Mama saß auf der Treppe vor dem Haus und rauchte, als ich ankam. »Du kommst zu spät«, sagte sie.
»Der Bus hatte Verspätung«, erklärte ich ihr und stopfte die Hände in die Jackentaschen. »Dir auch Hallo.«
Verächtlich schnaubte sie den Rauch aus den Nasenlöchern. Sie saß da wie ein wildes Tier, das mich mit großen, dunklen, unberechenbaren Augen herausforderte.
Fee ging ohne es zu merken dazwischen und stapfte mit einem zum Bersten vollgestopften Müllsack in jeder Hand an Mama vorbei. Sie strahlte, als sie mich sah. »Da bist du ja! Wir packen gerade alles in den Lieferwagen«, sagte sie und marschierte mit langen Schritten zu dem weißen Kastenwagen, der vor dem Haus stand. Über die Schulter brüllte sie mir noch zu: »Geh einfach hoch und schnapp dir, was du tragen kannst. Lucas ist oben und baut eben den Schrank ab.«
»Nimm einfach all meine Möbel mit«, schimpfte Mama empört und drückte ihre Zigarettenkippe auf der Stufe aus. »Am Ende sitze ich ganz allein in einem leeren Haus. Wer soll es dann merken, wenn ich hinfalle und mir das Bein breche? Ich könnte einfach verhungern.«
»Du kommst schon zurecht. Du bist fünfundvierzig, nicht fünfundachtzig.«
»Ich bin achtundvierzig«, brummte sie.
Ich drückte mich an ihr vorbei und ließ sie rauchend und über das Alter meckernd auf der Treppe sitzen. Die Ironie des Ganzen schien ihr nicht aufzugehen. Ich schlich nach oben und war plötzlich wieder das kleine Mädchen, das sich vor den harschen Worten und dem bedrückenden Schweigen zu verkriechen versucht. Langsam schob ich die Tür zum Kinderzimmer auf.
»Meredith. Hast du dich also doch noch entschlossen, uns mit deiner Anwesenheit zu beehren.« Lucas klang wie ein Schuljunge, der seinen Text vom Skript eines Erwachsenen ablas.
»Der Bus hatte Verspätung«, sagte ich und hasste mich dafür, dass ich immer glaubte, mich entschuldigen zu müssen. So war ich einfach – nie wollte ich, dass irgendwer sauer auf mich war, auch wenn es dazu überhaupt keinen Grund gab.
»Hier, fass mal eben mit an, ja?«
Ich holte tief Luft. »Klar. Was soll ich machen?«
Es dauerte einen Moment, bis er antwortete. Ich spürte seine Blicke. Ich selbst guckte überallhin, nur nicht zu ihm – die Klebereste an der Wand erinnerten mich daran, wo früher mal unsere Teenie-Poster gepappt hatten, die ausgeblichenen rosa Gardinen, die schon, solange ich zurückdenken konnte, müde vor dem Fenster hingen, der halb abgebaute Kleiderschrank, in dem mal meine Sachen gehangen hatten.
»Halt das, ich drehe eben die Schrauben raus«, sagte er.
Mit beiden Händen hielt ich die Seitenwand des Schranks fest. So nah war ich ihm noch nie gewesen; ich konnte sein Aftershave fast schmecken. Angestrengt lauschte ich darauf, was unten im Haus passierte, und hoffte inständig, Fee möge gleich hochkommen. Aber es waren keine Schritte auf der Treppe zu hören, nur entfernte Stimmen.
»Ich gehöre ja jetzt quasi zur Familie«, raunte Lucas mir leise zu. Widerwillig sah ich ihn an. Er hatte Mitesser auf der Nase, einen Fünf-Tage-Bart ums Kinn. »Nächstes Jahr um diese Zeit bin ich dein Bruder.«
»Schwager«, korrigierte ich ihn hastig.
»Freust du dich auch schon darauf?«
»Was zum Teufel redest du da?« Nervös klammerte ich mich an das billige Holz.
Er lachte, dass die metallischen Füllungen blitzten. »Komm schon, Meredith. Jetzt tu doch nicht so prüde. Ich hab genau gesehen, wie du mich anguckst.«
Am liebsten hätte ich ihm ins Gesicht gespuckt. Ich stellte mir vor, wie ihm die Spucke von der Wange tropfte. Aber das würde ich natürlich nie machen. Dazu war ich viel zu nett. Stattdessen wurde ich stocksteif. Er glotzte mich weiter unverwandt an, und ich hielt den Atem an, bis Fee schließlich ins Zimmer platzte und uns anblaffte, warum es so verdammt lange dauerte, den beschissenen Schrottschrank abzubauen.
Nachher saßen wir auf der Treppe vor Mamas Haus und tranken Tee aus angeschlagenen Tassen, während wir Lucas hinterherschauten, der mit dem Lieferwagen wegfuhr.
»Endlich ziehst du aus«, sagte ich zu ihr und stupste sie mit der Schulter an.
Sie stupste zurück. »Nur ein paar Jahre später als geplant.«
»Ich weiß, dass wir damals nicht einfach hätten ausziehen können, sobald du sechzehn geworden bist«, sagte ich leise zu ihr. Ich hörte Mama in der Küche herumrumoren, aber sie hatte die unschöne Angewohnheit, urplötzlich wie aus dem Nichts hinter einem zu stehen. »Das wäre zu viel für dich gewesen, die Verantwortung für uns beide. Du hast auch so schon genug getan.«
Sie zuckte mit den Schultern. »Ich habe getan, was ich konnte.«
»Und du hast es gut gemacht«, versicherte ich ihr.
»Nächstes Jahr heirate ich.« Sie sagte es ganz nüchtern, als müsse sie sich immer noch selbst vergewissern.
Ich trank meinen Tee und schaute Mut suchend in den Himmel. Jetzt war der Moment, ihr zu stecken, was Lucas vorhin oben zu mir gesagt hatte und wie unwohl ich mich immer in seiner Nähe fühlte. Wie sehr ich die Gesellschaft des Mannes, der meine Schwester vorgeblich liebte, verabscheute. Ich stellte mir die Szene vor, fand aber nicht die richtigen Worte, fand keinen glücklichen Ausgang für diese Geschichte. Ich fragte mich, ob ich ihn missverstanden, mir das alles nur eingebildet haben könnte, und ob man je über den Menschen hinauswachsen konnte, zu dem man erzogen worden war. Oder ob man dazu verdammt war, sich ein Leben lang so zu sehen, wie man es als Kind gelernt hatte.
Fee und ich saßen schweigend auf der Treppe, die leeren Tassen in der Hand, bis der weiße Lieferwagen zurückkam.