Freitag, 15. Februar 2019
Eigentlich bin ich vor den Sitzungen mit Diane sonst nie nervös. Aber heute, mit meinem Notizbuch auf dem Schoß, kann ich kaum stillsitzen vor Anspannung. Und fünf Minuten zu früh bin ich auch dran. Ich sitze vor dem aufgeklappten Laptop und atme ein paar Mal tief durch, geleitet von ihrer Stimme in meinem Kopf. Ein durch die Nase, aus durch den Mund. Fehlt nur noch die Pling-Plöng-Musik im Hintergrund.
Ihr Gesicht erscheint auf meinem Bildschirm. Mit den in Wellen gelegten Haaren sieht sie aus wie ein Hollywood-Star der Glamour-Ära. Sofort sehe ich sie vor mir, wie sie am Arm eines feschen Dandys in einer Satinrobe über das Tanzparkett schwebt.
»Meredith, Hallo!«, begrüßt sie mich lächelnd. »Wie geht es Ihnen heute?«
»Weiß nicht so genau«, muss ich gestehen und winke mit dem Notizbuch. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich meine Hausaufgaben richtig gemacht habe.«
Wie ein aufsässiges Schulkind habe ich es bis zur allerletzten Minute aufgeschoben. Gestern Abend dann habe ich mich endlich neben Fred auf die Couch gekuschelt und ernsthaft darüber nachgedacht, das Haus zu verlassen.
Das Notizbuch ist brandneu, ich habe es nur für diesen Zweck bei meinem Lieblings-Online-Schreibwarenhändler gekauft. Es hat einen glänzenden blauen Einband mit tanzenden Pferden drauf. Vorne habe ich meinen Namen eingetragen, wie früher in der Schule: Meredith Maggs . Auf der ersten Seite steht nur ein einziges Wort:
Panik.
Noch ehe Diane mich danach fragen kann, halte ich ihr die beinahe leere Seite hin. »Das ist alles. Mehr habe ich nicht aufgeschrieben. Ich bin Texterin und habe nur ein einziges Wort zustande gebracht.« Ich klappe das Notizbuch wieder zu und lasse mich gegen die Rückenlehne des Sessels fallen. Ich bin so müde. Am liebsten möchte ich nur noch auf die Couch, fernsehen und Fred streicheln.
»Meredith«, sagt sie sanft. Tröstlich. »Was Sie da gemacht haben, ist vollkommen in Ordnung. Es gibt kein Richtig oder Falsch. Ich sage es immer wieder, eins nach dem anderen. Sie haben Zeit. Sie sind hier in einem geschützten Raum. Schauen wir uns Ihr Wort gemeinsam etwas genauer an.«
»Okay.«
»Das wird schon, Meredith«, sagt sie. »Allein, dass Sie hier sind, einmal im Monat, macht schon einen gewaltigen Unterschied.«
In den nächsten vierzig Minuten reden wir über all das, was ich nicht aufschreiben konnte. Wie ich immer das Gefühl habe, das Herz wolle mir aus der Brust springen. Wie es mir die Kehle zuschnürt und ich keine Luft mehr bekomme. Wie ich fürchte, gleich zu sterben.
Hinterher fragt sie mich: »Wie fühlen Sie sich jetzt?«
»Müde. Aber ganz okay.«
»Ich bin stolz auf Sie, Meredith«, sagt sie. »Und ich möchte Ihnen gerne eine neue Hausaufgabe mitgeben. Wir können so langsam mit der Konfrontationstherapie beginnen, die Sie dabei unterstützen soll, schrittweise das Haus zu verlassen und Ihre Nervosität in den Griff zu bekommen.«
»Ich liebe Hausaufgaben«, antworte ich trocken. Wenn Diane lacht, reißt sie den Mund ganz weit auf, und man sieht nur blitzend weiße Zähne, keine Plomben. Einmal ist der Bildschirm eingefroren, just als sie lachte. Sie sah aus wie eine wunderschöne Wildkatze. Ich habe sie nur angestarrt und abgewartet, dass sie wieder zum Leben erwacht, und mir dabei vorgestellt, wie ihr Gesicht durch meinen Bildschirm kracht und ihre Zähne sich bis aufs Blut in meinem Hals verbeißen.
»Meredith.«
»Entschuldigung. Was haben Sie gesagt?«
»Ich möchte, dass Sie fünf Schritte vor die Tür machen.«
Nach unserem Termin bleibe ich noch eine ganze Weile mit dem Notizbuch in der Hand auf der Couch sitzen. Mal sehen, vielleicht schreibe ich später noch was hinein. Ich schaue aus dem Erkerfenster und sehe den grauen Wolkenwirbeln am Himmel zu. Ich weiß nicht, ob sie aufziehen oder verwehen. In den letzten Wochen brachen sich hin und wieder himmlisch helle Sonnenstrahlen einen Weg durch das winterliche Grau. Sie erinnern mich an das hoffnungsvolle Ende von Shelleys »Ode an den Westwind«: Wenn Winter naht, kann fern der Frühling sein? Als ich mich am frühen Nachmittag im Erkerfenster über mein Puzzle beuge, taucht die Sonne meine Wangen in warmes Licht.
Lebte ich auf einem Bauernhof, wäre jetzt Lämmerzeit. Noch wohne ich zwar nicht auf dem Land, aber wer weiß? Vielleicht ja eines Tages. Meine Zukunft wird kommen wie der Wechsel der Jahreszeiten. Aber eins nach dem anderen. Ich habe Zeit.