Tag 1.215

Donnerstag, 15. November 2018

Als er ankommt, räume ich gerade das Wohnzimmer auf. Zuerst parkt er seinen grauen Wagen vor meinem Haus. Dann marschiert er den Gartenpfad entlang. Er hat einen schmalen Ordner unter dem Arm und lange Beine. In drei großen Schritten ist er an der Tür.

Um 10 : 57 Uhr läutet der groß gewachsene Mann an meiner Haustür.

Ich mag pünktliche Menschen. Viel Besuch bekomme ich nicht – meine beste Freundin Sadie mit ihren Kindern James und Matilda sowie der Lieferfahrer von Tesco sind die Einzigen, die regelmäßig an meiner Tür schellen. Sadie ist meistens spät dran und immer völlig fertig, aber sie darf das, sie ist alleinerziehende Mutter und hat einen stressigen Job – als Krankenschwester in der Kardiologie im größten Krankenhaus von Glasgow. Der Tesco-Fahrer kommt immer auf die Minute pünktlich.

Ich atme tief durch und folge meinen Füßen in den marineblauen Converse auf ihrem Weg zur Tür. Schaue auf meine rechte Hand, die nach der Klinke greift, zufasst, runterdrückt, zieht. Ich öffne die Tür, ganz langsam, und mustere ihn rasch. Kariertes Hemd, bis zum Hals zugeknöpft, unter marineblauem Dufflecoat. Ein paar Jahre jünger als ich, schätze ich. Oder vielleicht ist er auch bloß viel an der frischen Luft und in der Sonne. Er hat dunkle Haare, an den Seiten kurz, oben etwas länger. Ein freundliches Gesicht – ein offener Blick und ein herzliches Lächeln.

Wie gesagt, viel Besuch bekomme ich nicht. Aber der hier scheint in Ordnung zu sein.

Er reicht mir die Hand. »Meredith? Ich bin Tom McDermott von Helfende Hände, dem Freundesverein. Ich habe mich schon sehr darauf gefreut, Sie endlich kennenzulernen.«

Ich wünschte, das könnte ich von mir auch behaupten, aber zu den Dingen, auf die ich mich freue – und es ist, zugegeben, eine recht kurze Liste – , gehört dieser Besuch ganz bestimmt nicht. Fremde Menschen kennenzulernen war mir immer schon ein Gräuel. Vor allem solche, die mich nur besuchen, um sich zu vergewissern, dass ich Hygiene und Körperpflege nicht vernachlässige, langsam dahinsieche oder schon zum Frühstück Wodka saufe. Wenn alle Kästchen abgehakt und alle Formulare ausgefüllt sind, bin ich im Grunde genommen stinklangweilig.

Ich schüttele Tom McDermott die Hand, weil man das eben so macht. Er ist der erste Mann seit Gavin, der mich besucht – der goldige, liebenswerte Gavin, der es dann doch nicht mit meinen Albträumen aufnehmen konnte – , aber Angst habe ich keine. Tom McDermott wirkt so gar nicht bedrohlich, wie er da im karierten Hemd und Dufflecoat vor meiner Haustür steht.

Trotzdem lasse ich ihn nicht herein. Noch nicht. Und das, obwohl ich ihn, wenn auch widerwillig, selbst eingeladen habe, nachdem Sadie die Broschüre des Vereins unter einer Dose Tunnock’s Teegebäck auf meinem Küchentisch deponiert hatte und ich notgedrungen tat, was man von mir erwartete. Dieselbe Broschüre, die Tom McDermott nun aus seinem Ordner fischt und mir unter die Nase hält. Ich verschränke die Hände hinter dem Rücken, als ich die fetten schwarzen Großbuchstaben sehe: Wir nehmen Sie an die Hand . Eine kindische Trotzreaktion, die außer mir natürlich niemand bemerkt.

Mein Blick bleibt an den zwei Menschen vorne auf der Broschüre hängen. Vertraute Gesichter – ich sehe sie mehrmals am Tag, schließlich pappen sie, von einem Magneten in Herzform gehalten, seit geraumer Zeit an meiner Kühlschrankfront. Darauf zu sehen sind eine Frau mittleren Alters und ein Mann, alt genug, um ihr Großvater zu sein. Er sitzt winzig klein und verloren in einem Rollstuhl, mit milchig-trüben Augen und wirr abstehenden, fusseligen weißen Haarbüscheln auf dem Kopf, der fast zwischen den Schultern versinkt. Die beiden lächeln sich an und halten sich – getreu des Vereinsmottos – an den Händen.

»Ich dachte immer, solche Vereine seien nur was für alte Leute«, sage ich zu Tom McDermott, bereit, die Broschüre als Beweisstück A anzuführen.

»Tatsächlich sind wir für alle da, die einen Freund oder eine Freundin brauchen. Senioren, Teenager und alles dazwischen.«

»Ich habe Freunde«, sage ich nicht ganz wahrheitsgemäß.

»Aber Freunde kann man doch nie genug haben, oder?«

Darüber muss ich erst mal nachdenken. Wenn ich ehrlich bin, würde mein verschwindend kleiner Freundeskreis nicht mal als Kreis durchgehen – es sei denn, Katzen zählen auch dazu. Ich höre gar nicht richtig hin, was Tom über Lehrgänge und Risikobewertung und Verhaltensregeln erzählt, aber letztendlich siegt die Neugier, und ich lasse ihn ins Haus.

Ich konnte mein beinahe fertiges Puzzle von Gustav Klimts Der Kuss nicht vom Couchtisch räumen, also habe ich den Tisch stattdessen ganz vorsichtig an die Wand geschoben. Sollte Tom McDermott einen Tisch brauchen, können wir ja in die Küche durchgehen.

Ich lasse ihn im Wohnzimmer stehen und koche uns einen Tee. (»Kein Zucker – ich bin schon süß genug«, sagt er augenzwinkernd, und irgendwie wirkt es sehr sympathisch und kein bisschen anzüglich.) Als ich wiederkomme, kniet er vor dem Couchtisch und betrachtet fasziniert den Kuss .

»Wie lange haben Sie dafür gebraucht?«, fragt er.

»Ein paar Tage, immer mal eine halbe Stunde hier und da«, sage ich und stelle das Tablett mit dem Tee auf den Boden. Ich habe ein paar Schokoladenkekse dazugelegt.

»Wahnsinn«, sagt er, und ich denke, er meint das Puzzle, nicht die Kekse, aber dann greift er nach einem der Doppelkekse mit Schokoladencreme-Füllung und beißt ein Stückchen davon ab. Er bleibt auf dem Boden sitzen, die langen Beine überkreuzt, und spült den Keks mit einem Schluck Tee herunter. Für einen wildfremden Menschen macht er es sich in meinem Wohnzimmer fast schon unverschämt gemütlich. Ich hocke mich ans andere Ende der Couch, die heiße Teetasse angenehm warm in den Händen.

»Meredith, es ist mir wirklich ein Vergnügen, Sie kennenzulernen. Bevor wir zum angenehmen Teil übergehen, möchte ich Ihnen zuerst ein bisschen was über unseren Verein erzählen. Gegründet wurde er 1988 hier in Glasgow von einer Dame namens Ada Swinney, deren Mutter wegen fortschreitender Demenz das Haus nicht mehr verlassen konnte. Sinn und Zweck des Vereins ist heute noch derselbe wie damals – all jenen Gesellschaft, Freundschaft und Unterstützung anzubieten, die sie gerade brauchen.«

Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll, also nippe ich nur an meinem Tee.

»Das Allerwichtigste ist, dass Sie sich zu jeder Zeit wohl und sicher fühlen. Sollte das einmal nicht der Fall sein, können Sie mich einfach bitten zu gehen. Das tue ich dann auch – ohne weitere Fragen!« Er nimmt ein paar Formulare aus seinem Ordner. »Wollen wir den langweiligen Papierkram zuerst erledigen?«

Ich beantworte brav seine Fragen und nicke an den richtigen Stellen, bis die Formulare wieder da sind, wo er sie hergeholt hat.

»Sie scheinen ja ein echter Puzzle-Profi zu sein«, sagt er. »Was machen Sie sonst noch so in Ihrer Freizeit?«

Nach einigen langen Sekunden, in denen Tom McDermott mich erwartungsvoll anlächelt – er hat, wie ich zugeben muss, wirklich warme, freundliche Augen – und ich ihn ausdruckslos anglotze, sage ich schließlich: »Ich lese viel.«

»Ja, das sehe ich!« Er weist auf die Bücher, die eine ganze Wohnzimmerwand einnehmen, und springt dann auf, erstaunlich behände für jemanden mit so langen Beinen. »Eine beachtliche Auswahl haben Sie da, Meredith. Jede Menge Klassiker … Geschichte … Kunst … haben Sie auch ein erklärtes Lieblingsbuch?«

»Eine Gedichtsammlung. Emily Dickinson.« Ich trete zu ihm ans Regal und greife nach einem schmalen orangefarbenen Band, der Rücken weich und runzelig von Jahrzehnten des Gebrauchs und unzähligen Händen, viele davon weitaus älter als meine. Ich habe es in meinem Lieblingsantiquariat gekauft. Für Violet, immer dein steht handschriftlich auf der ersten Seite. Wie oft habe ich mich schon gefragt, wer Violet wohl war und wieso ich dieses Buch, das mit einer solchen Hingabe verschenkt wurde, für gerade einmal zwei Pfund habe erstehen können. Welche Geschichte auch immer dahinterstecken mag, mit diesem Büchlein in der Hand fühle ich mich sicher und geborgen.

»Ah. Sie hat eine Beerdigung im Gehirn gespürt, stimmt’s? Genial.«

»Sie können es sich gerne ausleihen, wenn Sie möchten«, höre ich mich zu meiner eigenen Verwunderung sagen.

»Liebend gerne. Danke, Meredith. Ich verspreche Ihnen, ich passe gut darauf auf und bringe es wieder mit, wenn ich Sie das nächste Mal besuche.«

Ich bin ein bisschen verdattert. Eigentlich hatte ich erwartet, er würde – höflich, aber bestimmt – ablehnen und sagen, er könne doch unmöglich mein Lieblingsbuch mitnehmen. Aber noch ehe ich mich wieder auf die Couch gesetzt habe, hat er es schon in seinen Ordner gesteckt und sich noch einen Schokoladenkeks genommen.

»Meredith, ich weiß, Sie haben das Haus schon seit geraumer Zeit nicht mehr verlassen«, sagt er.

»Eintausendzweihundertfünfzehn Tage«, sage ich.

»Eine ziemlich lange Zeit«, sagt er wieder.

»Tja, für mich ist sie nur so verflogen.«

»Wir brauchen nicht darüber zu reden, wenn Sie das nicht möchten.« Seine Stimme ist weich und freundlich, ein scharfer Kontrast zu meinem harschen Ton. »Ich bin hier, um Sie besser kennenzulernen. Ich möchte mehr über Sie und Ihr Leben erfahren, was Sie mögen und was nicht, wie Sie Ihre Zeit verbringen. Und … na ja, vielleicht finden wir auch gemeinsam einen Weg für Sie zurück in die Welt?«

»Ich bin in der Welt«, erkläre ich trotzig.

»Ja, sind Sie. Aber …«

»Und ich habe eine Katze. Fred.«

»Fred? Rogers oder Astaire?« Er grinst.

Ich nicht. »Bloß Fred.«

»Ich mag Katzen«, sagt er. Und allmählich kommt mir der Verdacht, Tom McDermott wird einfach alles gut finden, was ich sage. Mein Puzzle findet er den Wahnsinn. Er mag Emily Dickinson und Katzen. Und so langsam bereue ich es, ihm meine liebste Gedichtsammlung überlassen zu haben. Gut möglich, dass ich ihn – oder den heißgeliebten, verblichenen orangeroten Einband – nie wiedersehe. Ich überlege, ob ich das Buch zurückverlangen kann. Vielleicht muss er irgendwann aufs Klo und ich kann es heimlich aus dem Ordner mopsen und wieder auf das zweite Brett von oben mogeln, dort, wo es hingehört.

Aber er macht keinerlei Anstalten, aufs Klo zu müssen, und redet stattdessen lieber über Katzen.

»Und was ist, wenn Fred mal krank wird?«, will er wissen.

Tom McDermott unterschätzt mich. Die Fragen habe ich alle schon tausendmal gehört.

»Fred war noch nie krank«, erkläre ich stolz. »Aber für den Notfall habe ich meine beste Freundin Sadie. Sadie würde Fred dann für mich zum Tierarzt bringen.«

»Ach, wunderbar. Und was macht Sadie sonst noch so für Sie?«

»Einmal im Monat holt sie die Medikamente für mich ab. Mehr nicht. Sie ist meine Freundin, nicht meine Betreuerin.« Meine Schultern sind angespannt. »Sonst brauche ich nichts.«

»Und Sie arbeiten … in Vollzeit?«

»Ich bin freiberufliche Texterin und Autorin, das kommt also auf die Auftragslage an. Aber ich habe genug zu tun.«

»Als Autorin? Klingt spannend.«

»Eigentlich nicht. Ich veröffentliche ja keine Artikel in der New York Times oder so was. Ich schreibe bloß Werbetexte und dergleichen, Webinhalte für Unternehmen.«

»Glauben Sie mir, das ist superspannend verglichen mit dem, was ich früher so gemacht habe.« Er zieht eine Grimasse. »Ich wurde letztes Jahr von meinem Job in der Finanzabteilung eines großen Konzerns ›freigestellt‹. Darum mache ich gerade eine kleine Auszeit und überlege mir, wie es weitergehen soll.«

Ich nicke bloß. Smalltalk war noch nie meine Stärke.

»Und Ihre Familie, Meredith? Kommt die Sie oft besuchen?«

Mein Magen schnürt sich zusammen. Hastig trinke ich einen großen Schluck Tee.

»Ist kompliziert«, brumme ich.

»Kompliziert, hm. Das kenne ich«, sagt er verständnisvoll. »Aber wir müssen auch nicht darüber reden, Meredith.«

»Meine Mutter lebt in der Nähe. Und meine Schwester auch. Fiona. Fee. Sie ist anderthalb Jahre älter als ich.«

»Und wie ist Ihre Schwester so?« Eigentlich eine ganz normale Frage.

»Anders als ich. Aber ich weiß eigentlich gar nichts mehr über sie. Wir reden schon lange nicht mehr miteinander. Ich habe sie und meine Mutter schon ewig nicht mehr gesehen.«

»Das klingt wirklich kompliziert«, meint Tom leise. Dann wartet er ab, und weil er mir Zeit lässt, ertappe ich mich tatsächlich bei dem Gedanken, ob ich ihm noch mehr erzählen soll. Aber mir fehlen schlicht die Worte, also gehe ich stattdessen in die Küche und hole noch ein paar Kekse.

Eine halbe Stunde später stehe ich an der Haustür und warte darauf, dass Tom McDermott sich verabschiedet und in drei großen Schritten über meinen Gartenpfad marschiert, in sein graues Auto steigt und wegfährt. Ich bin hundemüde von alldem ungewohnten Reden, all den Fragen, all der Sorge um mein Buch, all dem Vorgeben, mein Leben sei eine Zehn, wo es an den meisten Tagen doch nur mit Müh und Not an einer Sechs schrammt.

Er lässt sich Zeit und hat offensichtlich keine Eile zu gehen. Er hat sich bereits mehrfach für meine Gastfreundschaft bedankt, mir in die Augen geschaut und gesagt, dass er nächste Woche wiederkommt, wenn ich nichts dagegen habe. Fred beobachtet uns von seinem Lieblingsplatz, dem gemütlichen Sessel auf dem oberen Treppenabsatz. Für ihn ist Tom auch der erste Mann im Haus. Ich frage mich, ob Katzen so was merken. Irgendwie bin ich ganz froh, dass er nicht runtergekommen ist, um unseren Besucher zu begrüßen.

»Und denken Sie daran, Sie sind zu nichts verpflichtet«, sagt Tom. »Wenn Ihnen meine Witze auf den Keks gehen oder Sie es sich auf Dauer nicht leisten können, dass ich Ihnen dauernd das ganze Gebäck wegfuttere, können Sie mir jederzeit sagen, ich soll Leine ziehen. Ich nehme es Ihnen auch nicht übel, versprochen.«

»Sie haben mein Lieblingsbuch eingepackt, wir werden uns also wohl oder übel wiedersehen müssen.«

»Stimmt auch wieder.« Er lächelt. »Und ich freue mich schon auf das neue Puzzle, an dem Sie dann bestimmt sitzen.«

»Ein Fliesenmosaik«, sage ich. »Ziemlich verzwickt.«

»Na dann, ich kann es kaum erwarten. Bis dahin, Meredith.«

Ich hebe die Hand, um ihm nachzuwinken, aber er bleibt in der Tür stehen.

»Nur noch eins, Meredith … wenn Sie nichts dagegen haben? Ich frage mich, es muss doch bestimmt irgendetwas geben, das Sie früher gemacht haben, das Ihnen heute fehlt? Etwas, das man zu Hause nicht machen kann?«

Es hat angefangen zu regnen. Tom McDermott knöpft sich den Dufflecoat zu. Hinter seinem Kopf ziehen dichte graue Wolken über den spätnachmittäglichen Himmel auf mich zu. Ich bemerke sie, ohne hinzuschauen. Unauffällig schiebe ich mich rückwärts durch die Tür, weg von alldem da draußen.

»Schwimmen. Ich liebe Schwimmen«, sage ich leise.

»Ich bin Nichtschwimmer«, gesteht er. »Ein bisschen Paddeln kann ich, das war’s auch schon. Egal …« Er zieht den Mantelkragen enger um den Hals und schüttelt sich einen einzelnen Regentropfen von der Nase. »Wenn es so weitergeht, muss ich nach Hause schwimmen. Auf Wiedersehen, Meredith. Machen Sie es gut.«

»Sie auch, Tom McDermott«, flüstere ich, während ich die Tür schließe.

Nachts träume ich, ich paddelte mit Emily Dickinson über einen riesig großen See. Tom McDermott und der alte Mann von der Broschüre sitzen am Ufer und schauen uns zu und winken und mümmeln Schokoladenkekse.