Tag 1.227

Dienstag, 27. November 2018

An meiner Haustür hängt ein Schild mit der Aufschrift: Keine unangemeldeten Besucher .

»Gilt das auch für mich?«, fragte Sadie mich mit hochgezogenen Augenbrauen, als sie es das erste Mal sah.

Ich ignorierte sie.

»Schon ziemlich … polterig«, murmelte sie. Ich drehte mich um und ließ sie einfach stehen.

Am meisten hasse ich die Türklingel. Mit jedem Läuten erinnert sie mich unüberhörbar an die große, weite Welt da draußen, zu der ich längst nicht mehr gehöre. Sadie kommt eigentlich nie unangemeldet, und außerdem klingelt sie nicht. Sie klopft laut und vernehmlich an, so ein energisches Ra-ta-ta-ta-ta mit dem Knöchel, und ich weiß sofort, dass sie es ist.

Mein polteriges Schild funktioniert allerdings ganz gut, meistens jedenfalls. Die Türklingel schellt nur selten, wenn ich es nicht erwarte, wenn keine Lieferung ansteht, für die es meine Unterschrift bräuchte oder die nicht in den Postkasten passt. Aber nach dem ersten Schreck kann ich das Gebimmel unmöglich ignorieren, es könnte ja jemand sein, der mir wichtig ist. Oder mal war.

Heute nicht. Aber es ist auch niemand, der mir doppeltverglaste Fenster verkaufen will. Es ist ein Junge mit Zahnlücke und einem großen Eimer in der Hand. Und er kommt mir irgendwie bekannt vor.

»Hi, Lady.« Grinsend guckt er zu mir hoch. »Ich wohne gegenüber. Darf ich Ihnen für ’nen Fünfer das Auto waschen?«

Ich konzentriere mich auf das sommersprossige Gesicht, zwinge die störende Straße, im Hintergrund zu verschwinden. »Tja, also, danke für das Angebot … aber ich habe gar kein Auto.«

Seine Augen werden groß und rund. »Sie haben kein Auto?«

»Nein.« Ich lehne mich gegen den Türrahmen.

»Wie, echt jetzt?« Ungläubig sieht er sich um, als müsse irgendwo ein verstecktes Auto stehen, das mich Lügen straft.

Ich lächele. »Echt jetzt. Kein Auto.«

»Wow. Und wie kommen Sie dann rum? Also, zur Arbeit und so?«

»Ich arbeite von zu Hause.«

»Wirklich?«

»Ach, jetzt komm – du musst doch schon mal was vom Internet gehört haben. Homeoffice und so.«

»Klar. Aber meine Mum schaltet das WiFi immer aus, wenn mein Bruder und ich zu lange am Bildschirm hängen.«

Er lacht. Und ich schaue in sein sommersprossiges Gesicht und will ihm am liebsten die Wahrheit sagen – dass ich schon seit Jahren nirgendwo mehr war, dass meine Spaziergänge sich auf das Haus beschränken. Aber das geht nicht, sonst bin ich auf alle Ewigkeit die komische Eule von gegenüber, die keinen Schritt vor die Tür setzt. Lieber soll er glauben, dass ich zum Bahnhof laufe und am Bahnsteig stehe und warte, so wie jeder andere Mensch auch. So wie ich es früher gemacht habe, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden.

»Dann wohnst du also gegenüber?«

»Ja.« Er weist auf das Haus mit der japanischen Zierkirsche im Garten.

»Ich liebe euren Kirschbaum!«, sage ich zu ihm. »Der ist so schön. Immer, wenn er blüht, weiß ich, dass es Frühling wird. Manchmal setze ich mich ins Wohnzimmer, nur um ihn zu bestaunen.«

»Wirklich?« Er kneift die Augen zusammen und guckt mich skeptisch an.

»Sicher. Also … wenn ich gerade nicht arbeite oder so. Aber sag mal, warum wäschst du denn Autos? Sparst du auf irgendwas?«

»Meine Mum hat nächste Woche Geburtstag. Ich will ihr eine Halskette kaufen. Mit Herzanhänger. Und einem kleinen blauen Stein. Die hat sie im Internet gesehen.«

Ich kann sie mir genau vorstellen – zierlich und elegant, wie sie um den Hals einer Frau liegt, die ihren kleinen Sohn fest in den Armen hält. »Klingt toll. Das ist aber nett von dir, deiner Mum so ein schönes Geschenk zu machen.«

Er zuckt die Achseln. »Die ist ziemlich teuer. Darum muss ich auch eine Menge Autos waschen. Ich werd dann mal weiter. Bye, Lady.«

»Du kannst Meredith zu mir sagen.«

»Seltsamer Name.«

Ich lache. »Findest du? Wie heißt du denn?«

»Jacob Alistair Montgomery«, erklärt er mit stolzgeschwellter Brust. »Ich bin zehn Jahre alt.«

»Also gut, Jacob Alistair Montgomery. Pass auf, ich habe zwar kein Auto, aber wie wäre es, wenn du stattdessen meine Haustür und die Stufe davor sauber machst?«

»Ähm … Okay. Klar.«

»Nimmst du eben deine Sachen aus dem Eimer, dann hole ich dir Wasser. Einverstanden?«

»Einverstanden.«

Kurz darauf lasse ihn dann allein mit warmem Wasser, Spüli und Schwamm herumhantieren. Setze mich ans Fenster und nehme mein Buch in die Hand, aber mein Blick geht immer wieder zu dem japanischen Kirschbaum in Jacobs Garten. Noch steht er winterlich kahl da, aber bald wird es Frühling, und dann kommen über Nacht die Blüten. Immer wieder stehe ich staunend vor diesem kleinen Wunder und kann kaum glauben, wie er an einem Tag noch vollkommen nackt und bloß dasteht und am nächsten schon in voller Blütenpracht prangt.

Zehn Minuten später schellt es an der Tür. Gründlich begutachte ich Jacobs Arbeit, sehe mir die Tür an und bücke mich sogar, um die Stufe in Augenschein zu nehmen.

»Gut gemacht, Jacob. Ich bin beeindruckt.«

»Das Ding habe ich auch gleich mitgeputzt.« Er weist auf meinen Postkasten. »Da war Vogelkacke drauf.«

»Na, danke auch. Ich wusste gar nicht, dass meine Tür so fies verdreckt war. Ich bin wirklich froh, dass du vorbeigekommen bist.« Ich ziehe einen Fünf-Pfund-Schein aus der Gesäßtasche meiner Jeans und gebe ihn Jacob.

»Danke.« Grinsend guckt er zu mir hoch. »Mein erster Fünfer.«

»Dann bist du zuerst zu mir gekommen?«

»Nein, zuerst habe ich nebenan geklingelt, aber da hat keiner aufgemacht.«

»Vielleicht war niemand zu Hause? Oder sie haben die Klingel nicht gehört?«

»Kann sein. Oder sie haben einfach keine Manieren.«

»Soll ich dir den Eimer noch schnell ausspülen, ehe du gehst?«

»Ja. Danke, Meredith.«