Dienstag, 25. Dezember 2018
Es ist Weihnachten, und ich habe getan, was getan werden muss. Was alle tun. Vielleicht sogar noch ein bisschen mehr. Ich habe eine Handvoll Karten verschickt, um ein paar liebe Menschen daran zu erinnern, dass ich noch lebe. Die Weihnachtskarten, die ich selbst bekommen habe, stehen als kleine, aber feine Sammlung auf dem Kaminsims. Unbestrittene Glanzstücke sind die selbst gebastelte Karte von James mit einem Engel auf einem Lamettabaum, von dem er behauptet, das solle ich sein, und eine übergroße »Meiner einzig wahren Liebe zu Weihnachten«-Karte von Sadie, die sich wie immer für wahnsinnig witzig hält. Ich habe mir einen echten Weihnachtsbaum liefern lassen und ihn mit bunten Lichtern und einem großen glänzenden Stern als Spitze dekoriert, weil ich den frischen Tannenduft so mag, auch wenn Fred ständig an den unteren Ästen herumspielt, sodass binnen Tagen fast alle Nadeln abgefallen sind. Baum und Weihrauch-und Myrrhe-Duftkerzen und Glühwein haben sich zu einem festtäglichen Großangriff auf sämtliche Geruchsnerven zusammengebraut.
Den Glühwein habe ich in meinem großen Topf mit dem Kupferboden gekocht. Ewig lang habe ich ihn sachte und um Achtsamkeit bemüht umgerührt, bis ich mir schließlich zum Geschenkeeinpacken ein Becherchen davon gönne. Ich habe so wenig Geschenke einzuwickeln, dass sie leicht in einer Stunde zu verpacken wären. Aber ich lasse mir Zeit und bin den ganzen Abend damit beschäftigt. Ich benutze braunes Packpapier, weil es im Gegensatz zu dem Glanz-und-Glitzer-Papier recycelbar ist, habe es aber mit rot-weißer Packschnur etwas aufgehübscht und den Namen der/des Beschenkten mit Filzstift in verschnörkelter Schönschrift draufgemalt. Nach dem Geschenkeverpacken schaue ich mir Das Wunder von Manhattan an (beide Versionen), den Polarexpress und Ist das Leben nicht schön? Dazu gibt es heiße Schokolade mit Schlagsahne und Marshmallows und Lebkuchen und dunkle Trüffel mit Meersalz-Karamell. Den Lebkuchen habe ich selbst gebacken, aber die Trüffel in ihrer edlen rosa Blechdose sind gekauft, von einer hippen, teuren Webseite. Jeder sollte mindestens einmal in seinem Leben dunkle Trüffel mit Meersalz-Karamell probiert haben. Ich habe auch einen beschwipsten Weihnachts-Gewürz-Kuchen gemacht, nicht, weil ich so was besonders mag, sondern weil es so etwas Weihnachtliches hat und man mit der Zubereitung mehrere Stunden beschäftigt ist, womit ich einen gähnend leeren Samstagvormittag herumbekommen habe. Gottesdienstbesuche und Schulkrippenspiele und Freiluft-Eislaufbahnen und überfüllte Supermärkte fallen bei mir ja weg, darum ist es wichtig, sich beschäftigt zu halten. Alle Jahre wieder heißt es fleißig sein. Sadie hat mir Dutzende Fotos von James’ Krippenspiel geschickt. Er war ein Kamel und schien nicht besonders glücklich in seiner Rolle. Per FaceTime versicherte ich ihm, er habe das ganz großartig gemacht, schließlich sind Kamele für ihre Verdrießlichkeit bekannt, und wer will schon einer der drei Weisen sein? Ich habe ihm gesagt, dass die meisten Weisen gar nicht so weise sind, wie sie denken. Er musste kichern, und dann hat Matilda ihm das Handy aus der Hand gerissen und es sich vor ihr verkrustetes Nasenloch gehalten, während sie mir »Jingle Bells« vorsang.
Gestern dann stand Tom plötzlich vor der Tür – unangemeldet, aber ich verzieh ihm gnädigerweise, weil er eine Weihnachtsmannmütze mit Klingelglöckchen auf dem Kopf hatte. »Ich besuche bloß eben alle meine liebsten Menschen!«, sagte er. Er blieb auf ein großes Stück Weihnachtskuchen und meinte, das sei der beste, den er je gegessen habe. Ich hatte ihm ein Geschenk besorgt – einen kuschelig weichen Schal in dezentem Schottenkaro – , es eingepackt und hinter dem Fernseher versteckt. Nur für den Fall, dass er mir was schenkt. Und tatsächlich hatte er ein Geschenk für mich dabei, sehr zu meiner Freude. Es war mir aber auch ein bisschen peinlich, weil er es mir nämlich im Wohnzimmer überreichte, weshalb ich sein Päckchen umständlich hinter dem Fernseher hervorangeln und ihm dann irgendwie erklären musste, warum es nicht bei den anderen Geschenken unter dem Weihnachtsbaum lag. Aber er lachte nur und meinte, er hätte auch nicht gewusst, ob ich ihm was schenke, und ob die ganze Bescherungsetikette nicht ganz schön kompliziert sei? Ich fragte ihn nicht, ob er all seinen anderen Vereins»freunden« auch was schenkte. Ich wollte es gar nicht wissen.
Am Weihnachtsmorgen öffne ich gleich nach dem Aufwachen die Geschenke, weil man das halt so macht, und weil es hilft, diesen Dienstag ein bisschen besonderer werden zu lassen als alle anderen Dienstage. Toms Geschenk entpuppt sich als Notizbuch mit dicken cremeweißen Seiten und weichem Ledereinband in sattem Lohbraun, vorne mit meinen geprägten Initialen versehen. Ich bin hin und weg.
Sadie kommt auf dem Heimweg von ihrer Nachtschicht im Krankenhaus auf ein paar Schokocroissants vorbei. Sie trägt Weihnachtsbaumohrringe und hat Lametta ums Stethoskop gewickelt. Von ihr bekomme ich einen hohen, schlanken Parfumflakon mit genau demselben Duft, den ich damals mit einundzwanzig getragen habe. Ich nebele mich sofort generös damit ein, und es ist, als stünde ich an einem Freitagabend in Sadies Schlafzimmer und machte mich fertig zum Weggehen. Nach vierundzwanzig Tagen nonstop Weihrauch und Myrrhe eine wohltuende Abwechslung. Der Duft weckt schöne Erinnerungen. Wir reden über die Läden, in die wir früher gegangen sind, und die Leute, mit denen wir uns immer getroffen haben, bis Sadie schließlich losmuss, um die Kinder bei Steve abzuholen.
»Bestimmt können sie es kaum erwarten, endlich nach Hause zu kommen und mit ihren Weihnachtsgeschenken zu spielen«, meint sie entschuldigend.
»Kann ich verstehen«, versichere ich ihr, wohl wissend, dass sie schier ausflippen würde vor Freude, wenn ich mir einfach die Jacke schnappen und ihr sagen würde, sie soll eben kurz warten, ich komme mit. Doch ich drücke ihr bloß die Geschenke für die Kinder in die Hand – eine Schachtel Wildtierfiguren für James, weil er später mal Zootierpfleger werden will, und eine übergroße Einhorn-Handpuppe für Matilda, die sie bestimmt ganz toll finden wird. Dann drücke ich ihr einen Kuss auf die Wange und wünsche ihr frohe Weihnachten.
Der durchdringende Parfumduft hängt noch den ganzen Tag in der Luft, auch als Sadie längst weg ist. Er ist viel süßer und schwerer als alles, was ich heutzutage so tragen würde, und das weiß sie auch. Sie hat mir ein Fläschchen Nostalgie geschenkt.
Ich helfe Fred, sein Geschenk auszupacken, eine Plüschmaus, mit Katzenminze gefüllt, und schaue ihm amüsiert dabei zu, wie er eine halbe Stunde lang vollkommen durchdreht, um anschließend auf die Couch zu kippen und den restlichen Tag selig zu verschlafen. Ich setze mich neben ihn und esse eine Portion von dem Curry, das ich schon vor ein paar Tagen vorbereitet habe, den Teller vorsichtig auf den Knien balancierend. Truthahn mag ich nicht – freiwillig würde ich den an keinem Tag des Jahres essen, warum also ausgerechnet heute?
Ich schreibe ein bisschen mit Celeste, die sich beschwert, ihr Stiefvater läge auf der Couch und schnarche so laut, dass ihre Mum und sie den Fernseher kaum noch hören. Ich antworte ihr, Fred neben mir sei keinen Deut besser. Dann sagt sie mir, dass sie ihrer Mum und ihrem Stiefvater endlich von dem Überfall erzählt hat, und dass ihre Mum schrecklich weinen musste, aber beide ihr eine große Hilfe sind.
Ich kuschele mich neben Fred auf die Couch und sehe James Steward zu, wie er den Sinn des Lebens zu ergründen versucht. Ich esse Käse und Kräcker und schließlich auch noch das letzte Stück Gewürzkuchen, obwohl ich schon längst keinen Hunger mehr habe. Ich mache die Flasche Sekt auf, die Sadie mitgebracht hat, und trinke sie viel zu schnell leer. Ich muss an meine Schwester denken und mache die Augen zu, und um fünf Minuten vor Mitternacht weckt mich mein Handy.
Es ist Mama, ihre Stimme klingt tonlos. Sie fragt mich, wo ich den ganzen Tag gesteckt habe, warum sie kein Geschenk von mir bekommen hat. Ja, meine Karte hat sie bekommen. Nein, sie hat dieses Jahr selber keine verschickt. Alles bloß Zeitverschwendung, das. Für mich liegt auch etwas unter dem Weihnachtsbaum, das bekomme ich aber nur, wenn ich endlich aufhöre, mich wie eine Mimose aufzuführen, und mich mal wieder bei ihr blicken lasse. Fiona und Lucas sind gerade weg, sagt sie, und mir dreht sich der Magen um. Sie waren den ganzen Tag da, sagt sie. Lucas hat den Truthahn tranchiert und zwei Portionen Trifle verdrückt. Ich wünsche ihr frohe Weihnachten und lege auf, ehe sie fertig ist mit Reden. Ich mache das Handy aus. Am zweiten Weihnachtstag bekomme ich eine Panikattacke.