Tag 1.244

Freitag, 14. Dezember 2018

Diane hat lange rote Haare, die sie immer zu einem ordentlichen Dutt ganz oben auf dem Kopf hochsteckt, manchmal mit einem Bleistift drin, einen milchig-weißen Teint und eine unterirdisch schlechte Internetverbindung. Sie wohnt auf der anderen Seite der Stadt, aber wenn man sich gerade mit ihr zu unterhalten versucht, während ihr Bildschirm immer wieder unvermittelt einfriert, kommt es einem vor, als säße sie am anderen Ende der Welt. Es ist unser dritter Videoanruf, und ich habe immer noch meine Zweifel, aber ich habe zwölf Monate darauf warten und Sadie hoch und heilig versprechen müssen, es wenigstens zu versuchen. Und so sitzen wir jetzt hier, und sie versucht, bei mir zu retten, was noch zu retten ist.

Diane weiß längst mehr über mich, als ich je hatte preisgeben wollen. Eigentlich hatte ich gehofft, mich mit einigen vagen Andeutungen über meine Vergangenheit und meine derzeitige seelische Verfassung durchmogeln zu können, aber Diane ist eine Frau mit einer Mission und wild entschlossen, sämtliche dunklen Ecken zu beleuchten.

»Ich möchte, dass sie es mit ein paar Achtsamkeitsübungen versuchen, Meredith«, sagt sie zu mir.

»Okay«, sage ich, denn was bleibt mir auch anderes übrig? Außerdem will ich das hier möglichst schnell hinter mich bringen, damit ich endlich zum Backen komme. Ich möchte herzhafte Scones machen, mit schwarzen Oliven, Fetakäse und getrockneten Tomaten.

»Ich würde Ihnen gerne zwei Aufgaben mitgeben und möchte Sie bitten, beide täglich zu üben. Vielleicht merken Sie bald, dass Sie mit einer von beiden besser zurechtkommen – das ist vollkommen in Ordnung. Und es ist auch ganz normal, wenn Sie sich dabei anfangs ein bisschen komisch vorkommen, aber versuchen Sie einfach, sich darauf einzulassen. Diese Übungen können Ihnen helfen, sich zu erden und Panik- oder Angstgefühle zu mildern.«

»Okay.«

»Als Erstes würde ich Sie bitten, sich jede Stunde einmal gut zehn Sekunden lang zu strecken und dabei zu gähnen.«

»Und wenn ich gar nicht gähnen muss?«

Diane lacht. »Dachte ich mir schon, dass Sie das fragen. Dann tun Sie einfach so, als ob! Dann muss man oft sogar tatsächlich gähnen. Hier, ich zeige es Ihnen.« Und damit reißt sie den Mund ganz weit auf und sagt für eine gefühlte Ewigkeit »Ahh!« Dann hebt sie die Arme über den Kopf und reckt und streckt sich. Alles ganz langsam – ihr dabei zuzusehen hat fast etwas Hypnotisches.

»Bestimmt fragen Sie sich jetzt, was das alles soll?«, sagt Diane, als ihr Gesicht wieder ganz normal aussieht und die Arme da sind, wo sie hingehören.

Ich sage nichts und denke mir nur: Aber so was von, Diane.

»Tja, das Gähnen unterbricht Ihre Gedanken und Gefühle. Es bringt Sie zurück ins Hier und Jetzt. Beim Strecken sollten Sie darauf achten, ob vielleicht irgendwo Verspannungen sitzen. Wenn ja, könnten Sie so was sagen wie ›ganz locker‹ oder auch einfach ›Hallo‹.«

»Hallo?«

»Es geht um Achtsamkeit ohne Wertung. Nehmen Sie sich noch mal zwanzig Sekunden Zeit, um die Verspannung zu beobachten, dann können Sie sich wieder dem widmen, was Sie gerade machen – kochen, lesen, essen, puzzeln.«

»Verstehe.«

»Die zweite Übung nennt sich die Rosinenmeditation.«

Ich kann nicht anders – ich muss laut lachen. »Rosinen mag ich.«

Sie lächelt. »Das ist doch schon mal ein guter Anfang. Und es ist wieder ganz einfach. Sie nehmen eine Rosine und versuchen, sie ganz achtsam zu essen. Ich würde empfehlen, dass Sie sich dazu ein ruhiges Plätzchen suchen, wo Sie ungestört sind. Stecken Sie sich die Rosine in den Mund und kauen Sie ganz langsam. Versuchen Sie, mit allen Sinnen dabei zu sein – Riechen, Fühlen, Schmecken. Wie ist die Konsistenz? Wie fühlt sie sich im Mund an? Wie schmeckt sie? Haben Sie keine Eile zu schlucken – behalten Sie die Rosine im Mund. Und nach dem Schlucken lächeln Sie.«

»Lächeln?«

»Vertrauen Sie mir, Meredith.«

Manchmal trifft es mich wie ein Faustschlag aus dem Nichts. Wobei, das stimmt nicht ganz. Es packt mich eher wie eine eiserne Faust.

An der Kehle fängt es an: eine eiskalte Schraubzwinge um den Hals, die sich langsam schließt, fest und immer fester, bis ich keine Luft mehr bekomme. Wird es richtig schlimm, habe ich irgendwann das Gefühl zu ersticken.

Dann wandert der Druck langsam nach unten. Zuerst in die Brust. Mein Herz rast, als wolle es ein Loch ins Brustbein hämmern. Binnen Sekunden bin ich schweißgebadet. Mir wird so unerträglich heiß, dass ich mir die Kleider vom Leib reißen will. Würde ich auch, wenn Arme und Beine nicht längst taub wären. Mein Kopf spielt derweil verrückt, und alles dreht sich. Inzwischen kenne ich das Gefühl und weiß aus Erfahrung, dass es irgendwann wieder aufhört, und doch denke ich jedes Mal: Diesmal stirbst du. Zu einem anderen Gedanken bin ich nicht fähig. Mein Herz pocht weiter wie verrückt. Verzweifelt ringe ich um Luft. Und dann habe ich Sternchen vor Augen, wie damals als Kind, wenn ich mir die Handballen ganz fest auf die geschlossenen Lider gedrückt habe. Beine und Füße kribbeln, bis sie unter mir nachgeben. Mit ein bisschen Glück klappe ich auf irgendwas Weichem zusammen.

Das war’s – jetzt ist es aus , sagt die Stimme in meinem Kopf. Meine ist es nicht, aber vielleicht die meiner Mutter. Und du stirbst ganz allein.

Wie lange es dauert, bis ich mich schließlich wieder aufrappeln kann, weiß ich nicht – eine halbe Minute, eine halbe Stunde, eine Stunde. Wenn ich mich wieder rühren kann, krieche ich ins Bett und schlafe und schlafe.

Wie Diane und ihre Rosinen mir dabei helfen sollen, ist mir ehrlich gesagt schleierhaft.