Tag 1.333

Mittwoch, 13. März 2019

Ich sitze in der Küche und bin gerade dabei, das neue Tausend-Teile-Puzzle vom Bahnhof Antwerpen-Centraal Station anzufangen, als es an der Haustür klingelt. Ich wappne mich innerlich für ein bisschen Smalltalk mit dem Tesco-Lieferanten – der kommt heute eine Viertelstunde zu früh, höchst ungewöhnlich eigentlich.

Aber es ist nicht der Tesco-Bote.

»Deine Haare sind so lang«, ist das Erste, was meine Schwester zu mir sagt. Das Erste, was sie seit drei Jahren zu mir sagt.

Schwankend klammere ich mich an den Türrahmen. Wahllose, unwillkommene Erinnerungen prasseln auf mich ein, harsche Worte drängen sich ungebeten in meinen Kopf. Ich atme durch die Nase ein und lasse die Luft dann langsam und hörbar wieder durch den Mund ausströmen. Ganz reglos stehe ich da, starre sie an, halte mich mühsam aufrecht und atme einfach nur ein und aus, unfähig, auch nur ein Wort zu sagen.

Fee sieht mich an und wartet. Sie weiß nicht, was ich machen werde, und ich weiß es auch nicht. Endlich platze ich heraus: »Ich dachte, du bist der Tesco-Bote.« Das ist das Einzige, was ich gerade herausbringe. Diesen Augenblick habe ich mir nicht einmal in meinen kühnsten Träumen vorzustellen gewagt, weil er zu groß ist, zu gewaltig, und ich kann ihn nur ertragen, wenn ich dabei an meine Einkäufe denke.

Sie sieht verändert aus. Die Haare sind kürzer, grau meliert, und die Brille habe ich auch noch nie gesehen. Sie trägt einen wattierten Parka mit riesengroßer Fellkapuze, dazu Poloshirt, Jeans und Schnürstiefeletten aus dem Schnäppchenmarkt. Ihre Wangen sind gerötet: ob vor Nervosität oder vom eisigen Wind weiß ich nicht. Die Hände hat sie tief in den Taschen vergraben, und sie hat keine Handtasche dabei.

Es ist einfach nur Fee. Meine Schwester. Auf meiner Türschwelle.

Ich starre sie an, zwinge sie, etwas zu sagen. »Ich … ich … es tut mir leid … ich wusste nicht …« Sie räuspert sich. »Ich wusste nicht, was ich machen soll. Ich wusste nicht mal, dass ich herkommen würde. Aber ich bin heute Morgen aufgewacht und dachte, es ist Zeit. Ich bin gleich nach der Arbeit losgefahren.«

Noch immer sage ich kein Wort. Aber ich mache die Tür auf und trete einen Schritt beiseite, um sie einzulassen.

Schweigend gehen wir in die Küche, weil keine von uns beiden sich traut, belangloses Zeug zu reden. Ich setze Wasser auf und werfe Teebeutel in die Kanne. Ich stehe mit dem Rücken zu ihr, aber zu wissen, dass sie da ist, ist fast zu viel für mich. Ich fange wieder an, bewusst zu atmen, versuche, Jahre des Schmerzes und der Kränkung wegzuatmen.

»Ich habe ihn verlassen«, sagt sie schließlich.

Ich umklammere die Teekanne, warte ein paar Sekunden, ehe ich den Deckel abnehme und kochendes Wasser hineinschütte. Ich tue Dinge, die ich ohne nachzudenken kann, die ich nicht mal vermasseln könnte, wenn ich es wollte. Ich nehme zwei Tassen aus dem Schrank, Milch aus dem Kühlschrank, Zucker, Teelöffel. »Wie viel?«, frage ich mit einem flüchtigen Blick zu ihr.

»Was?« Fragend sieht sie mich an.

»Zucker?« Als sei die Frage, wie sie ihren Tee trinkt, wichtiger als die Tatsache, dass sie nach sechzehn Jahren Ehe ihren Mann verlassen hat.

»Einen Löffel«, sagt Fee.

Ich reiche ihr die Tasse und sehe, dass sie den Ring noch trägt.

»Du trägst deinen Ehering noch«, sage ich. Es klingt wie ein Vorwurf.

»Ich bin noch nicht so weit, ihn abzunehmen«, sagt sie kleinlaut. »Aber ich habe Lucas verlassen. Vor einer Woche bin ich ausgezogen.«

»Warum?«, frage ich. »Warum ausgerechnet jetzt? Warum jetzt, nach all den Jahren? Warum nicht damals schon?«

Eine Erinnerung platzt mir unvermittelt in den Kopf: meine Beckenknochen, schmerzhaft gegen den Rand der Spüle gepresst; der Geruch von abgestandenem Bier; unmelodische Klavierklänge von irgendwo aus dem Haus. Ich balle die Hand fest zur Faust, bis meine Fingernägel sich in die Handfläche bohren, um mich wieder ins Hier und Jetzt zurückzuholen.

Fiona nippt an ihrer Tasse, aber der Tee ist noch zu heiß, und sie verzieht das Gesicht. Ich glaube, sie wartet auf die Aufforderung, sich doch an den Küchentisch zu setzen. Früher hätte sie sich einfach ganz freimütig auf einen der Stühle gesetzt, unter Geschwistern braucht es keine Aufforderung. Aber jegliche Vertrautheit zwischen uns ist lange verloren. Und ich will mich nicht setzen. Ich habe das Gefühl, die Situation besser kontrollieren zu können, wenn ich stehe, hier mitten in meiner Küche, in Pantoffeln, während ich darauf warte, dass meine Schwester mir in die Augen schaut. Dass sie etwas sagt.

Das Läuten der Türklingel ist wie eine Erlösung.

»Das ist bestimmt der Tesco-Lieferant«, sagt sie.

»Warum?«, frage ich wieder, nachdem ich meine Einkäufe in der Küche abgestellt habe. Fahrig hantiere ich herum, mache mich daran, alles wegzuräumen, während ich in Gedanken ganz woanders bin. Geistesabwesend stopfe ich ein ganzes Huhn in eine schon übervolle Gefrierschrankschublade, stapele Konservendosen wahllos ins falsche Regal.

»Er ist ein brutales Arschloch«, sagt sie.

»Ach, echt «, murmele ich leise.

»Ich habe viel zu lange gebraucht, das einzusehen. Ihn zu sehen, wie er wirklich ist. Es tut mir so leid, Meredith. Ich … ich kann es mir selbst nicht erklären. Es war … als wäre ich eine Marionette, verstehst du? Er hatte mich völlig in der Hand, und es hat Jahre gedauert, bis ich das endlich kapiert habe. Es tut mir leid.«

Wie lange habe ich darauf gewartet, das zu hören. Vier kleine Worte, die alles oder nichts bedeuten können. Ich weiß nicht, was ich erwartet habe – was dann passieren, was ich dann empfinden würde. Alles ist noch genauso wie vorher. Fred streicht mir schnurrend um die Beine. Sein Schwanz mit dem samtweichen Fell streift meine Knöchel, dann huscht er davon. Am liebsten möchte ich ihn auf den Arm nehmen, ihn an mich drücken, ins Wohnzimmer gehen und mir einen alten Film ansehen, den ich schon tausend Mal gesehen habe. Ich will, dass Fee geht und ihr »Es tut mir leid« mitnimmt.

»Es tut mir leid«, sagt sie wieder.

»Setz dich«, sage ich zu ihr, fege die Puzzleteile von Antwerpen-Centraal wieder zusammen und stopfe sie unsanft in ihre Schachtel. Setze den Deckel drauf, schiebe sie auf die andere Seite des Tischs, weit weg von uns.

Wir sitzen einander gegenüber, warten, trinken Tee. Immer, wenn ich sie anschaue, muss ich den Blick gleich wieder abwenden, weil sonst der Schmerz durch meinen ganzen Körper fährt wie ein Blitzschlag.

»Meredith, es tut mir leid.«

»Hör auf, das dauernd zu sagen.«

»Ich weiß nicht, was ich sonst sagen soll. Wenn es die Sache besser macht, mein Leben ist ein Desaster.«

»Es geht hier nicht nur um dich, Fiona«, blaffe ich sie an. Sie guckt gekränkt, aber das ist mir gleich. Ich will, dass meine Worte sie genauso treffen, wie ihr Schweigen mich getroffen hat.

»Ich wollte dir nicht glauben«, sagt sie. »Es war leichter, ihm zu glauben. Ich weiß nicht, wie ich das je wiedergutmachen soll. Ich meine, willst du das überhaupt?«

»Ich weiß es nicht«, antworte ich ganz ehrlich. Ich betrachte meine Finger, lang und schlank, die meine Tasse halten. »Ich verstehe immer noch nicht, warum du hier bist. Was ist denn jetzt anders?«

Als ich endlich wieder aufschaue, laufen ihr die Tränen übers Gesicht. »Ich habe wieder ein Baby verloren.«

»Ach, Fee«, flüstere ich und bin selbst ganz erschrocken von dem überwältigenden Mitgefühl, das mich allem Schmerz zum Trotz erfasst.

Wir waren vierundzwanzig und fünfundzwanzig und hielten uns für erwachsen. Aber eigentlich waren wir noch Kinder.

So lange war ich noch nie mit Lucas allein gewesen wie an diesem Tag im sterilen Krankenhauswartezimmer, wo wir saßen, während meine Schwester blutend in einem Zimmer den Gang hinunter lag. Sie war zuerst meine Schwester, damals, an diesem Tag, und dann erst seine Frau.

»Sag mir noch mal ganz genau, was passiert ist«, verlangte ich.

Er schaute von seinem Handy auf, mit Augen wie zwei kalte graue Steine. »Sie hat einfach geblutet. Hab ich dir doch schon gesagt.« Unwirsch, als wolle er bloß seine Ruhe haben.

»Als du aus dem Pub nach Hause gekommen bist?«

»Ja. Ich dachte, sie schläft. Ich hab mir ein Käse-Toast gemacht und bin nach oben ins Schlafzimmer gegangen. Sie war im Badezimmer. Lag da auf dem Boden.«

»Bewusstlos.« Das war keine Frage.

»Jep.« Sein Handy summte, er schaute drauf. »Bewusstlos.«

»Und was hast du dann gemacht?«

»Ich hab meinen Käse-Toast gegessen.«

»Du hast deinen Käse-Toast gegessen?«

»Ich hab meinen Käse-Toast gegessen.«

Ich ballte die Fäuste. Er machte sich über mich lustig. Eine Schwester hastete an uns vorbei und lächelte uns flüchtig zu. Ich konnte nur hoffen, dass sie nicht glaubte, wir gehörten zusammen, ein Pärchen, das sich über Banalitäten wie Käse-Toasts unterhielt, während es aufgeregt und nervös auf den Ultraschall wartete, bei dem es zum ersten Mal sein Baby sehen würde. Mir wurde übel bei der Vorstellung.

»Meredith, ich dachte, sie ist sternhagelvoll. Es war zwei Uhr morgens.«

»Sie war nicht sternhagelvoll.« Wütend funkelte ich ihn an. »Sie hatte eine Fehlgeburt.«

»Tja, das konnte ich aber nicht wissen, oder? Ich wusste ja nicht mal, dass sie schwanger war. Und du auch nicht, so wie’s aussieht.«

Ich verschränkte die Arme und versuchte, mich zu beherrschen. Fee war schon ziemlich lange in dem Zimmer den Gang hinunter. »Ich gehe jetzt mal nachfragen, was da los ist.«

Er zuckte die Achseln, zog sich den Kragen der Jacke bis zu den Ohren und glotzte wieder ins Handy.

Erst zehn Minuten später durfte ich endlich zu ihr. »Wir haben heute so viele Notfälle«, erklärte eine der Schwestern entschuldigend, als sie mich in Fees Zimmer führte. »Aber Sie können sie nachher schon wieder mit nach Hause nehmen.«

»So bald?«

»Aber ja. Es sei denn, ihr Zustand verschlechtert sich. Zu Hause in ihrem eigenen Bett ist sie am besten aufgehoben. Sie können uns jederzeit anrufen, sollten Sie sich irgendwie Sorgen machen.«

Fee sah aus wie ein Kind, wie sie mit schmalem, blassem Gesicht in den Kissen lag. »Ich habe eine Windel an«, sagte sie zu mir, und dann mussten wir beide heulen.

Ich setzte mich auf den kalten Plastikstuhl und nahm ihre Hand.

»Weiß Mama es?«, fragte sie.

»Ich hab sie noch nicht angerufen«, gestand ich. »Ich wollte dich erst sehen.«

»Ich rufe sie an, wenn ich wieder zu Hause bin. Ist ja Quatsch, dass sie herkommt. Sie hasst Krankenhäuser.«

»Wer hasst die nicht? Aber ich finde, du dürftest nicht hier auf der Station liegen. Überall Babys. Wie unsensibel.«

»Wo soll ich denn sonst hin?«, fragte sie leise. »Aber es ist schon okay. So was kommt halt vor.«

»Wusstest du es?« Ich dachte an Lucas’ Seitenhieb und fragte mich, warum sie mir so eine kolossale Neuigkeit verschwiegen hatte.

Sie nickte. »Meine Periode kam nicht. Die ist sonst immer pünktlich. Und meine Brüste waren steinhart. Ich wollte es dir sagen. Ich wollte dich heute anrufen und dich fragen, wie du es fändest, bald Tante Meredith zu sein.«

»Ach, Fee.«

»Es war nicht geplant. Lucas … der ist noch nicht so weit. Wo steckt der eigentlich?«

»Im Wartezimmer am Handy.«

»Bestimmt schreibt er seiner Mum und seiner Schwester, was passiert ist.«

»Er ist ein Arsch, Fee. Willst du wirklich ein Kind von dem?«

Sie zog die Hand weg. »Meredith, er ist mein Mann. Natürlich will ich ein Kind von ihm.«

»Ernsthaft?«

»Ja, ernsthaft. Ich liebe ihn.«

»Er hat dich nicht verdient.«

Sie seufzte. »Das würdest du bei jedem Mann sagen.«

»Gar nicht wahr. Er hat einen Käse-Toast gegessen, während du bewusstlos auf dem Badezimmerboden gelegen hast. Es gibt da draußen eine Menge Männer, die so was nicht machen würden.«

»Tja, dann sieh mal zu, dass du einen von denen heiratest«, motzte sie.

»Ich heirate nicht. Was für ein Blödsinn.«

»Wenn du meinst.«

»Meine ich.« Ich griff wieder nach ihrer Hand, und sie ließ mich. »Wenn du ein Kind bekommst, werde ich die beste Tante Meredith überhaupt«, versprach ich ihr.

»Das weiß ich doch.« Sie drückte meine Hand. »Ich hab dich lieb, Mer.«

»Ich dich auch.«

»Kannst du Lucas reinschicken?«

Danach saß ich allein im Wartezimmer und starrte in die Seiten uralter Zeitschriften, ohne auch nur ein einziges Wort zu lesen. Ich saß da, bis Fee und Lucas Hand in Hand aus dem Zimmer kamen. Sie hatte rote, verquollene Augen, seine waren immer noch kalt und steingrau.

Ich sitze auf dem Boden, mit dem Rücken gegen die Heizung. Da ist ein kleiner Knubbel im Linoleum, der einfach nicht weggeht, so fest ich auch drücke. Ich fahre mit dem Daumen darüber. Hin und her, hin und her. Mein Blick schweift durch die Küche. Ich würde jetzt Eintopf kochen, wenn sie nicht da wäre. Das ärgert mich. Ich starre auf ihren Rücken, der sich über den Tisch beugt.

»Wo wohnst du denn jetzt, wenn du zu Hause ausgezogen bist?«

Sie wird stocksteif. Ich kann es mir längst denken. Aber ich will es von ihr hören.

»Was meinst du denn?«

»Bei ihr?«

Sie dreht sich um, sieht mich an, zerrissen und müde. »Meredith, wo sollte ich denn sonst hin?«

»Weiß sie, dass du hier bist?«

Sie schüttelt den Kopf, ohne mich anzusehen.

»Ich müsste eigentlich Eintopf kochen.«

»Tut mir leid«, sagt sie zum vierzigsten Mal.

Kurz überlege ich, einfach anzufangen zu kochen und sie dumm am Tisch sitzen zu lassen. Aber ich bleibe, wo ich bin, während mein Hinterteil auf dem harten Boden langsam einschläft. Ich reibe, reibe, reibe über den winzigen Knubbel.

»Weißt du noch, als wir einmal bei Tante Linda gewohnt haben? Ich muss ungefähr acht gewesen sein … Und du sechs.«

»Ganz vage«, erwidere ich argwöhnisch.

»Sie hat uns aus der Schule abgeholt und uns in ihren großen roten Wagen gesetzt. Hat uns gesagt, wir dürften ausnahmsweise bei ihr übernachten. Wir waren völlig aus dem Häuschen.«

»An den roten Wagen erinnere ich mich nicht mehr. Aber ich weiß noch, wie froh ich immer war, wenn wir bei Tante Linda sein durften. Ich wollte gar nicht mehr nach Hause.«

»Ich auch nicht. Weißt du, warum wir so lange da waren? Eine ganze Woche, glaube ich.«

»Ich weiß es nicht, Fiona, und es ist mir auch egal. Ich habe keine Lust, jetzt in Erinnerungen an einen Besuch bei Tante Linda zu schwelgen. Was bitte hat das mit alldem hier zu tun?«

Mit einem Ruck dreht sie sich auf der Küchenbank zu mir um und schaut mich an. Ihr Blick ist verzweifelt. »Mama hat versucht, sich umzubringen, und beinahe hätte es geklappt.«

Es läuft mir eiskalt den Rücken runter, obwohl ich noch immer gegen die warme Heizung lehne. »Woher zum Teufel weißt du das?«

»Ich habe ein Gespräch belauscht zwischen Tante Linda und einer Sozialarbeiterin. Sie haben darüber geredet, dass Mama in eine psychiatrische Klinik eingeliefert werden sollte. Die Sozialarbeiterin hat Tante Linda gefragt, ob wir so lange bei ihr bleiben können, bis sie eine Pflegefamilie für uns gefunden haben.«

»Und das sagst du mir erst jetzt?«

»Wann hätte ich dir das denn sagen sollen?« Fionas Stimme klingt jetzt schneidend. »Damals mit acht? Neun? Zehn? Was wäre ich denn bitte für eine große Schwester gewesen, dir zu erzählen, dass unsere Mutter so todunglücklich war, dass sie versucht hat, sich selbst das Leben zu nehmen und uns für immer zu verlassen?«

»Fiona, ich wünschte, sie hätte uns für immer verlassen.«

Ihr Atem geht schnell und flach. Sie reibt sich seitlich das Kinn, wie immer, wenn sie nervös ist.

»Ich sage dir das nicht, damit du Mitleid mit ihr hast.«

»Warum denn dann?«

»Meredith, es ist viel passiert, von dem du überhaupt nichts weißt.«

»Bestimmt. Aber es ist auch viel passiert, von dem ich sehr wohl weiß. Dass ich nie werde vergessen können, ganz gleich, wie viele verdammte Therapiesitzungen ich auch mache.«

»Ich gebe mein Bestes, Meredith.« Ihre Stimme ist zittrig; sie versucht krampfhaft, nicht zu weinen. Ich glaube, ich habe sie in all der Zeit, die ich sie nun schon kenne, erst zweimal weinen gesehen.

Ich muss daran denken, was sie alles durchgemacht hat, und werde weich. »Das weiß ich. Aber vielleicht ist es einfach zu spät.«

»Vielleicht. Aber ich will es wenigstens versuchen.«

Ich drücke mit dem Daumen auf den Knubbel im Bodenbelag, bis es wehtut. »Versuchen kannst du es.«

»Ich weiß, dass du das meiste abbekommen hast. Das weiß ich nur zu gut. Aber an mir hat sie es auch ausgelassen.«

»Was hat sie an uns ausgelassen, Fiona? Mutter zu sein? Einsam zu sein? Einen miserablen Männergeschmack zu haben?«

»Ich glaube, sie hatte auch keine schöne Kindheit.«

»Nimm sie jetzt bloß nicht in Schutz.«

»Tue ich gar nicht«, versichert meine Schwester rasch. »Ich versuche bloß, es irgendwie zu verstehen.«

»Das habe ich schon lange aufgegeben.«

»Ich glaube, du bist mir da ein paar Jahre voraus.«

»Da kommst du auch noch hin. Wenn du willst.«

»Können wir … zusammen dahinkommen?«

»Wie du schon sagtest, ich bin dir ein paar Jahre voraus.«

»Das stimmt. Hör zu, Meredith …«

Ich warte und kann die vielen Jahre des Schweigens fast greifbar zwischen uns spüren.

»Ich glaube dir. Das mit Lucas. Ich glaube es dir. Es tut mir leid, dass ich dir das nicht früher schon gesagt habe.« Sie klingt verzweifelt.

»Warum jetzt? Nach all der Zeit? Was ist jetzt anders?«

Dicke Tränen laufen ihr übers Gesicht. Ich muss mich zusammenreißen, sie nicht in den Arm zu nehmen und zu trösten, und warte einfach nur ab.

»Ich habe endlich begriffen, wie er wirklich ist, Mer«, flüstert sie.

Ich weiß, dass das längst nicht alles ist. Dass sie noch viel mehr sagen könnte. Aber ich will es nicht hören, nicht jetzt.

»Meredith, es tut mir so leid. Bitte gib mir eine Chance, es wiedergutzumachen.«

Ich fühle mich ganz taub, als hätte ich in der vergangenen Stunde die Gefühle eines ganzen Lebens aufgezehrt. Mein Magen knurrt; ich habe Hunger.

»Ich muss mir was zu essen machen«, sage ich. »Ich glaube, du gehst jetzt besser.«

Aber als sie dann weg ist und die Haustür hinter ihr ins Schloss gefallen ist, koche ich nicht. Ich bleibe noch eine ganze Weile auf dem Küchenboden sitzen. Irgendwann lasse ich mir ein heißes Bad ein, zünde Lavendel-Duftkerzen an und bleibe im Wasser liegen, bis ich irgendwann anfange zu zittern. Ich liege da und lasse den Tränen freien Lauf und weine schluchzend um die beiden kleinen Mädchen, um die verlorene Zeit, die sie nicht zurückholen können, und um die Mutter, die lieber sterben wollte.