Tag 1.271

Donnerstag, 10. Januar 2019

»Wie fühlt sich deine Depression an, Meredith?«, fragt Tom. Es regnet – wir sitzen im Wohnzimmer, schauen zu, wie das Wasser an den Erkerfenstern hinunterläuft, und futtern Biscotti, die Tom zur Feier der Fertigstellung von Santa Maria del Fiore mitgebracht hat.

Dabei ist mir ehrlich gesagt gar nicht nach Feiern zumute nach meinem vermasselten Versuch, Celeste einen Besuch abzustatten. Ich habe Tom nichts davon erzählt, es ist mir viel zu peinlich, dass ich tatsächlich geglaubt habe, ich könne mich einfach so quer durch die Stadt chauffieren lassen, wo ich es doch nicht mal schaffe, einen Fuß vor die Haustür zu setzen. Die Scham wiegt tonnenschwer, ein erdrückendes Gewicht, und ich weiß nicht, ob ich noch die Kraft habe, das eine ganze Stunde lang vor ihm zu verbergen.

»Wie eine Last. Eine ständige Last«, sage ich tonlos.

»Und du bist nie unbeschwert?«

»Okay. Vielleicht nicht ständig. Wenn ich puzzele oder Fred auf meinem Schoß liegt, ist sie nicht ganz so schwer. Oder wenn ich bei Kerzenschein auf der Couch liege und lese.«

»Und wenn andere Leute hier sind? Wie Sadie oder ich?«

»Kommt drauf an.«

»Worauf?«

»Ach, ich weiß auch nicht. Ob ich meine Tage habe. Ob du dumme Fragen stellst. Du bist nicht mein Therapeut, Tom.« Langsam verliere ich die Geduld.

»Stimmt, bin ich nicht. Ich bin bloß ein Mensch mit Depressionen, der mit einem anderen Menschen mit Depressionen darüber redet.«

»Du hast Depressionen?«, frage ich überrascht. Wobei, mir ist gelegentlich schon aufgefallen, wie ein dunkler Schatten über sein Gesicht huscht. Pausen, die ein bisschen zu lang sind, bevor er lächelt. Rückblickend nur klitzekleine Hinweise, die die meisten Menschen übersehen würden, weil sie viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt sind. Aber ich habe alle Zeit der Welt, so was zu merken, und in meinem Leben gibt es auch dunkle Schatten und ein-bisschen-zu-lange Pausen.

»Habe ich. Schon ziemlich lange. Sie kommen und gehen. Ich kann also gut nachvollziehen, was du mit der Last meinst. Für mich ist sie wie ein Gefühl drohenden Unheils. Als würde gleich was Schlimmes passieren, auch wenn mein Hirn mir tausend Mal sagt, dass es überhaupt keinen Grund dazu gibt.«

»Ja, das kann ich gut verstehen«, sage ich leise. Am liebsten möchte ich ihn in den Arm nehmen oder zumindest ein bisschen näher rücken, aber ich glaube, so weit sind wir noch nicht. Dennoch: Tom ist ein echter Freund geworden, geht mir plötzlich auf. Ich freue mich auf seine Besuche, auch wenn er mich mit seinen Fragen oft an meine Grenzen und darüber hinaus bringt. Ich mag ihn. Ich will nicht, dass er Depressionen hat; bei dem Gedanken bekomme ich einen Kloß im Hals. Das wünsche ich ihm nicht.

»Okay, lass uns was ausprobieren. Ich zuerst.«

»Okay«, brumme ich argwöhnisch.

»Ich hatte das erste Mal mit zwanzig eine Depression.«

»Ich mit sieben. Ich konnte nicht aufstehen; es war, als wäre mein ganzer Körper zu Stein geworden. Ich habe Mama gesagt, ich hätte Halsschmerzen, und durfte drei Tage die Schule schwänzen. Bin die ganze Zeit im Bett geblieben. Ich weiß noch, wie Fee mir Saftpäckchen und Chipstüten gebracht hat.«

Sollte ihn das schockieren, so lässt er es sich zumindest nicht anmerken. »Die Diagnose kam dann mit fünfundzwanzig.«

»Ich war achtzehn.«

»Der erste Mensch, dem ich davon erzählt habe, war meine damalige Freundin. Sie hat versucht, mich so gut es ging zu unterstützen, aber verstanden hat sie es nicht so richtig.«

»Ich habe es Sadie erzählt. Sie war stinksauer. Wütend, weil ich ihr nie was davon gesagt habe.«

»Findest du, sie hatte ein Recht darauf, wütend zu sein?«

Ich zucke die Achseln. »Hinter Wut steckt doch meistens anderes, oder? Ablehnung oder Angst oder Traurigkeit. Ich glaube, das alles ist gleichzeitig auf sie eingeprasselt. Sie hat es sehr persönlich genommen, dass ich sie nicht um Hilfe gebeten habe. Ich glaube, es hat ihr Angst gemacht, weil sie nicht kapiert hat, was das jetzt bedeutet, und sie war traurig, weil ich nicht mehr derselbe Mensch für sie war. Ich meine, war ich schon – bin ich noch – , aber wir alle stecken andere doch in Schubladen, oder nicht? Kleben ihnen ein Etikett auf die Stirn. Dingsbums ist so-und-so …«

»Dabei sind wir dafür eigentlich alle viel zu kompliziert.«

»Tja, ja. Wenn wir es denn zulassen.«

»Wie meinst du das?«

»Ich glaube, manche Menschen wollen einfach keine tieferen Gefühle empfinden. Weil es ihnen zu anstrengend ist. Meine Mutter und meine Schwester meinen, die Depression sei meine Ausrede für alles.«

»Wie lange nimmst du schon Antidepressiva?«

»Seit zwanzig Jahren, immer mal wieder«, sage ich.

»Ganz schön lange. Gibt’s sonst noch was, das du dagegen tust?«

Ich sage ihm die Wahrheit. »Zu Hause bleiben.«