2015

Ich ging an dem Abend zu Fuß von Mama nach Hause, so wie immer. Von Tür zu Tür waren es genau siebenundzwanzig Minuten. Fiona und Lucas stiegen fast zeitgleich ins Auto. Ich sah, wie meine Schwester im Vorbeifahren die Hand hob und mir zuwinkte. Ich hatte die Hände fest zu Fäusten geballt und tief in den Manteltaschen vergraben.

Ich starrte dem Wagen nach, bis er auf dem Weg zu ihrer Drei-Zimmer-Neubau-Wohnung am Stadtrand um die nächste Ecke bog. Ich fragte mich, worüber sie wohl gerade redeten. Ob sie das Essen, das ich mitgebracht hatte – Chow Mein und gebratenen Reis Spezial –, mit dem von ihrem Chinesen verglichen? Oder darüber lachten, wie Mama versucht hatte, auf dem Klavier die »Ode an die Freude« zu spielen, wie sie mit eingesunkenen Augen angestrengt in das vergilbte Liederbuch geguckt und sich mit den Schneidezähnen auf die Unterlippe gebissen hatte, während ihre mageren Finger sich über die Tasten spannten. Ob sie sich fragten, warum Meredith noch immer nicht verheiratet war, warum Meredith sich nicht einfach mal locker machte und mittrank, warum Meredith immer so unentspannt sein musste.

Mich mitzunehmen boten sie mir schon lange nicht mehr an, weil ich immer dankend ablehnte. Ich ging gerne zu Fuß. Ungefähr zehn Minuten dauerte es, alle falsche Freundlichkeit und Gefälligkeit abzuschütteln, während ich an nichts anderes denken konnte, als endlich nach Hause zu kommen und laut in ein Kissen zu schreien.

»Meredith!« Ihre Stimme ließ die Stille ringsum zerspringen. Ich blieb stehen.

Barfuß und mit einem alten Trenchcoat über dem Paillettenkleid stand Mama auf der Straße. Sie verschwand fast darin; er war so lang, dass er beinahe über den Gehweg schleifte. Der Gürtel fehlte. Sie musste die Arme verschränken, damit er nicht aufflatterte. Ich hatte diesen Mantel noch nie gesehen. Kurz fragte ich mich, wo sie den wohl herhatte, aber ich wollte es eigentlich gar nicht wissen.

Ein Moment kann das ganze Leben verändern, zum Guten wie zum Schlechten. Menschen tun ihren ersten und ihren letzten Atemzug. Autos verunglücken, Flugzeuge stürzen ins Meer. Heilung nach Jahrzehnten des Schmerzes kann mit einer schlichten Geste beginnen.

Oder einer Frage wie: »Alles in Ordnung?«

Irgendetwas in der Art hätte ich mir an diesem Abend von ihr gewünscht. Es hätte so viel ausmachen können, hätte den Horror ein wenig abmildern können. Hätte mir die Hoffnung geben können, dass ich, vielleicht, eines Tages, darüber hinwegkommen könnte, was Lucas mir eben angetan hatte.

Aber das war kein solcher Moment.

»Ich brauche ein bisschen Geld.« Sie verzog das Gesicht, als hätte ich sie um einen Gefallen gebeten, dabei wollte ich doch bloß nach Hause und in mein Kissen schreien.

Ich atmete tief durch. »Wofür?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Dies und das. Hilf deiner alten Mama ein bisschen, ja?«

»Ich habe kein Geld dabei. Ich überweise dir was, sobald ich zu Hause bin.«

»Du bist ein braves Kind, Engelchen.« Irgendwie klang das fast wie eine Beleidigung, als wäre ich bloß brav, weil ich nichts anderes war. »Komm doch noch mit rein und trink ein Gläschen mit mir, hm? Ein kleiner Absacker. Nur wir beide.«

»Nein danke, Mama.« Langsam rückte ich von ihr ab. »Ich bin müde. Danke fürs Abendessen. Ich kümmere mich um das Geld. Fünfzig Pfund. Aber mehr auch nicht.«

»Jawohl, Ma’am.« Sie hob die Hand zu einem spöttischen Salut. Wie sie so dastand auf dem Bürgersteig, sah sie aus wie ein kleines Mädchen, das seiner Mutter die Sachen aus dem Schrank stibitzt hatte. Ihre Miene war nicht zu deuten.

Ich wurde nicht festgehalten.

Ich wurde nicht betäubt.

Ich wurde nicht mitten in der Nacht in eine dunkle Gasse gezerrt.

Er hat mir nicht den Mund zugeklebt.

Er hat mir nicht die Hände hinter dem Rücken gefesselt.

Er hat mir nicht die Unterwäsche vom Leib gerissen.

Unvermittelt wurde es eiskalt auf meinem kurzen Heimweg. Ich ging schneller, und um mich von der einsetzenden Kälte abzulenken, hielt ich Ausschau nach den Häusern, die ich noch aus meiner Kindheit kannte. Manche hatten sich seitdem verändert, hatten moderne Anbauten und neue Fenster bekommen und schicke Autos in der Auffahrt. Andere, wie das von Mama, sahen noch genauso aus wie damals, bloß älter und verwohnter, mit verwitterter Fassade, fadenscheinigen Gardinen und ungepflegtem Rasen. Mr Lindsay, mein alter Mathelehrer, hatte eine Affäre mit Mrs MacGowan, der Englischlehrerin, gehabt. Ich fragte mich, wer wohl jetzt in dem Bungalow mit der grauen Tür wohnte.

Julianne Adair, ein Mädchen aus meiner Grundschulklasse, wohnte damals nur vier Häuser vom armen Mr Lindsay entfernt. Das Haus gehört immer noch ihren Eltern, aber den Sommer über steht es leer, weil sie den mit ihrem Wohnmobil am Loch Lomond verbringen. Mama kann die Adairs nicht ausstehen; sie meint, die hielten sich für was Besseres, seit sie damals vierundzwanzigtausend Pfund im Lotto gewonnen haben. Mama mag es nicht, wenn Leute sich für was Besseres halten. Das Glück oder den Fleiß der anderen scheint sie als persönlichen Affront zu empfinden.

Und dann musste ich an Julianne Adair denken, wie ich so nach Hause lief. Die hatte ich seit Jahren nicht mehr gesehen. Keine Ahnung, wo sie jetzt steckte und ob sie auch heute noch den ganzen Sommer bei ihren Eltern im Wohnmobil am Loch Lomond verbrachte. Ich weiß noch, wie die anderen Kinder sie immer gepiesackt haben, weil sie so schielte. Im siebten Schuljahr hatte sie dann eine Augen-OP , das Schielen verschwand, und danach fing sie an, die anderen Kinder zu piesacken. Ich erinnere mich vage an eine Reiberei mit Sadie auf dem Mädchenklo – ich muss sie mal fragen, was damals eigentlich los war. Sie hat bei so was ein viel besseres Gedächtnis als ich.

Der Gedanke an Julianne Adair, ein Mädchen, das mir damals schon völlig gleich gewesen ist, und heute erst recht, eine Frau, die ich womöglich mein ganzes Leben lang nicht wiedersehen werde, half mir, irgendwie nach Hause zu kommen.

Ich habe nicht versucht, mich loszureißen.

Ich habe mich nicht gewehrt.

Ich habe mir keinen Nagel abgebrochen, habe keine Hautreste unter den Fingernägeln.

Ich habe nicht geblutet.

Ich habe nicht geweint.