1993

»Warum gibt es eigentlich keine Fotos von uns als Babys?«, fragte ich Fiona.

»Gibt es doch«, sagte sie.

»Gibt es?«

»Mama hat eine Schachtel im Schrank. Mit lauter altem Kram drin. Polaroids. Du und ich in der Badewanne. Du warst ein richtiger Mops.«

»Die will ich sehen«, sagte ich und überhörte den Seitenhieb.

Ich war vierzehn und hatte zum ersten Mal einen Freund. Oft gingen wir zu ihm nach Hause, und ich verbrachte viel Zeit mit ihm und seiner Familie. Unwillkürlich fing ich an, meine eigene Familie etwas kritischer unter die Lupe zu nehmen. Normal war, morgens am Frühstückstisch miteinander zu reden. Normal war, die Wahrheit zu sagen, auch wenn sie wehtat. Normal waren Familienfotos. Bei Jamies Mum waren sie überall: auf dem Kaminsims, mit Magneten an die Kühlschranktür geheftet, liebevoll in Alben geklebt und bei jeder Gelegenheit hervorgekramt, zum peinlichen Entsetzen der Kinder. Die Wand neben der Treppe war eine kleine Galerie, wo sämtliche Studiofotos (Familienporträts, Abschluss- und Hochzeitsfotos) gut sichtbar hingen, liebevoll in aufeinander abgestimmten Silberrahmen arrangiert. Ich sah Jamies Mum sie zurechtrücken, wenn sie die Treppe hoch- oder runterging, auch wenn sie gar nicht schief hingen. Diese Fotos faszinierten mich am meisten. Nie wäre es mir in den Sinn gekommen, Leute könnten tatsächlich andere Leute dafür bezahlen, sich in ihrem besten Sonntagsstaat und mit frisch frisierten Haaren vor pastelligen Hintergründen fotografieren zu lassen. Das Foto von Jamie als Kleinkind auf dem Knie seines Dads, daneben seine Mum und seine große Schwester, war für mich wie ein Fenster in eine andere Welt. Alle strahlten fröhlich in die Kamera. Keine leeren Augen. Keine kaum verhohlene Verachtung.

Ich war länger mit Jamie zusammen, als ich es hätte sein sollen. Aber ich war glücklich, wenn ich bei seiner Familie war. Als wir dann schließlich doch Schluss machten, fehlte seine Mum mir mehr als er. Manchmal machte ich auf dem Weg zu meinem Job im Schnellimbiss einen kleinen Abstecher an ihrem Haus vorbei. Sogar hinter zugezogenen Vorhängen konnte ich noch die wohlige Wärme im Haus spüren. So was wünschte ich mir von ganzem Herzen.

»Erzähl mir von den Fotos«, verlangte ich und schaltete den Fernseher aus.

Fiona seufzte, drehte sich aber mit verschränkten Armen auf der Couch zu mir um. »Warum? Die sind steinalt.« Aber ich merkte gleich, dass sie nur so gleichgültig tat. Sie hatte eine diebische Freude daran, etwas zu wissen, was ich nicht wusste. Wir hatten kaum Geheimnisse voreinander, noch nicht. Solange ich denken konnte, teilten wir uns das Zimmer. Ich wusste, dass sie freitags ihren besten BH trug (lila, mit Spitze). Ich wusste, dass sie manchmal im Bett lag und weinte, wenn sie glaubte, ich schliefe.

Ich zuckte die Achseln. Was sie konnte, konnte ich schon lange. »Mach, was du willst. Dann suche ich sie eben alleine.«

Sofort war meine Schwester auf den Beinen. »Ich zeige sie dir«, rief sie.

Leise schlichen wir uns nach oben. Ich weiß auch nicht, warum. Mama war beim Bingo und würde frühestens in ein paar Stunden nach Hause kommen. Trotzdem kam es mir so vor, als wäre sie da. Sie war die knarzende Treppenstufe, der rappelnde Fensterrahmen. Sie war überall und nirgends und alles zugleich.

Seit Monaten schon war ich nicht mehr in ihrem Schlafzimmer gewesen. Es roch nach Nagellack und Zigaretten, und der Spiegel der Frisierkommode war verstaubt. Ich drehte ihm den Rücken zu. Es war ein komisches Gefühl, mich so in ihrem Zimmer zu sehen. Willkommen fühlte ich mich hier nicht. Ich ging lieber zu meiner Schwester, wenn ich mal wieder ins Bett gemacht oder einen Albtraum gehabt hatte.

»Komm schon«, drängte Fiona ungeduldig und zog mich zum Kleiderschrank. Auf Zehenspitzen versuchte sie etwas aus dem obersten Fach zu angeln und zog schließlich eine Schachtel herunter.

Eigentlich hatte ich alles ganz in Ruhe durchgehen wollen, aber meine Schwester hatte anderes im Sinn. Kurzerhand nahm sie den Deckel von der Schachtel und drehte sie um. Zettel und Fotos flatterten auf den Boden.

»Was soll das?«, kreischte ich entsetzt und kniete mich hin, um alles wieder einzusammeln.

Fiona lachte nur. »Hier, schau mal.« Sie hielt mir ein Foto vor die Nase. »Ein dicker Mops in der Wanne.«

Ich riss es ihr aus der Hand und beguckte mir die beiden kleinen Mädchen in unserem avocadogrünen Achtzigerjahre-Badezimmer. Ich saß in der Wanne, die pummeligen Ärmchen und das runde Bäuchlein glänzend vor Nässe. Ich schaute nicht zum Fotografen hinter der Kamera, sondern sah meine Schwester an, und ich lachte. Fiona war bei mir in der Wanne, aber sie stand da, die Arme in die Luft gereckt, und posierte für die Aufnahme. Ich war klein und moppelig, sie groß und dünn. Eine Erinnerung: wir beide vor einem elektrischen Kaminofen, in warme Handtücher gewickelt, wie wir etwas Heißes, Süßes aus Bechern schlürfen. Und dann, wie Fiona nach dem Abtrocknen das Handtuch fallen lässt, auf der Stelle herumhopst und kreischt: »Zähl meine Rippen! Zähl meine Rippen!« Ich weiß nicht mehr, ob sie mich damit meinte oder jemand anderen. Ich kann mich nicht daran erinnern, ob noch jemand bei uns war, aber wir müssen noch zu klein gewesen sein, um uns den heißen Kakao selbst zu kochen. Jemand muss uns die Handtücher vorgewärmt und uns Nacktfrösche dann eingewickelt haben wie menschliche Rouladen. Aber da klafft eine Lücke in meiner Erinnerung.

Ich wollte Fiona nicht fragen, ob sie noch wusste, wer sich um die heißen Getränke und das wärmende Feuer gekümmert hatte. »Erinnerst du dich noch daran, als das gemacht wurde?«

»Nö.« Fiona langweilte sich längst und spielte mit der Schminke auf Mamas Frisierkommode herum. Gerade hatte sie den roten Lippenstift bis zum Anschlag herausgedreht und schminkte sich damit den Mund, den Blick fest auf ihr Spiegelbild geheftet.

Ich legte das Badewannenbild beiseite. Das würde ich mitnehmen, hatte ich beschlossen. Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass Mama sich diese Erinnerungen an längst vergangene Zeiten je ansah, geschweige denn merken würde, wenn eins der Fotos fehlte. Meine Wangen fingen an zu glühen; ich war wütend. Fotos gehörten nicht in alte Schuhkartons gestopft und hinten im Schrank versteckt. Die gehörten gerahmt auf Kaminsimse oder auf Kühlschranktüren oder eingeklebt in Fotoalben und allzeit zur Hand. Ich fragte mich, warum sie die überhaupt aufhob. Ob sie sie gemacht hatte? Ich konnte mich nicht daran erinnern, dass sie uns je zugerufen hätte, für ein Foto zu lächeln oder in die Kamera zu gucken. Ich konnte mich nicht daran erinnern, dass wir uns je um ein Polaroid gedrängt und gebannt darauf gewartet hätten, dass geisterhafte Gesichter und Gliedmaßen wie Schemen auf dem Bild erschienen. Ich konnte mich auch an nichts erinnern, was es wert gewesen wäre, fotografisch festgehalten zu werden. Oder auch bloß an einen stinknormalen Tag, der irgendwie schön und besonders gewesen wäre, im Kleinen, ganz unspektakulär.

Ich widmete mich wieder den Fotos. Viele Schwarz-Weiß-Bilder von Leuten, die ich nicht kannte. Auf manchen standen hinten Namen und Datum, die verwackelte, krakelige Schrift unleserlich verblichen. Da war eine bildhübsche Frau im Brautkleid, am Arm eines Mannes, der übers ganze Gesicht strahlte. Hinten stand bloß 1948 drauf. Ich rechnete rasch nach. Mama war Jahrgang 1957.

»Ich glaube, ich habe unsere Großeltern gefunden.«

Fiona hörte auf, sich aufzubrezeln, und kniete sich zu mir. Sie roch nach Mamas Shalimar. Ich hasste den Geruch, ich musste davon würgen.

»Sie hieß Maria«, sagte Fiona und folgte der Silhouette der Braut mit dem Zeigefinger.

»Echt? Woher weißt du das?« Ich war stinksauer, dass Fiona Sachen wusste, von denen ich nichts ahnte. Sie hatte von den Fotos gewusst, sie wusste, wie unsere Großmutter geheißen hatte. Was wusste sie sonst noch alles?

»Ich hab Mama mal über sie reden gehört«, sagte sie. Dann zuckte sie mit den Schultern. »Kann aber auch sein, dass ich das bloß geträumt hab.«

Eigentlich wollte ich ihr böse sein, dass sie das alles nicht so ernst nahm wie ich, aber ich konnte es nicht. Ich verstand sie nur zu gut. Meine Erinnerungen waren genauso düster und unfassbar. Ich wusste nicht, was davon wirklich war und was nicht.

»Erinnerst du dich noch, wie wir in warme Handtücher gewickelt vor einem elektrischen Ofen gesessen und irgendwas Heißes aus großen Bechern getrunken haben?«

Fiona guckte mich ganz komisch an. »Ja. Ja, daran erinnere ich mich«, rief sie. »Heißer Kakao, glaube ich.« Und irgendwas an ihrem Blick, der seltsam ungerichtet schien, verriet mir, dass sie die Wahrheit sagte.

Ich grinste sie an. »Ist mir eben wieder eingefallen«, sagte ich.

»Haben wir immer gemacht nach dem Baden«, sagte Fiona. »Wir haben vor dem Ofen gesessen, damit wir nicht frieren. Es war nicht immer alles schlecht, weißt du.«

Ich sagte dazu nichts, ich wusste es nämlich nicht. Aber ich schwelgte eine Weile in den Erinnerungen meiner Schwester, wie liebevolle Hände uns behutsam aus der Badewanne hoben, uns umarmten und abtrockneten und in Handtücher wickelten, uns Kakao anrührten und den Ofen anmachten. Ich schloss die Augen und versuchte, Mama in dieser Erinnerung zu finden, aber da waren nur die knochigen Knie meiner Schwester an meinem Bein, ihre großen Zehen, mit denen sie neben meinen viel kleineren herumwackelte, und unsere nackten Füße, die sich in der wohltuenden Wärme der glühenden Heizstäbe rekelten.

In den kommenden Wochen schlich ich mich, wann immer Mama beim Bingo war oder mit Tante Linda im Pub, in ihr Schlafzimmer und kramte in der Schuhschachtel mit den Fotos. Es gab bloß eine Handvoll von mir und Fiona, immer wir beide gemeinsam, bis auf zwei Fotos von Mama mit neugeborenen Babys im Arm, die dann wohl wir zwei sein mussten. Auf dem einen stand sie vor einem Rosenstrauch in einem unbekannten Garten. Es hätte auch irgendein beliebiges Baby sein können – das Gesicht war nicht zu erkennen, man sah nur ein winziges Füßchen, das aus einer Falte in der Decke hervorlugte. Mama trug Kitten Heels und eine große Sonnenbrille, sie war dünn und hatte eine Zigarette in der Hand. Ihr Lächeln wirkte ein bisschen schief.

Auf dem anderen saß sie gegen orangerote Kissen gelehnt auf einer braunen Couch. Auf diesem war das Gesicht des Babys besser zu erkennen, ganz rot und runzelig und verzerrt. Mama schaute von der Seite hoch, mit blassem Gesicht und zerzausten Haaren. Müde sah sie aus. Ich glaube, sie wollte sich lieber nicht fotografieren lassen.

Ich wusste nicht, welches der beiden Babys ich war und welches Fiona. Wir sind nur achtzehn Monate auseinander, an Mamas Alter konnte man es also nicht erkennen. Ich nahm an, das auf dem fröhlichen, lächelnden, rauchenden Bild musste Fiona gewesen sein und das auf dem müden, blassen ich. Sie hat immer gesagt, ich sei ein schwieriges Kind gewesen, also wäre es nur logisch, wenn das mit dem roten, verzerrten Gesicht ich wäre.

Eines Nachts schlich ich mich in Mamas Zimmer, während Fiona gerade Top of the Pops schaute. Kaum hatte ich die Schranktür aufgemacht, merkte ich, dass irgendwas anders war als sonst. Alles war umgeräumt, viel ordentlicher. Und die Schachtel war weg. Zum Glück hatte ich noch das Foto von Fiona und mir in der Badewanne. Ich versteckte es unter der Matratze. Ein kleines Stück Kindheit war mir geblieben. Ein kleines Stück vom Glück.