Tag 1.334

Donnerstag, 14. März 2019

»Du siehst müde aus.«

»Geht schon.« Er hat recht, ich bin müde, aber nicht zu müde, um meinen Schutzwall zu verteidigen. Mir ist heute nicht danach, Tom hinter die Festungsmauern zu lassen.

»Ich weiß nicht, ob ich dir das glauben soll.«

»Ich weiß nicht, ob ich einen Pfifferling darauf gebe.« Ich schaue ihm in die freundlichen Augen und versuche, seinen Blick stahlhart und ungerührt zu erwidern. Nicht leicht angesichts seines unerbittlichen Mitgefühls. Ich weiß nicht, wie er das immer macht.

»Du hast nicht zufällig was Leckeres gebacken? Ich habe einen Bärenhunger.«

»Nein«, lüge ich. Auf meiner Küchenarbeitsplatte türmen sich zweiundsiebzig Käse-Scones, aufgestapelt zu einem veritablen Tupperware-Berg – das Ergebnis einer schlaflosen Nacht. Der Stapel muss ihm aufgefallen sein; so ein Plastik-Everest ist ja kaum zu übersehen. Aber ich will wissen, was passiert, wenn er mich beim Schwindeln erwischt.

»So kenne ich dich gar nicht«, stellt er nüchtern fest. Derweil male ich mir aus, wie der Turm einstürzt und die Scones kreuz und quer durch die ganze Küche kullern. Keine Ahnung, was ich mit zweiundsiebzig Scones anstellen soll. Tom tut, als sei nichts.

»Du glaubst echt, du kennst mich.«

»Meinst du nicht, dass wir uns inzwischen tatsächlich ganz gut kennen? Ich sehe dich öfter als die meisten meiner Freunde.«

Mit zusammengekniffenen Augen gucke ich ihn an. »Ach was.« Da ist so ein komisches Gefühl in meiner Magengrube.

»Meredith, entschuldige … das ist jetzt ganz falsch rausgekommen. Meine anderen Freunde, wollte ich sagen.«

»Auch egal.«

»Meredith, natürlich bist du für mich eine Freundin.«

»Ach?«

»Warum wundert dich das?«

»Weiß auch nicht. Sag du es mir, wo du mich doch so gut kennst.«

Tom seufzt. »Möchtest du einen Tee?«

»Nein, danke. Ich habe heute früh schon fünf Tassen getrunken. Ich bin seit vier Uhr morgens auf den Beinen. Bedien dich. Du weißt ja, wo alles ist.«

»Also doch müde. Meinetwegen musst du nicht so tun, als wäre alles bombig.« Tom sucht hinter meiner gepunkteten Tasse nach einer, die ich sonst nicht benutze. Ich schätze ihn dafür, dass er inzwischen weiß, dass ich meine Lieblingssachen habe. Dass ich ihm das nicht erst erklären muss.

»Tue ich doch gar nicht«, gifte ich seinen Rücken an.

»Meredith, ist irgendwas?« Er dreht sich um und lehnt sich gegen die Arbeitsplatte, überkreuzt die langen Beine unten an den Knöcheln. »Du kannst immer mit mir reden. Ich will dir helfen.«

»Ich glaube nicht, dass du mir helfen kannst, Tom. Und außerdem gehört das doch auch gar nicht zu deinen Aufgaben, oder? Du bist nicht mein Therapeut. Du bist nicht hier, um meinen Dachschaden zu reparieren. Du bist bloß da, um dich zu vergewissern, dass ich noch am Leben bin. Und nicht mausetot auf der Couch liege und vom armen verhungernden Fred angefressen werde.«

Ich sage das nur halb im Scherz. Den Gedanken habe ich tatsächlich hin und wieder. Was, wenn ich sterbe? Tagelang könnte ich hier liegen, ohne dass es irgendjemandem auffällt. Noch bin ich gesund und munter, aber was, wenn ich unvermutet einen Herzinfarkt erleide oder ein Hirnaneurysma und, zack, ist es aus?

»Ja, auch das. Wobei ich kaum glaube, dass Fred dich anfressen würde, es sei denn, du riechst durchdringend nach Thunfisch.«

»Ha, ha.«

»Aber egal, natürlich bin ich nicht hier, um irgendwas bei dir zu reparieren. Ich bin hier, um dir deinen Tee wegzutrinken und dein Gebäck wegzufuttern.«

Ich muss lachen.

»Lass mich nur eben meinen Tee austrinken, dann verschwinde ich wieder und lasse dich in Ruhe, einverstanden?«

»Na schön. Wobei … Ach, was soll’s – ich trinke auch eine Tasse. Wo du schon mal dabei bist.«

»Fein, fein.«

»Es ist ja auch nicht so, dass ich nicht mit dir reden will, Tom. Es ist bloß …«

»Schwierig. Verstehe ich.«

»Bis du hier reingeschneit kamst, habe ich eigentlich nie mit irgendwem über mich geredet. Ich meine, ich rede natürlich mit Sadie, aber die kennt mich schon immer, die weiß, wie es ist … und wie es war. Sie kennt Fiona, sie weiß … alles.«

»Sie gehört zu deinem Leben, zu deiner Geschichte.«

»Genau. Bei dir … bei dir gibt es immer so viel zu erklären. Mir brummt der Schädel, wenn ich nur dran denke.«

»Na ja, vielleicht brauchst du mir ja gar nicht alles zu erklären? Vielleicht nur das, von dem du denkst, es könnte helfen, darüber zu reden?«

»Vielleicht …« Plötzlich habe ich einen Kloß im Hals. Ich trinke einen Schluck Tee, aber das tut weh. Ich weiß nicht, ob mir deswegen die Tränen kommen, aber plötzlich sind sie da und laufen mir über beide Wangen.

»Meredith …«, sagt er ganz sanft, und ich muss noch mehr weinen.

»Entschuldige, das ist albern.«

»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen, verstanden? Trink deinen Tee.« Er kramt ein frisches Taschentuch aus der Hosentasche und legt es mir hin. Er ist der einzige Mann, den ich kenne, der immer ein frisch gewaschenes und gebügeltes Stofftaschentuch in der Hosentasche hat.

»An was für einem Puzzle sitzt du gerade?«

»Antwerpen-Centraal.«

»Wow. Kniffelig. Also … pass auf … was machst du, wenn du, sagen wir, ein bestimmtes Puzzleteil einfach nicht finden kannst? Ein Stückchen Sonnenuntergang, nehmen wir mal an. Wirfst du dann das ganze Puzzle an die Wand?«

»Natürlich nicht. Nie. Ich … ich würde vermutlich eine kleine Pause machen. Die Blumen gießen. Ein Buch lesen. Sadie anrufen. Backen.«

»Und wenn du dich dann wieder an dein Puzzle setzt, findest du das Teil dann?«

»Meistens schon. Früher oder später findet man sie alle. Oder ich mache einfach irgendwo anders weiter.«

»Genau das machen wir hier auch, Meredith.«

»Mich irgendwie wieder zusammensetzen?«

Tom lacht. »Uns Zeit lassen. Verschiedenes ausprobieren. Alles zu seiner Zeit.«

»Wirklich clever, dein kleiner Puzzlevergleich, Tom.«

»Danke. Aber du verstehst schon, was ich meine, oder? Freundschaften brauchen Zeit. Alles braucht seine Zeit.«

»Ich habe meine Schwester gestern gesehen. Sie stand plötzlich vor der Tür.«

»Wow. Und, wie war das für dich?«

»Ich glaube, ich habe es noch gar nicht richtig kapiert. Ich weiß nicht, wie es mir damit geht.«

»Verständlich.«

»Ihr Mann hat mich vergewaltigt.«

Kaum ausgesprochen, frage ich mich, ob ich das gerade wirklich laut gesagt habe, oder vielleicht doch eher so was wie »Möchtest du einen Käse-Scone? Entschuldige, dass ich dich angeschwindelt habe. Natürlich hab ich was gebacken. Ich hab heute früh um vier zweiundsiebzig Käse-Scones gebacken, weil ich nicht schlafen konnte, und wäre ich auch nur einen Augenblick länger im Bett liegen geblieben, hätte ich vermutlich das schärfste Messer aus der Küchenschublade geholt und mir die Pulsadern aufgeschlitzt.«

Ich scheine es tatsächlich gesagt zu haben, denn Tom starrt mich an, als hätte ich plötzlich zwei Köpfe oder so was.

»Der Mann deiner Schwester?«

Ich nicke. »In der Küche im Haus meiner Mutter. Sie und Fiona waren im Wohnzimmer. Fiona wollte es mir damals nicht glauben, aber jetzt sagt sie, sie glaubt mir. Meine Mutter habe ich seit dem Abend nicht mehr gesehen.«

Tom ist weiß wie die Wand. »Meredith … wow … Das tut mir so leid. Was für ein …«

»Albtraum.«

»Hm … ja, ein Albtraum. Ich meine … mir fehlen die Worte. Tut mir leid, ich … damit habe ich nicht gerechnet.«

»Ich auch nicht.«

»Was glaubst du, wie es jetzt weitergeht, mit dir und deiner Schwester?«

»Keine Ahnung.«

»Was wünschst du dir denn, wie es weitergehen soll?«

»Keine Ahnung«, sage ich abermals und fühle mich dabei so hilflos. »Sie hat ihn verlassen. Sie möchte es irgendwie wiedergutmachen.«

Fee hat mir gestern Abend geschrieben. Ich bin für dich da. Wann, wo, wie auch immer du mich brauchst. Lass mich dir helfen, Mer.

Das hättest du mir damals sagen sollen , habe ich gedacht. Aber nachdem ich im Kopf mehrere Antworten durchgegangen war, schrieb ich bloß: Das geht mir zu schnell.

Sofort kam ihre Antwort zurück: Verstehe ich. Ich hab dich lieb. xxx

Du hast kein Recht, mir das zu sagen, habe ich empört gedacht und das Telefon wutentbrannt in die Nachttischschublade geknallt. Dann habe ich nach dem nächstbesten Buch gegriffen – irgendeins, das Sadie mir geliehen hat, über emotionale Entgiftung – und denselben Absatz gleich viermal gelesen. Nur um danach die Schublade wieder aufzumachen.

Ich hab dich auch lieb , habe ich ihr geschrieben, denn das stimmt, trotz allem.

»Ich bin froh, dass du da bist«, sage ich zu Tom. »Ich glaube, ganz allein wäre das heute ziemlich heftig geworden.«

Er sieht mich mit seinem mitfühlenden, sorgenden Blick an und lässt mir wie immer genügend Raum, selbst zu entscheiden, wie es weitergehen soll.

»Wollen wir einfach hier sitzen und gar nichts weiter machen?«, frage ich ihn.

Er greift nach der Fernbedienung. »Genau das machen wir.«