Sonntag, 1. Dezember 2018
Celeste und ich chatten inzwischen beinahe jeden Tag miteinander, manchmal bloß ein paar Minuten, manchmal auch länger. Sie ist Friseurin und arbeitet in einem angesagten, trendigen Salon in der Innenstadt und amüsiert mich mit den Geschichten ihrer Kundinnen, die ihr freimütig von ihren Eheproblemen erzählen, und den B-Promis, die immer enttäuscht sind, wenn sie das gemeine Volk am Waschbecken nicht erkennt. Sie sagt immer, dass sie sich fast wie eine Therapeutin vorkommt, wenn sie ihre Kundinnen nach ihren Urlaubsplänen fragt und die ihnen keine Stunde später ganz unverblümt gestehen, mit dem Nachbarn ins Bett zu gehen.
Ich erzähle ihr von dem neuen Projekt für einen Designmöbelhersteller, an dem ich gerade arbeite. Gestern Abend habe ich bis in die Puppen dagesessen und verzweifelt versucht, mir fünfhundert Wörter über eine Chaiselongue und weitere vierhundert über Samtlampenschirme abzuringen, was gar nicht so leicht ist, wie es sich anhört. Celeste sagt, sie beneide mich ein bisschen, weil ich meine eigene Chefin bin und alles. So habe ich das noch nie gesehen, und es ist mal ganz schön, die Sache aus ihrer Sicht zu betrachten, auch wenn sie bloß einen Bruchteil der Geschichte kennt. Niemand im Forum weiß, wie schlimm es wirklich um mich und mein Klosterleben steht. Sie wissen, dass ich ziemlich zurückgezogen lebe, aber die ganze Wahrheit habe ich bisher niemandem erzählt. Je öfter ich mich mit Celeste unterhalte, desto dringender möchte ich mich ihr anvertrauen, aber umso schwerer fällt es mir auch. Unsere noch ganz frische Freundschaft ist so ganz anders als alle anderen Beziehungen in meinem Leben, denn es gibt kein Mitleid und keine Verpflichtungen. Sadie ist meine beste Freundin, aber ich weiß, dass sie sofort ein schlechtes Gewissen bekommt, wenn sie mal keine Zeit hat vorbeizuschauen, oder abends zu müde ist, um mehr als ein paar Textnachrichten zu schreiben. Und so liebenswürdig Tom auch sein mag – er ist vertraglich ja auch dazu verpflichtet, jede Woche am selben Tag zur selben Zeit auf meiner Couch zu sitzen.
Ich weiß, irgendwann werde ich Celeste die ganze Wahrheit sagen müssen, aber noch verdränge ich den Gedanken daran so gut es geht. Sie selbst scheint hingegen überhaupt kein Problem damit zu haben, mir ihr Herz auszuschütten.
CATLADY 29: Meredith, ich bin sexuell belästigt worden. O Gott. So, jetzt ist es endlich raus. Du bist die Erste, der ich das erzähle.
Mein Mund wird ganz trocken.
PUZZLEGIRL : O Gott. Wann?
CATLADY 29: Vor ein paar Wochen.
PUZZLEGIRL : O nein, Celeste. Ist alles okay? Entschuldige, blöde Frage …
CATLADY 29: Es geht schon. Hätte schlimmer sein können. Ich konnte mich losreißen.
PUZZLEGIRL : Du bist nicht zur Polizei gegangen?
CATLADY 29: Nein. Ich habe es niemandem erzählt. Nur dir.
PUZZLEGIRL : Du bist echt mutig, Celeste.
CATLADY 29: Ich komme mir aber gar nicht mutig vor. Ich fühle mich völlig verloren, Meredith. Ich denke an nichts anderes mehr. Und dann muss ich immer weinen.
Ich schlucke gegen den Kloß im Hals an.
PUZZLEGIRL : Was auch immer du gerade empfindest, Celeste, ist absolut normal. Es tut mir so leid, dass du das durchmachen musst, wirklich. Was willst du denn jetzt machen? Ihn anzeigen?
CATLADY 29: Keine Ahnung. Ich wollte es bloß jemandem erzählen. Das war ein riesengroßer Schritt. Danke fürs Zuhören, Meredith. Dafür, dass du da bist.
PUZZLEGIRL : Ich bin immer für dich da, Celeste. Und das meine ich ganz ernst. Ich wünschte, ich könnte dir irgendwie helfen. Kann ich irgendwas tun?
CATLADY
29: Ganz ehrlich, mit dir zu reden hilft mir wirklich sehr. Es geht mir schon viel besser. Also bleib einfach, wie du bist.
PUZZLEGIRL
: Ich gebe mir Mühe.
CATLADY 29: Ich muss Schluss machen. Ich bekomme gleich neue Möbel geliefert.
PUZZLEGIRL : Doch nicht etwa eine Chaiselongue? Falls du einen guten Tipp brauchst …
CATLADY
29:
Ich kann immer noch nicht glauben, dass du mal direkt unter mir gewohnt hast. Es kommt mir irgendwie vor, als hätte das mit uns so kommen müssen.
Ich logge mich aus, koche mir einen Tee, setze mich mit Fred auf die Couch und denke an Celeste, die so viel mutiger ist als ich.
Ich kann sie mir gerade genau vorstellen, denn ich kenne jeden Quadratzentimeter ihrer Wohnung in- und auswendig. Ich frage mich, ob ihr Bett auch unter dem Fenster steht, so wie meins damals. Wie gerne habe ich mich an verregneten Tagen unter die Bettdecke gekuschelt und gelesen und auf die Regentropfen gelauscht, die gegen die Scheiben trommelten. Hoffentlich ist ihr Schlafzimmerfenster dichter als meins. Wenn es wie aus Eimern schüttete, sickerte dort, wo Glas und Rahmen sich trafen, ein dünnes Rinnsal herein.
Aber allen Schönheitsfehlern zum Trotz liebte ich meine kleine Wohnung in 48A. Vierzehn Jahre lang habe ich da gewohnt, wenn auch nicht unbedingt ganz freiwillig; es dauerte eine Weile, bis ich die Anzahlung für etwas Eigenes zusammengespart hatte – dieses Häuschen, das letzte, das Fee und ich uns nach einem langen Tag voller Enttäuschungen angesehen hatten.
»Riecht voll muffig«, hatte Fee mir zugezischt, kaum, dass wir zur Haustür hereingekommen waren. »Und der Türrahmen fällt schon auseinander.«
Entschuldigend hatte ich dem Immobilienmakler zugelächelt. »Aber ein echtes Schnäppchen«, raunte ich ihr kaum hörbar zu. »Du musst mehr das große Ganze sehen.«
»Guck dir nur die Wand an. Da sind bestimmt zwölf Schichten Tapete drauf.«
Ich ignorierte sie geflissentlich und fing an, Türen aufzumachen und in die Zimmer zu spähen. »Im Wohnzimmer ist ein Erkerfenster mit Sitzbank!«
Fee verdrehte bloß die Augen. »Voll das Alte-Tanten-Haus.«
Ich setzte mich auf den Alte-Tanten-Platz im Erkerfenster und ließ mir die Sonne auf den Rücken scheinen. Mehr brauchte ich nicht zu sehen. Ich war zu Hause.
Fiona hatte sich geirrt. Im Flur klebten keine zwölf Lagen Tapete an der Wand. Aber immerhin vier. Mehr als genug. Zehn Sonntage brauchte ich, um auch noch den letzten Rest davon abzukratzen, die Wände zu säubern und in einem Farbton zu streichen, der mal bläulich schimmerte und mal lavendellila, je nach Tageszeit.
Im Wohnzimmer, wo die altersmüden, schmuddeligen Wände früher einmal cremeweiß gestrichen worden waren, machte ich es umgekehrt. Ich entschied mich für eine verwegene Mustertapete – abstrakte Schnörkel in verschiedenen Blautönen und zarte kupferfarbene Umrisse, die manchmal wie Blüten aussahen und manchmal wie geheimnisvolle Seekreaturen aus den Tiefen des Meeres. Ich war mir nicht mal sicher, ob ich sie überhaupt mochte, aber ich hatte so etwas noch nie gesehen, und das war mir Grund genug, sie mit nach Hause zu nehmen. Ich konnte eigentlich gar nicht tapezieren, aber zum Glück sollte die erste Wand, an der ich mich ausprobierte, später fast ganz hinter meinen Bücherregalen verschwinden. Bei der zweiten Wand hatte ich dann den Bogen raus. Ich tapezierte meist abends nach getaner Arbeit, bis mir die Arme schwer wurden und ich irgendwann aufhören musste.
Was für ein unbeschreibliches Glücksgefühl es war, ein ganzes Zimmer voller Bücher zu haben. Die losen Fäden an den dicken Polstern meines Fenstersitzes schnitt ich ab und legte ein Schaffell über die ausgeblichenen Stellen.
Die Vorbesitzer hatten mir einen alten Küchentisch mit wackligen Beinen dagelassen und zwei Bänke. Das sparte mir eine Menge Geld, und ich konnte mir gleich eine neue Couch anschaffen. Zwar reichte es nur für eine ganz schlichte, aber ich türmte unzählige Samtkissen darauf und bunkerte in einem großen Korb warme Kuscheldecken für kalte Abende.
Um Farben oder Stil machte ich mir kaum Gedanken; ich hörte einfach auf mein Bauchgefühl. Und am Ende kam dabei ein Zuhause heraus, das mit reichlich Licht und reichlich Schatten aufwartete, mit viel Platz und noch mehr Gemütlichkeit.
Für mich war es schlichtweg perfekt mit seiner unperfekten Tapete und den wackligen Tischbeinen.
James war gerade ein Jahr alt, als ich einzog. Wie ein Wurm wandte er sich aus Sadies Armen und flitzte hurtig die knarzende Treppe hinauf. Wir liefen ihm nach und mussten lachen, wie schnell er auf seinen kurzen Beinchen unterwegs war.
»Er ist einfach nicht zu bändigen.« Sadie seufzte. »Ich bin fix und fertig.«
Stolz zeigte ich ihr oben alles: mein geräumiges Schlafzimmer, das nur darauf wartete, puderrosa gestrichen zu werden; das Badezimmer mit den limettengrünen Fliesen, mit denen ich mich würde arrangieren müssen, bis mein Kontostand sich etwas erholt hatte; das Gästebad, derzeit die Müllhalde meiner Renovierungsarbeiten, vollgestopft bis unter die Decke mit leeren Farbeimern und Tapetenresten.
»Das perfekte Kinderzimmer«, meinte Sadie und stupste mich verschwörerisch in die Rippen, während sie James von einem ausrangierten Farbroller fernzuhalten versuchte.
Ich schnitt eine Grimasse. Das mit Gavin und mir war noch ganz frisch. Er war ein wirklich feiner Kerl, aber an Hochzeit oder Kinderkriegen, oder Hochzeit und Kinderkriegen, war noch lange nicht zu denken. Ich hatte ihn ganz altmodisch kennengelernt, an einem Freitagabend beim Feierabendbier mit den lieben Kollegen. Eigentlich hatte ich bloß auf ein Glas Wein bleiben wollen, mich aber dann doch lieber in Gavins freundlichem Lächeln gesonnt, als ganz allein nach Hause zu gehen, zu meiner ungewaschenen Wäsche und dem Mikrowellengericht For One. Stundenlang hatten wir über Verschwörungstheorien und True-Crime-Dokus und die schlimmen Geschichten geredet, die man so übers Internet-Dating hörte. Seitdem trafen wir uns mindestens zweimal die Woche.
Sadie hatte recht – als Kinderzimmer wäre der kleine Raum perfekt.
»Oder ein hübsches Büro«, wandte ich ein.
»Meredith, ich brauche dringend Freundinnen mit Kindern. Die Frauen aus den Mutter-Kind-Gruppen sind alle so verdammt ernst und grundgut. Die füttern ihre Kinder ausschließlich bio und setzen sie nie, niemals auch nur für fünf Minuten vor den Fernseher. Behaupten sie zumindest. Ist natürlich alles gelogen.«
»Klingt ja spaßig«, erwiderte ich lachend. »Aber ich glaube, fürs Kinderkriegen ist es mir noch zu früh.«
»Du bist fast fünfunddreißig«, sagte sie. »Wird vielleicht bald mal Zeit, meinst du nicht?«
Ich kitzelte James unterm Kinn, bis er gluckste. »Los, kommt mit. Ich muss euch noch das Wohnzimmer zeigen.«
Eine Stunde später saß ich in meinem Erkerfenster und sah Sadie dabei zu, wie sie ihren kleinen Sohn in den Kindersitz im Auto schnallte. Sie sagte etwas zu ihm, und er schaute rüber zum Haus und winkte. Strahlend vor Mutterstolz sah Sadie mich an. Begeistert winkte ich zurück. Als sie schließlich fort waren, blieb ich noch eine ganze Weile am Fenster sitzen und dachte übers Kinderkriegen nach. Nie hatte ich mir Babynamen überlegt oder mir meine zukünftigen Kinder vorzustellen versucht. Dass die Uhr tickte, wusste ich selbst. Ich wusste bloß nicht, ob ich das mit dem Muttersein hinkriegen würde.
Und ich dachte, ich hätte noch mehr als genug Zeit, mich zu entscheiden.
Heute sieht die Sache ganz anders aus. Dabei ist es, als wäre es erst gestern gewesen, als Sadie und ich in dem kleinen Zimmer standen, das ein Kinderzimmer hätte sein können, und uns überlegten, wo die Wiege stehen sollte.
Manchmal, wenn ich nachts ganz allein im Bett liege, sehne ich mich nach menschlicher Nähe. Aber nicht nach einem Mann – nein, nach einem Baby, das friedlich in meinem Arm schläft und mir mit seinem federleichten Atem die Brust wärmt. Mir einen Grund zum Leben gibt.