1997

»Was kann ich denn heute für Sie tun?«, fragte Dr. Frost und schob mir eine Schachtel Papiertaschentücher über den Schreibtisch zu. Dr. Frost war ein drahtiger alter Herr mit einer ausgesprochen nüchternen, sachlichen Art. Die Uhr tickte, das wusste ich selbst, aber ich konnte und konnte einfach nicht aufhören zu schluchzen, und gerade heute hätte mir ein nettes Wort gutgetan.

Zum ersten Mal seit Jahren war ich wieder in einer Arztpraxis. Mama hielt nicht viel von Ärzten; sie wusste selbst am besten, ob man krank war oder nicht. Aber ich war inzwischen achtzehn, konnte also auch allein hingehen. Die ganze Woche war ich nicht zur Arbeit gegangen, hatte verschämt etwas von Periodenschmerzen gemurmelt und mich unter der Bettdecke verkrochen.

»Ich glaube, ich habe eine Depression«, erklärte ich Dr. Frost mit zitternder Stimme.

Er reichte mir einen Fragebogen und einen Kugelschreiber. »Seien Sie ganz ehrlich.«

Leiden Sie bei dem, was Sie tun, unter Freudlosigkeit/Lustlosigkeit?

Leiden Sie unter gedrückter Stimmung oder dem Gefühl von Hoffnungslosigkeit?

Leiden Sie unter Einschlaf- oder Durchschlafschwierigkeiten, oder schlafen Sie zu viel?

Leiden Sie unter dem Gefühl, sich selbst oder Ihre Familie zu enttäuschen?

Und so weiter und so fort.

Langsam arbeitete ich die ganze Liste durch. Ja, ja, ja bei jeder Frage. Aber »ja« war keine Auswahlmöglichkeit. Ich musste mich entscheiden zwischen:

Überhaupt nicht.

An einzelnen Tagen.

An mehr als der Hälfte der Tage.

An beinahe jedem Tag.

Bei der letzten Frage zögerte ich kurz.

Beschäftigt Sie der Gedanke, lieber tot sein zu wollen, oder der Gedanke, sich selbst zu verletzen?

Fee und Sadie nennen mich immer Mer, aber ich habe mal einen Film gesehen mit einer Figur namens Meredith, die alle nur »Death« nannten. Mehr als einmal habe ich bei mir gedacht, dass das eigentlich ein viel passenderer Name für mich wäre. Mein Kuli schwankte zwischen an mehr als der Hälfte der Tage und an beinahe jedem Tag. Aber ich beschloss zu schwindeln. Was machte es schon für einen Unterschied? Bei den anderen acht Fragen hatte ich schon genügend Punkte gesammelt.

Ich gab Dr. Frost den Fragebogen zurück und wartete ab, während er ihn überflog.

»Habe ich bestanden?«

»Es gibt keine richtigen oder falschen Antworten«, sagte er und sah mich über den Rand seiner Brille an.

»Verstehe«, sagte ich und kam mir vor, als säße ich im Büro des Rektors.

»Miss Maggs, das Ergebnis des Tests deutet darauf hin, dass Sie eine Depression haben.«

»Okay.« Das war die erwartbarste Antwort, die ich je bekommen hatte. »Und jetzt?«

»Jetzt bekommen Sie ein Rezept von mir.« Dr. Frost kritzelte etwas auf einen Block. »Eine Tablette am Tag – und in sechs Wochen kommen Sie wieder. Es kann bei diesen Medikamenten mitunter eine Weile dauern, bis sie wirken, also machen Sie sich bitte keine Gedanken, wenn es nicht gleich besser wird.«

»Ich mache mir ständig Gedanken.« Mein Lachen klang erzwungen und hohl.

Sein Blick huschte kurz zur Uhr, ehe er mich wieder ansah. Meine sieben Minuten waren um. »Versuchen Sie es mit diesen Tabletten, Miss Maggs. Und dann sehen wir weiter.«

»Okay«, sagte ich wieder. Ich würde die Tabletten nehmen. Ich würde tun, was man mir auftrug. Ich würde weiter auf einen Lichtblick hoffen. Ich würde mir Mühe geben, Mer zu sein, und nicht Death.

»Wo warst du?« Mama stand im Flur, als ich nach Hause kam. Sie trug ihren Mantel und hatte die Handtasche über der Schulter. Ich wusste nicht, ob sie gerade kam oder ging. Ich hoffte Letzteres, aber sie kam mir nach, als ich in die Küche ging, und sah zu, wie ich das weiße Papiertütchen aus der Apotheke auf den Tisch fallen ließ.

»Was ist das?«

Ich seufzte. Lügen war zwecklos. Sie bekam ohnehin immer alles heraus, was sie wissen wollte. »Medikamente.« Ich nahm die Tüte und stopfte sie in die Tasche meiner Jeansjacke.

Irgendwas blitzte in ihren Augen, und sie streckte die Hand nach den Tabletten aus. »Lass Mama mal sehen – sei ein braves Mädchen. In der Familie sollte man keine Geheimnisse voreinander haben.«

»Das ist kein Geheimnis, Mama. Ich habe es dir doch gerade gesagt – es ist Medizin.«

»Was denn für eine Medizin? Ich finde nicht, dass du krank aussiehst.« Die Hand noch immer nach mir ausgestreckt, kam sie näher. Ich starrte auf die tief eingegrabenen Furchen in ihrer offenen Handfläche.

»Antidepressiva.«

»Hör auf zu murmeln, Meredith. Du bist kein kleines Kind mehr.«

»Antidepressiva«, sagte ich lauter.

Meine Mutter lachte. »Weswegen solltest du denn depressiv sein?«

Ich starrte sie an. »Ist kompliziert.«

»Meredith, du bist alles andere als kompliziert. Versuchst du etwa schon wieder, dich mit aller Gewalt interessant zu machen?« Sie stand jetzt direkt vor mir, so dicht, dass ihr langer Fingernagel die weiche Haut unter meinem Kinn kitzelte. »Du brauchst keine Glückspillen. Du musst bloß endlich erwachsen werden. Gib sie mir.«

»Nein.«

»Nein? « Wieder blitzte es in ihren Augen.

»Das sind meine Tabletten.«

Endlich ließ sie die Hand sinken und kam mit ihrem Gesicht ganz dicht an meins. Ich roch Zigarettenrauch und sah, wie das Make-up in die feinen Fältchen um den Mund gelaufen war.

»Zeig her.«

»Lass mich.« Adrenalin rauschte mir in den Adern. Ich musste mich konzentrieren, mit beiden Füßen fest auf dem Boden zu stehen, und fragte mich, wann Fiona wohl aus dem Friseursalon nach Hause kommen würde. Würde sie doch jetzt bloß in die Küche poltern und sich lauthals über verstopfte Waschbecken und alte Weiber mit schwabbeliger Kopfhaut beschweren.

An etwas anderes als an Mama zu denken, und sei es auch nur für einen Augenblick, war ein Fehler. Mit der Ohrfeige hatte ich nicht gerechnet. Ihre Handfläche traf meine Wange mit einer solchen Wucht, dass sich in meinem Kopf alles drehte.

Ich hasse dich . Die Stimme war in meinem Kopf, aber die Worte galten ihr. Ich schluckte die Tränen herunter, bis sie aus der Küche gegangen war, die Tablettenschachtel in der weißen Papiertüte in meiner Jackentasche noch immer fest umklammert.