchgestanden. Es war besser, wir setzten dem Ganzen jetzt ein Ende, bevor die Gefühle immer größer wurden. Dass sie in diesem Moment schon verdammt groß waren, ignorierte ich geflissentlich.

Obwohl mein Körper müde war, hielt mein Geist mich in dieser Nacht wach. Ich wälzte mich unruhig hin und her und vermisste Tom, seine gleichmäßigen Atemzüge, seine Hand, die stets den Kontakt zu mir gesucht hatte, sogar wenn er schlief. Annis Anwesenheit hatte mich in der letzten Nacht davon abgelenkt, doch nun traf mich die Sehnsucht umso stärker.

Dementsprechend gerädert erwachte ich am nächsten Morgen. Ich hatte mit Luca zusammen Spätschicht und drehte mich deshalb einfach nochmal um und zog mir die Decke über den Kopf. Durch das geöffnete Fenster drangen die Geräusche der langsam erwachenden Stadt. Dann schlug lautstark eine Autotür zu, was mich hochschrecken ließ.

»Tom, schön dich zu sehen! Wie läuft es mein, Junge?«, drang eine fremde Stimme klar und deutlich bis in meine kleine Wohnung. Und in mir stieg eine böse Vorahnung auf.

Binnen eines Wimpernschlages war ich hellwach und sprang aus dem Bett, um mich zu vergewissern, dass es sich um die Person handelte, die ich befürchtete. Ich spähte hinunter in den Hof und erkannte den braungebrannten Mann sofort. Immerhin hatte ich ihn auf einigen Fotos gesehen. Er war älter als auf den meisten, aber es war unverkennbar Jens Martens.

Und so gefasst ich gestern noch gewesen war, so krass setzte nun der Panikmodus ein. Innerhalb von Sekunden wurde mir klar: Ich konnte diesem Mann nicht gegenübertreten. Ich war dazu nicht bereit. In mir wirbelten verschiedene Gefühle durcheinander. Wut, weil er womöglich meine Mutter im Stich gelassen hatte. Dazu eine gehörige Portion Angst, dass er mich nicht gewollt hatte. Auch wenn nicht feststand, dass dieser Mann meine Mutter geschwängert hatte, versetzte allein die Möglichkeit der Ablehnung mich immer mehr in Panik. Gleichzeitig fürchtete ich mich ein wenig vor mir selbst, was ich sagen oder tun würde, wenn er mir gegenüberstand – denn ich wollte seine Familie nicht zerstören. Wenn er vor so langer Zeit wirklich diesen einen Fehler begangen hatte … Nein, das zu erfahren hatten weder Lara und Linn noch seine Frau Anna verdient. Aber vielleicht ist er ein notorischer Betrüger, flüsterte eine innere Stimme.

»Das ist nicht mein Problem«, murmelte ich halbherzig, wandte mich vom Fenster ab und fasste im nächsten Augenblick einen Entschluss.

Ich griff nach dem Handy und schrieb zunächst Dana.

Notfall! Kannst du heute für mich einspringen? Und morgen vielleicht auch?

Was ist denn los?

Ich kann nicht darüber sprechen, aber ich muss dringend für ein paar Tage weg. Bitte!!

Die kleinen Punkte tanzten, als sie ihre Antwort schrieb.

Na schön, ich kann das Geld gut gebrauchen, obwohl ich eigentlich für eine Klausur lernen muss …

Du bist ein Schatz!

Problem eins war somit gelöst. Obwohl ich ein schlechtes Gewissen Dana gegenüber verspürte, da sie wahrscheinlich deutlich länger als diese zwei Tage für mich einspringen musste. Unruhig lief ich in der Wohnung auf und ab. Wie bekam ich jetzt ungesehen meinen ganzen Krempel ins Auto? Die ernüchternde Antwort lautete: gar nicht. Außerdem hatte ich eine Kündigungsfrist. Die Panik schlug zunehmend höhere Wellen in mir, und ich schluckte. Ich musste erst mal raus hier, und mir fiel nur eine Möglichkeit ein, um kurzfristig zumindest etwas Abstand zwischen die Brauerei und mich zu bekommen: Sören. Ich war erleichtert, ihm bereits alles erzählt zu haben, das sparte eine Menge Erklärungen. Also schrieb ich ihm nur:

Jens Martens ist zurück, und ich kann ihm nicht gegenübertreten – ich pack das nicht. Darf ich für heute bei dir unterschlüpfen? Bis ich weiß, was ich machen soll? Mit dem Job und … mit allem?

Es dauerte ein paar Minuten, ehe er die Nachricht las, in denen ich weiter nervös in der Wohnung auf und ab tigerte. Dann antwortete er.

Na klar. Ich bin aber noch bei der Arbeit, meine Schicht endet um 14 Uhr.

Es war jetzt kurz vor dem Mittag.

Super, danke, ich komme dann so um halb drei zu dir.

Ich stopfte das Nötigste in meine große Strandtasche, machte noch hektisch die dringendsten Etsy-Bestellungen fertig und verließ kurz darauf mit klopfendem Herzen die Wohnung. Auf Zehenspitzen stieg ich die Treppe hinab und lauschte unten sekundenlang mit dem Ohr an der Tür. Erst als ich mir sicher war, dass sich niemand in der Nähe befand, schlüpfte ich lautlos hinaus und joggte zu meinem Wagen. Als ich vom Hofplatz brauste, schaute ich nicht zurück. Mein Herz schlug so schnell, dass es beinahe wehtat. Was hatte ich mir nur bei diesem ganzen bescheuerten Plan gedacht?

Ich brachte die Bestellungen zur Post, anschließend parkte ich am Hafen und setzte mich ins Werftcafé, wo ich die Zeit mit Zeichnen und einem großen Latte macchiato überbrückte. Doch ich es schaffte es nicht, mich auf meine Figuren zu konzentrieren, und es endete damit, dass ich wilde Muster kritzelte.

Als ich um halb drei bei Sören klingelte und er fragte: »Alles okay, wie geht’s dir?«, schüttelte ich nur matt den Kopf. Hatte ich gestern noch gedacht, ich würde das alles hinbekommen, stürzte mit dem Auftauchen von Jens alles über mir zusammen wie ein schlecht errichtetes Kartenhaus.

Mit aufsteigenden Tränen in den Augen folgte ich ihm in seine Wohnung und versuchte, sie wegzublinzeln. Er schenkte uns ein großes Glas Eistee ein und verfrachtete mich damit aufs Sofa. Er selbst setzte sich auf den Sessel.

»Jetzt erzähl mal genau, was passiert ist.«

»Tom und ich haben gestritten, dann war ich gestern im Laden bei Linn und Lara, und dann taucht plötzlich Jens heute Morgen auf und … und ich habe Panik bekommen.« Etwas zusammenhanglos stürzten die Worte aus meinem Mund.

»Okay. Warum haben Tom und du denn gestritten? Weil ich dir das von Lara und Linn erzählt habe?«

Ich schaute ihn an und verzog den Mund zu einer Grimasse.

Sören seufzte. »Das wollte ich nicht.«

»Schon okay. Letztlich geht es auch gar nicht darum. Nachdem ich im Hygge up war, ist mir nämlich klar geworden, dass ich nicht einfach in das Leben dieser Familie krachen kann wie eine Abrissbirne. Aber das bedeutet eben auch, dass ich nicht weiter in der Brauerei arbeiten kann. Nur dachte ich, ich hätte noch etwas mehr Zeit, um das alles zu klären.«

Sören rieb sich mit beiden Händen übers Gesicht. »Also, erst mal zu Tom: Die Martens sind so etwas wie eine Familie für ihn, Jens hat ihm damals wieder auf die Füße geholfen, das weißt du ja sicher. Du kannst ihm also sein Verhalten nicht übelnehmen. Aber ich kenne ihn gut, und ich habe ihn noch nie so erlebt wie mit dir. Du bedeutest ihm echt viel. Und so wie du jetzt redest, hört es sich an, als würdest du das mit euch beenden wollen.«

Meine Lippen begannen zu zittern. »Mal angenommen, du hast recht. Wie sollte ich jemals mit ihm zusammen sein können, wenn dieses Geheimnis im Raum steht? Wenn die Martens wie seine Familie sind – soll ich dann als Toms Freundin mit zum Weihnachtsessen gehen und meinem möglichen Erzeuger frohe Festtage wünschen?«

»Zweitens«, überging Sören einfach meine Darstellung dieses Szenarios, »Aline, du hast ein Recht zu erfahren, ob er dein Vater ist! Rede doch einfach erst mal mit Jens, deswegen bist du doch hergekommen.«

Meine Kehle schnürte sich zu. »Was Ähnliches hat meine Freundin auch gesagt.« Ich schluckte. »Aber ich habe solche Angst, dass er mich damals nicht wollte und heute auch nicht«, flüsterte ich schließlich mit tränenerstickter Stimme.

Sören stand von seinem Sessel auf, setzte sich auf die Lehne des Sofas und zog mich in den Arm.

»Das verstehe ich. Dafür habe ich leider auch keine Lösung.«

»Es hilft mir schon, wenn ich einfach für heute und vielleicht auch morgen hierbleiben kann. Dana springt zwei Tage für mich ein, und dann hätte ich eh wieder einen freien Tag gehabt. Ich brauche einfach ein wenig Zeit, um meine Gedanken zu sortieren. Ich denke, dann fahre ich nach Bochum zurück. Obwohl es mir hier bei euch wirklich gut gefällt.«

»Klar, bleib, solange du willst. Und ich würde mich freuen, wenn du nicht wieder zurückgehst. Egal wie du dich in Bezug auf Jens entscheidest.« Sören erhob sich. »Was hältst du von einer Pizza? Das Wetter ist heute eh eher mittelmäßig, es gibt also keinen Grund, der gegen einen faulen Nachmittag spricht.«

Ein mattes Lächeln schaffte es auf meine Lippen. »Klingt gut.«

Die nächsten vierundzwanzig Stunden verkroch ich mich in Sörens Wohnung. Ich bemitleidete mich gehörig und schaute dabei einen Netflix-Film nach dem anderen, in denen es immer ein verdammtes Happy End zu geben schien und für jedes Problem eine Lösung. Doch so war es im echten Leben nicht.

Tom schrieb mir mehrere Nachrichten, die ich aber nicht einmal öffnete. Ich brauchte diese kleine Auszeit von der Welt, ehe ich mich ihr wieder stellen konnte. Mir war klar, dass ich nochmal mit ihm reden musste, ihm erklären musste, warum ich nicht mit ihm zusammen sein konnte. Doch jedes Mal, wenn ich daran dachte, bildete sich ein stechender Kloß in meinem Hals. Und auch wenn ein Teil von mir lieber in Flensburg bleiben wollte, wurde mir klar, dass ich zurück nach Bochum musste. Schließlich war Sörens Sofa keine Dauerlösung, und die Wohnung dort musste eh aufgelöst werden.

Kurz bevor Sören von der Werft zurückkam, raffte ich mich dann doch auf und tat etwas, vor dem ich gleichermaßen Angst hatte, wie Hoffnung darauf setzte. Ich schickte meinen Comic an die Frau im Verlag, deren Kontaktdaten ich noch von damals hatte. Und danach noch an eine bekannte Literaturagentur.

Nach dem Absenden fühlte ich mich, als hätte ich zumindest einen ersten wichtigen Schritt getan. Dann machte ich einen weiteren: Ich fühlte mich schrecklich mies gegenüber dem gesamten Team der Brauerei, aber ich wusste nicht, ob ich Jens Martens jemals auf meine Mutter ansprechen würde, und diesem Mann dann jeden Tag über den Weg zu laufen, grenzte an Selbstquälerei.

Mit zittrigen Fingern tippte ich eine Nachricht an Tom.

Es tut mir unendlich leid, aber ich kann nicht länger in der Brauerei arbeiten. Jetzt, da Jens Martens zurück ist.

Unweigerlich fiel mein Blick dabei auf die Nachrichten, die er mir gesendet hatte. Einzelne Sätze sprangen mir ins Auge, ohne dass ich es wollte.

Wo bist du?

Melde dich doch!

Jens ist da. Ich muss mit dir reden!

Tom las meine Nachricht umgehend, schrieb aber nicht zurück. Wahrscheinlich war er sauer. Verständlich. Ich überlegte, noch eine weitere Nachricht zu schreiben, erlaubte mir, an all die »Was wäre, wenn …?« zu denken. Was, wenn wir uns woanders getroffen hätten? Wenn Jens Martens nicht als mein Erzeuger in Frage käme? Wenn Tom nicht so einen engen Kontakt zu ihm hätte ...? Doch nachdem mein Finger eine Zeit lang untätig über dem Display geschwebt hatte, legte ich das Telefon beiseite.

Als Sören von der Arbeit kam, erzählte ich ihm von meinem Entschluss. »Ich fahre zurück nach Bochum. Löse die Wohnung in Ruhe auf und schaue dann weiter.«

»Das klingt nicht, als ob du vorhättest zurückzukommen.«

Er reichte mir eine Schachtel mit gebratenen Nudeln vom Chinesen, die einen herrlichen Duft verströmten.

»Ich denke, ich sollte erst in Bochum alles regeln, und dann sehe ich mal, wie sehr ich die Förde vermisse«, antwortete ich mit einem bemüht fröhlichen Lächeln.

»Na, dann stehst du bestimmt irgendwann wieder auf der Matte«, erwiderte Sören scherzhaft, ehe er ernst wurde. »Aber du solltest vorher mit Tom reden. Fahr nicht einfach so.«

»Hm, ich schaue mal …«, wich ich aus.