»Ach, du bist es.« Mama musterte mich abschätzig. »Hast du was mitgebracht?« Ihr Blick blieb an der Weinflasche hängen, die ich mir unter den Arm geklemmt hatte.
Seufzend reichte ich sie ihr. »Auch schön, dich zu sehen, Mama.«
»Deine Schwester ist hinten«, warf sie mir im Weggehen über die Schulter zu. Ich folgte ihr und schloss die Haustür hinter mir. Ich war gerade dabei, mich endgültig abzunabeln, und seit Monaten nicht mehr hier gewesen. Aber es sah noch genauso aus wie früher, und es roch auch so. Daran würde sich wohl nie was ändern. Ungeöffnete Briefe stapelten sich auf dem Tischchen im Flur, Schuhe und Jacken türmten sich auf dem Boden. Zigarettenqualm und Staubsauger-Duftkugeln. Ich schob das unbehagliche Gefühl im Bauch beiseite und sagte mir wieder, dass ich nur wegen Fee hier war. Wir telefonierten jeden Tag, aber ich hatte sie schon seit Wochen nicht mehr gesehen.
Sie war in der Küche und butterte gerade die Burgerbrötchen. »Mer!« Fröhlich kam sie auf mich zugehopst und drückte mir einen Kuss auf die Wange. »Jetzt wird gegrillt!«
»Ich seh’s«, sagte ich. »Ich wusste gar nicht, dass wir einen Grill haben.«
»Den hat Lucas sich von seinem Dad ausgeborgt«, sagte sie.
Ich streifte die Jacke ab und schaute aus dem Fenster. »Lucas’ Dad ist hier?« Ich sah zu, wie ein Mann in Jeans und roter Trainingsjacke an den Knöpfen eines überdimensionierten Gasgrills herumfummelte. Das Riesending nahm Mamas winzigen Garten – eigentlich gar kein richtiger Garten, bloß ein Dutzend schmuddeliger Betonplatten mit einer Handvoll verwelkter Pflanzen in angeschlagenen Terrakotta-Töpfen – fast zur Hälfte ein.
Neben seinem Dad stand Lucas, blinzelte in die Sonne und trank Bier aus der Dose.
»Und seine Mum auch.« Fee zeigte mit dem Buttermesser auf eine Frau mittleren Alters mit akkuratem Bob und Sonnenbrille. Sie schien Tante Linda zuzuhören, die wie gewöhnlich ohne Punkt und Komma plapperte.
Mein Blick ging zurück zu Lucas und seinem Dad. »So wird er in fünfundzwanzig Jahren aussehen. Wusstest du, dass Haarausfall genetisch bedingt ist?«
»Hey, Schluss damit. Komm, mach dich lieber nützlich und schneide ein paar Scheiben Käse.«
Sie war ungewohnt schweigsam, während wir einvernehmlich Brötchen butterten und Käsescheiben abschnitten. »Was gibt’s denn zu feiern?«, fragte ich. »Sonst lädt sie doch nie Gäste ein.« Mama hatte sich inzwischen zu Tante Linda und Lucas’ Mum gesetzt und lachte über irgendwas, das eine von ihnen gesagt hatte. Man sah die schwarzen Plomben in den Zähnen. Sie ertappte mich dabei, wie ich sie heimlich beobachtete, und ich guckte schnell wieder auf den Käse.
»Sie versteht sich ganz gut mit Lucas’ Eltern«, erklärte Fee mir. »Hin und wieder geht sie mit seiner Mum zum Bingo. Sie heißen übrigens Karen und George.«
»Karen und George«, murmelte ich.
Meine Schwester wuselte durch die Küche, stellte Pappteller, Salat, Tomatenketchup, Mayonnaise bereit. Ich half ihr, alles auf dem kleinen Tischchen anzurichten.
»Ich glaube, Lucas will mit mir Schluss machen«, sagte sie unvermittelt.
»Was?«, fragte ich und starrte sie an. »Wie kommst du denn darauf?«
»Er hat schon die ganze Woche grottenschlechte Laune und ist ganz furchtbar genervt. Und er sagt mir nicht, warum.«
»Das bildest du dir sicher nur ein«, versuchte ich sie zu beruhigen, dabei hätte ich am liebsten gesagt: »Am besten kommst du ihm zuvor. Mach mit ihm Schluss, ehe er mit dir Schluss machen kann. Du hast was Besseres verdient.« Beim Gedanken daran, meine Schwester könne Lucas tatsächlich auf den Mond schießen, wurde ich ganz hibbelig vor Freude, nur um gleich Gewissensbisse zu bekommen.
»Ja, hoffentlich«, brummte sie. »Ich schau mal nach, ob die Burger schon fertig sind.«
»Fee.«
Sie blieb stehen und sah mich erwartungsvoll an. »Was?«
»Ich meine bloß … bist du glücklich?«
»Natürlich bin ich glücklich, Meredith. Und kurz vorm Verhungern bin ich auch.«
Ich biss mir auf die Lippen. »Es ist nur …«
»Mer, raus damit.« Sie wurde langsam ungeduldig.
»Ich bin auch am Verhungern«, sagte ich ihr.
»Super.« Sie grinste. »Dann lass uns essen gehen.«
Wir aßen Georges etwas zu durchgebratene Burger und Würstchen – »Lieber Kohle als Lebensmittelvergiftung«, witzelte er – und machten Smalltalk, bis die Sonne allmählich unterging.
»Dir ist ja eiskalt, Liebes«, sagte Tante Linda und rubbelte mir mit den trockenen warmen Händen über die Arme. »Hier, du kannst meine Strickjacke haben. Ich habe schon wieder Hitzewallungen. Verflixte Wechseljahre.« Von meiner Widerrede wollte sie nichts hören und legte mir die Jacke um die Schultern. »Du könntest ein bisschen mehr Speck auf den Rippen vertragen, wenn ich mir dich so anschaue.«
»Ich esse aber genug«, erwiderte ich wahrheitsgemäß.
»Das ist die Nervosität. Hast du von deiner Mutter«, sagte sie wie nicht anders erwartet. So ging das schon ewig, schon seit ich ein Teenager gewesen war. Damals hatte ich mich immer darüber geärgert; heute waren diese Sätze so vertraut-behaglich wie ihre weiche, uralte lila Strickjacke mit den ausgefransten Ärmelbündchen. Nie hatte sich sonst jemand unnötig um mein Gewicht gesorgt oder darauf bestanden, dass ich mir etwas überziehe, damit ich nicht friere.
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, also nahm ich Tante Linda in den Arm und drückte sie ganz feste. Ich merkte, wie Mama uns anstarrte, spürte ihre Blicke auf meinem Rücken. Ich zog Tante Linda noch ein bisschen fester an mich. Just in diesem Augenblick hörte ich plötzlich meine Schwester losquieken, und alle verstummten und glotzten Lucas an, der auf einer der Betonplatten auf die Knie gegangen war und eine Ringschachtel hochhielt.
Ich sah, wie Fee in Tränen ausbrach, ihn an den Händen fasste und auf die Füße zog. Ich sah, wie sie sich ihm an den Hals warf, an ihm hochsprang und die Beine um ihn schlang. Das Gesicht an seinem Hals vergrub und sich von ihm herumwirbeln ließ. Wir Umstehenden sagten gar nichts und ließen ihnen diesen besonderen Moment – höfliche Zurückhaltung allenthalben. Schließlich rief Mama laut: »Das schreit nach Sekt!« Ich sah sie an, und mit einem Mal begriff ich, dass sie es gewusst haben musste, natürlich hatte sie es gewusst, er war ja ein braver Junge und hatte sie erst um Erlaubnis gefragt, und Mama lud sonst nie Gäste ein. Ich starrte sie an, starrte ihr ins Gesicht, und sie starrte zurück, und so sehr ich mich auch bemühte, ich schaffte es einfach nicht, mich so mitzufreuen, wie sie es anscheinend tat.