Wir hatten uns die Parade von Gavins Fenster aus angeschaut und aus der Vogelperspektive gefiederten Kopfschmuck und übergroße Masken, Saxophone und Trommeln bestaunt. Die Straße war ein Meer aus Menschen, die ausgelassen tanzten und klatschten und jubelten.
»Na komm.« Er hielt mir die Jeansjacke hin, damit ich in die Ärmel schlüpfen konnte. »Stürzen wir uns ins Getümmel.«
»So habe ich Glasgow noch nie erlebt«, sagte ich, während wir uns durch die Byres Road schlängelten. Selbst im dichtesten Gedrängel fühlte ich mich in Gavins Arm sicher und geborgen. Er war groß; er konnte mich wunderbar unter seine Fittiche nehmen. Ich schaute auf unsere Füße – meine blauen Converse und seine verschrammten Lederstiefel – , die im Gleichschritt über das Pflaster liefen. Er war genau wie seine Schnürstiefel: verlässlich, patent, fürs Leben gemacht.
Dreimal so lange wie sonst brauchten wir, bis wir in unserem Lieblingsviertel ankamen – in einer kleinen Kopfsteinpflastergasse, gesäumt von gemütlichen Cafés und Bars. Wir bummelten an den Verkaufsständen vorbei, und als ich gerade nicht hinschaute, kaufte er mir ein Armkettchen mit winzigen Mondsteinperlen und silbernen Sternen. Ich streifte es übers Handgelenk; es lag angenehm kühl auf meiner Haut.
»Ich liebe Mondstein.« Ich gab ihm einen Kuss auf die Wange und fragte mich, ob das jetzt wohl der Moment wäre, ihm zu sagen, dass ich auch ihn liebte, mehr noch als das traumschöne Armband.
Das hatten wir uns in dem halben Jahr, das wir nun schon zusammen waren, noch nie gesagt. Manchmal, wenn wir miteinander geschlafen hatten oder in der Abenddämmerung Hand in Hand durch den botanischen Garten bummelten, spürte ich die Last der Erwartung schwer auf meiner Brust. Dann drehte ich mich weg von ihm oder ging in die Küche und setzte Teewasser auf oder fing an, irgendeine bescheuerte Geschichte aus dem Büro zu erzählen.
»Wollen wir was trinken gehen?«, fragte ich stattdessen.
»Perfektes Timing.« Sachte dirigierte Gavin mich zu einem winzigen freien Tisch in der Ecke des Pubs. »Ich hole uns ein Bier.«
Mein Handy in der Jackentasche vibrierte.
Sag mal, wo steckt ihr Süßen denn? Wir kommen dazu! Fxx
Unschlüssig verharrten meine Finger über den Tasten. Ich tippte ein halbes Dutzend halbherziger Antworten, nur um sie allesamt wieder zu löschen.
»Alles okay?« Gavin setzte sich und reichte mir eine der beiden Bierflaschen.
Dankbar trank ich einen Schluck. »Bloß Fee. Sie und Lucas wollen sich mit uns treffen.«
»Cool. Wo stecken sie denn?«
Ich trank noch einen Schluck und wich seinem Blick geflissentlich aus.
»Ich will mich eigentlich lieber nicht mit ihnen treffen«, gestand ich.
»Was ist das eigentlich mit dir und Lucas?«
Ich hatte ihn Lucas gar nicht vorstellen wollen, aber Fee gab es nur noch im Doppelpack mit ihm, und sie quengelte schon ewig wegen eines gemeinsamen Pärchenabends. »Nie wieder«, hatte ich Gavin hinterher geschworen und das Gefühl der herrlich kühlen Abendluft im Gesicht genossen, eine wunderbare Erfrischung nach zwei Stunden in einem rappelvollen Restaurant, mit einem erzwungenen Lächeln auf den Lippen und geheuchelter Belustigung über Lucas’ geschmacklose Witze. »Du bist so eine Mimose, Meredith!«, hatte er mehr als einmal zu mir gesagt, und Fee hatte ihm eifrig beigepflichtet: »War sie immer schon!«
»Bisschen seltsam ist er schon«, war alles, was ich dazu sagte.
»Aber deine Schwester ist echt cool.«
Ich lächelte. »Ja, stimmt. Ich komme mir so mies vor, aber …«
»Hey.« Er nahm meine Hand und drückte sie fest. »Brauchst du nicht.«
Ich zuckte die Achseln und trank noch einen Schluck Bier.
»Ich habe seit über einem Jahr nicht mehr mit meinem Bruder geredet, schon vergessen?«, sagte er.
»Ja, aber der ist in Hongkong. Das ist was anderes. Wart ihr mal richtig dicke?«
Er schüttelte den Kopf. »Eigentlich nicht. Und wenn wir miteinander reden, ist auch alles wie immer. Wir haben ja keinen Streit gehabt oder so.«
»Tja, siehst du«, sagte ich. »Fee und ich sind aber ganz dicke. Wenn ich nicht gleich zurückschreibe, macht sie sich sofort Sorgen.«
»Meredith, du bist fünfunddreißig«, wandte er behutsam ein.
Wie gern ich meinen Namen aus seinem Mund hörte – so weich und melodiös. »Das weiß ich selbst«, erwiderte ich lachend. »Trotzdem macht sie sich Sorgen.« Aber ich schaltete das Handy aus, und wir redeten und tranken, meine Beine unter dem Tisch ganz dicht an seinen.
»Ich wünschte, ich könnte dir helfen«, sagte er wie aus dem Nichts.
»Womit?«, fragte ich verdutzt.
»Mit deinem ganzen Familienkram. Ich weiß, wie sehr dich das belastet. Nur, damit du es weißt … also, ich bin für dich da. Wann immer du mich brauchst.«
In diesem Moment fühlte ich mich furchtlos und unerschrocken. Vielleicht lag es am Bier. Oder an seinen braunen Augen, die meine nicht losließen, auch dann nicht, wenn ich angestrengt auf meine Finger starrte, die einen Bierdeckel zerfledderten und fahrig an den Mondsteinen und den Sternchen fummelten.
»Weißt du noch, wie ich dir von meinem Dad erzählt habe? Dass er uns sitzengelassen hat, als ich noch ganz klein war?«
»Klar.« Er griff über den Tisch nach meiner Hand wie einer von den Guten.
Ich legte meine Hand in seine, und er hielt sie ganz fest. Seine Hand war warm. Und ich wusste, dieser Mann ist gut für mich.
»Meine Mutter hat immer gesagt, er sei meinetwegen gegangen. Ich habe sie gefragt, was ich denn gemacht habe, dass er gegangen ist, und sie meinte, ich hätte gar nichts gemacht. Sie sagte, er ist gegangen, weil ich für ihn nicht Grund genug war zu bleiben.«
»Scheiße.« Fassungslos starrte er mich an. »Im Ernst?«
Ich nickte. »Ich weiß nicht, wie alt ich war, als sie mir das zum ersten Mal gesagt hat. Ich weiß nicht mal mehr, wo oder wann das war. Aber sie hat es gesagt. Mehr als einmal. Ich höre sie heute noch diese Sätze sagen. Als wäre es gestern gewesen.«
Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare. »Verdammt. Das tut mir leid.« Er senkte den Blick, und ich fragte mich unwillkürlich, ob ich es jetzt verbockt hatte. Ob ich ihn verlieren würde, weil selbst das bisschen, das ich ihm erzählt hatte, schon zu viel gewesen war. Aber dann sah er mich wieder an und drückte meine Hand noch fester. »Ich fasse es nicht, dass deine Mum so was gesagt hat, Meredith.«
»Ihre Stimme … die Stimme, es ist nicht mal mehr ihre … die hab ich ständig im Kopf. Die Stimme, die mir sagt, dass ich nicht gut genug bin. Ich versuche, sie zu ignorieren, aber es geht einfach nicht.«
»Du weißt aber, dass das nicht stimmt, oder? Du bist mehr als gut genug. Ich wünschte, du könntest dich mit meinen Augen sehen.«
Ich beugte mich über den Tisch und küsste ihn.
Als wir schließlich in den frühen Morgenstunden Hand in Hand durch die versprengten Überbleibsel des Karnevalstreibens nach Hause schlenderten und den anderen Nachtschwärmern verschwörerisch zulächelten, hätte ich ihm beinahe gesagt, dass ich ihn liebe.