Kapitel 29

Am nächsten Morgen war Sören schon zur Arbeit, als ich aufwachte. Tom hatte noch immer nicht auf meine Nachricht reagiert, und ich überlegte, was ich tun sollte, wenn er das heute auch nicht tat. Sollte ich dann offiziell kündigen? Schriftlich? Per Mail? Einfach meine Sachen holen und fahren? Verschlafen machte ich mir einen Kaffee, als es an der Tür klingelte.

Erst wollte ich gar nicht öffnen, ging dann aber doch in den Flur und linste durch den Spion.

Erschrocken wich ich einen Schritt zurück.

Jens Martens.

Unterdrückt keuchte ich auf.

Was zur Hölle wollte der hier? Mit geschlossenen Augen lehnte ich meine Stirn gegen die Tür und drehte dann den Schlüssel im Schloss, atmete tief durch und öffnete.

Einige Sekunden verstrichen, in denen keiner von uns ein Wort sagte und wir uns nur misstrauisch anstarrten. In meinem Magen drehte sich alles. Und obwohl ich nicht wusste, ob er mein Vater war, spürte ich eine Wut auf ihn.

»Was wollen Sie?«, fragte ich schließlich.

»Sind Sie Aline Räuber?«

Ich nickte.

Jens Martens wirkte aufgebracht, und zwischen seinen Augen hatte seine gebräunte Haut eine tiefe Furche geworfen. Er musterte mich eingehend.

»Ich wollte wissen, wer die Frechheit besitzt, solche Lügengeschichten herumzuposaunen.«

Ich zuckte zurück. »Das tue ich nicht! Es gibt vieles, was darauf hindeutet, dass mein Verdacht richtig ist, und außerdem habe ich mit niemandem darüber gesprochen, außer mit Tom und Sören.«

Eine Mieterin aus dem Obergeschoss kam die Treppe herunter und schaute uns neugierig an. Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen. »Möchten Sie kurz reinkommen? Dann kann ich es Ihnen in Ruhe erklären.«

Er verdiente meine Freundlichkeit nicht, aber ich wollte Sören keinen Ärger bereiten, indem ich eine Diskussion vor seiner Wohnungstür führte.

»Ich bitte darum!«, sagte Jens mit verkniffenem Gesichtsausdruck. Als ich zur Seite trat, schritt er an mir vorbei. Er war groß, trug ein dunkles Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln und eine Jeans. Sein Haar war mehr grau als blond.

Wir setzten uns im Wohnzimmer einander gegenüber, und die Spannung, die in der Luft lag, war fast unerträglich.

»Wer hat Ihnen davon erzählt?«, fragte ich, obwohl ich die Antwort bereits kannte.

»Tom – und ich musste mich vor meinem eigenen Teilhaber rechtfertigen, weil Sie … Sie sich bei uns eingeschlichen haben und so etwas Abstruses behaupten!«

Langsam nickte ich und schluckte bittere Galle herunter. Dabei hatte Tom mir doch versprochen, erst mal nichts zu sagen.

»Was haben Sie sich nur dabei gedacht? Ich hätte meine Anna niemals betrogen!«

Ein trauriges Lächeln verzog meine Lippen. »Würden das nicht alle Ehebrecher sagen?«

Humorlos lachte er auf, und für diesen Moment entspannten sich seine Gesichtszüge ein wenig.

»Da haben Sie wohl recht.« Er knetete seine Hände. Ein Zeichen, dass er nervös war?

»Wann soll Ihre Mutter hier gewesen sein?«

»Im Sommer 93. Wohl gleich Anfang der damaligen Ferien Ende Juni bis Mitte Juli. Im August war sie nämlich mit ihrer Pflegefamilie eine Woche in Italien.«

Er antwortete nicht gleich, schien etwas im Kopf nachzurechnen, ehe er anhob: »Unabhängig davon, dass ich ja schon gesagt habe, dass ich meine Frau nie betrogen habe, kommt es auch zeitlich überhaupt nicht hin. Zu dem Zeitpunkt waren Linn und Lara knapp ein Jahr alt, und meine Frau und ich waren ziemlich erschöpft. Zwillinge sind einfach eine Herausforderung. Damals war mein Vater noch in der Brauerei tätig, und das ermöglichte uns, in jenem Sommer zwei Monate nach Martinique zu fliegen. Unser erster Besuch dort. Es gibt unzählige Fotos, die das belegen.«

Uns schien beiden gleichzeitig derselbe Gedanke zu kommen, und ich sah, wie Jens schwer schluckte.

»Ihr Vater …«, begann ich, doch ich beendete den Satz nicht, weil mir wieder einfiel, dass sein Vater Holger mit Vornamen hieß. »Ihr Vater heißt Holger, richtig? Nun, die Briefe, die ich gefunden habe und die mir die Spur zu Ihrer Brauerei gewiesen haben, waren aber mit J unterzeichnet, und meine Tante, die mir schon vorher von ihrem Verdacht erzählt hatte, erinnert sich, dass auch die Umschläge damals mit J. Martens als Absender versehen waren. Es waren Ihre Briefe!«

Würde er es jemals zugeben? Genau vor dieser Situation hatte ich mich gefürchtet, und plötzlich verstand ich, warum meine Mutter mir nicht die Wahrheit gesagt hatte. Sie hatte mich vor dieser Zurückweisung schützen wollen, weil sie vermutlich selbst erfahren hatte, wie schmerzhaft das war.

»Mit J? Diese Briefe … Kann ich die bitte mal sehen?«

Nur zögernd kam ich der Bitte nach. Was, wenn er sie vernichten wollte? Ich holte sie aus dem Seitenfach meiner Tasche hervor und gab ihm zunächst einen.

Er nahm sich Zeit fürs Lesen, und in seinem Gesicht las ich zunehmend andere Gefühlsregungen als Wut über meine Behauptungen. Als kämen alte Gefühle hoch.

Schließlich schob er den Brief über den Tisch zurück zu mir, und ich gab ihm die anderen, beobachtete jede Regung in seiner Mimik. Die Briefe ließen ihn nicht kalt, so viel war klar. Als er den letzten gelesen hatte, lehnte er sich zurück. Glitzerten seine Augen etwa feucht?

»Und? Behaupten Sie jetzt immer noch, ich hätte alles nur erfunden, und Sie kennen meine Mutter nicht?«

»Nein und ja.« Er rieb sich übers Gesicht, ehe er sich wieder gerade setzte und dabei einen Schwall Luft ausstieß.

Mit gerunzelter Stirn wartete ich, dass er fortfuhr.

»Ich … ich hatte einen Bruder. Er hieß Jochen und war sechs Jahre jünger als ich.«

»War?«, fragte ich mit dünner Stimme und ahnte Unheilvolles.

»Er ist mit dem Motorrad verunglückt. Das ist lange her … Meine Mutter ist damals an seinem Tod zerbrochen. Während sie in den ersten Monaten nach dem Unfall noch so tat, als käme er gleich nach Hause, durfte in den Jahren danach keiner mehr in ihrer Anwesenheit über Jochen sprechen. Noch heute reden wir eher selten über ihn.« Mit trauriger Miene sah er mich an, als sei ihm dieser Umstand erst jetzt bewusst geworden.

Ich versuchte, seine Worte einzuordnen. Es hatte einen Bruder gegeben, dessen Name ebenfalls mit J begann?

»Und Sie meinen … Wann ist er verunglückt?«, fragte ich.

»Das war im Dezember 93.«

»Also … also würde es passen.«

Jens nickte. »Aber die Briefe Ihrer Mutter … sie hätten bei meinen Eltern landen müssen, egal ob sie an die Brauerei oder an mein Elternhaus gingen.«

Meine Gedanken rotierten angesichts dieser unerwarteten Wendung. »Trotzdem glauben Sie, diese Briefe hier könnten von ihm sein?«

Bedächtig nickte er. »Ich erkenne seine Handschrift wieder, auch wenn ich sie natürlich lange nicht mehr gesehen habe. Aber die Art, wie er das J geschrieben hat …« Er stockte.

»Okay, das ist …« Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Denn wenn Jens recht hatte, dann spielte es noch weniger eine Rolle, ob J. Martens mein Vater war, denn er lebte nicht mehr. Ich würde ihn nie kennenlernen können.

Enttäuscht sackte ich auf dem Sessel zusammen und gab mir Mühe, nicht in Tränen auszubrechen. Die altbekannte und vertraute Traurigkeit breitete sich in meinem Inneren aus, die doch eher eine tiefe Einsamkeit war.

»Wissen Sie was? Ich spreche mal mit meinem Vater und versuche, mehr herauszufinden. Aber für ihn ist das nach wie vor ein schwieriges Thema. Meine Mutter lebt leider nicht mehr. Vielleicht weiß meine Frau Anna noch etwas, mir ist so, als hätte Jochen damals mal von einer Frau erzählt – aber ich bekomme es nicht mehr zusammen. Die Zeit mit den Zwillingen war, wie schon gesagt, herausfordernd, da blieb anderes häufig auf der Strecke.«

Bedächtig nickte ich. »Danke.«

»Es tut mir leid, dass ich vorhin so losgepoltert habe, aber ich war einfach empört, ich liebe meine Familie sehr.«

»Mir tut es ebenfalls leid, aber Tom hätte Ihnen das gar nicht erzählen sollen. Ich wollte Ihre Familie nicht zerstören.«

»Na, so weit würde ich nicht gleich gehen. Dazu gehört schon mehr als eine solche Behauptung.« Zum ersten Mal lächelte er. Es hatte etwas Sanftes, und ich konnte mir vorstellen, dass er ein guter Vater war. Nur eben nicht meiner.

Er erhob sich. »Aber ich bin froh, dass wir das Missverständnis ausräumen konnten, und ich versuche, mehr herauszufinden.« Mit ausgestreckter Hand lächelte er mich an. Als ich meine in seine legte, hielt er sie einen Moment fest und sah mir in die Augen. »Wir können uns eigentlich auch duzen, oder? Ich bin Jens.«

»Aline«, sagte ich niedergeschlagen.

»Aline, ich habe gehört, du arbeitest bei uns.«

Tat ich das noch? »Gewissermaßen. Ich bin gestern getürmt, als ich Sie, ich meine dich, gesehen habe.«

Er lachte. »Von meiner Seite aus kannst du gern zurückkommen. Ich denke, Tom würde das freuen. Er war sehr … sagen wir mal, engagiert bei diesem Thema.«

»Ich werde darüber nachdenken«, versprach ich ihm auf dem Weg zur Tür.

»Und ich melde mich, sobald ich was herausfinde. Natürlich können wir auch einen Gentest machen, das sollte die Frage, ob du mit uns verwandt bist, ebenfalls klären.«

»Hm«, machte ich. Weil ich mir nicht sicher war, ob es für mich noch Sinn ergab, wenn Jochen nicht mehr lebte.

»Dann hättest du zumindest Gewissheit.«

Ich lächelte ihn bemüht an.

Nachdem Jens gegangen war, saß ich eine halbe Stunde auf dem Sofa und versuchte, das Gespräch zu verarbeiten.

Dann griff ich nach meinem Autoschlüssel und verließ die Wohnung.