Tag 1.341

Donnerstag, 31. März 2019

Es ist ungewohnt heiß für diese Jahreszeit. Der Frühling ist da und fühlt sich fast wie Sommer an. Jacobs Kirschbaum steht in voller Blüte. Innerhalb von Tagen sind die Knospen aufgesprungen, und der Baum sieht aus wie eine gigantische rosarote Zuckerwattewolke. Ich habe Celeste ein Foto davon geschickt und ihn Tom gezeigt, als der vormittags vorbeikam.

»In ein, zwei Wochen ist alles vorbei«, sagte ich, »und der Bürgersteig sieht aus wie ein dicker rosa Flokati.«

»Ein kurzes Leben«, sinnierte er. »Genau wie unseres.«

Ich starrte ihn an. »Ja, aber er blüht jedes Jahr. Jedes Frühjahr erwacht er wieder zum Leben.«

Nachdenklich betrachtete er den Baum. »Vielleicht sollten wir ein bisschen achtsamer mit unserem Leben umgehen«, sagte er.

»Du bist heute echt komisch drauf«, brummte ich und ließ ihn einfach vor der Haustür stehen.

Ich habe die Fenster im ganzen Haus aufgerissen, und die Zimmer sind voller Sonnenflecken und schimmernder Staubwolken und den fernen Stimmen der Kinder, die draußen in den Vorgärten spielen. Ich klemme die Tür zum Garten auf, und Tom und ich schleifen unsere Küchenstühle so nahe wie möglich an den kleinen kahlen Betonflecken, der kaum als Garten durchgeht. Aber die Mauern ringsum sind hoch, und der Himmel ist blau.

Ich nehme die große Pflanze aus dem Topf und drehe den Topf um – als kleiner Behelfstisch zwischen unseren Stühlen. Wir trinken heute ausnahmsweise keinen Tee. Weil wir nämlich der einhelligen Meinung sind, zu wenig frisches Obst zu essen, habe ich uns mit meinem neuen Smoothie-Maker, der fast schon futuristisch wirkt, wie er da so modern und hochglänzend auf meiner Arbeitsplatte in der Küche steht, Smoothies gemacht.

»Was für ein herrlicher Tag.« Genüsslich strecke ich die Beine aus, bis meine Zehen beinahe über die Türschwelle ragen. Meine Füße sind nackt, und angetan betrachte ich das Ergebnis meiner abendlichen Pediküre. Ich habe mir die Zehennägel in einem dunklen, satten Bordeauxrot lackiert. Gestern Abend sahen sie beinahe schwarz aus, aber im hellen Morgenlicht schimmern sie blutrot. Ich bin hochzufrieden.

Fast will ich Tom vorschlagen, auch Schuhe und Socken auszuziehen, überlege es mir aber noch mal anders. So dicke sind wir noch nicht, dass es nicht irgendwie seltsam wäre, wenn er barfuß durch mein Haus liefe. Neben seinen Turnschuhen wirken meine Füße winzig klein. Ich wackele mit den Zehen und genieße das luftige Gefühl auf der Haut.

Mal abgesehen davon, dass er mir mehrmals glaubhaft versichert, ich sei unglaublich, weil ich es doch tatsächlich bis ans Ende meines Gartenpfads geschafft habe, sagt Tom nicht viel, was ihm so gar nicht ähnlich sieht. Sonst ist er eigentlich eine ziemliche Plaudertasche.

»Hey, ist alles okay?« Ich gebe mir Mühe, ganz beiläufig zu klingen.

»Bestens, ja«, erwidert er, ohne mich anzuschauen. Er hat den Blick auf einen Punkt in der Ferne jenseits meiner Gartenmauern geheftet.

»Das glaube ich dir nicht«, sage ich zu ihm und muss an die Kirschblüten denken.

Er seufzt. »Bloß einer dieser Tage.«

»Diese Tage sind echt ätzend.«

Er nickt. »Das kannst du laut sagen.«

»Wie ist der Smoothie? Ich hab dauernd Himbeerkerne zwischen den Zähnen, das macht mich total kirre. Typischer Anfängerfehler.«

»Also, ich finde ihn echt lecker. Wie vom Doktor verschrieben.«

Schweigend sitzen wir da. Ich schau einem Vögelchen zu, das auf dem Zaun landet und wieder wegfliegt, und frage mich, wo es wohl herkommt und wo es hinwill. Wie es sein muss, einfach kommen und gehen zu können, wie es einem gefällt. So klein zu sein, dass man auf dem dünnsten Zweig sitzen kann, ein zierlicher Hochsitz, von dem aus man die ganze Welt sieht.

»Wenn du ein Tier wärst, welches wärst du am liebsten?«

Er lacht. »Du stellst immer die tollsten Fragen, Meredith Maggs. Ich muss gestehen, darüber habe ich mir eigentlich noch nie Gedanken gemacht. Ich meine, ich liebe Katzen.«

Er weist auf Fred, der auf der Betonplatte gleich vor der Tür liegt. Er ist ein echter Stubentiger, weiter raus traut er sich nie.

»Aber wärst du gern eine Katze?«

Tom betrachtet meinen kätzischen Kumpel. »Hmm. Ich weiß nicht. Vielleicht ein Äffchen. Ich wollte immer schon gelenkiger sein. Mich mit meinen kleinen Affenfreunden von Ast zu Ast durch den Urwald zu hangeln, tolle Vorstellung.«

Ich muss lachen und sprühe dabei versehentlich einen Schluck Smoothie über mein Sweatshirt. Mir vorzustellen, wie Tom kopfüber am Schwanz von einem Ast baumelt, ist einfach zu viel.

»Mist«, stöhne ich und schaue mich nach einem Lappen um, um die Schweinerei wegzuwischen. Das Geschirrtuch hängt am Ofengriff auf der anderen Seite der Küche. »Da hast du es. Mit mir kann man sich nirgends blicken lassen!« Ich lache und krempele das Sweatshirt von unten auf, ziehe es mir rasch über den Kopf.

Und dann lacht plötzlich niemand mehr. Tom starrt auf meine Arme, die ich sonst nie entblöße.

»Meredith …«

»Nein, Tom. Nein, nicht.« Ich springe auf, so hastig, dass ich eine ganze Kettenreaktion in Gang setze, wodurch es noch schwieriger wird, wegzukommen von ihm, von seinem erschrockenen, fragenden Blick. Mein Stuhl kippt hintenüber. Ein Bein bleibt am Blumentopf-Tischchen hängen und katapultiert Toms Smoothie durch die Luft. Das Glas zerschellt, Fred springt erschrocken auf und macht einen Satz. Ich breche in Tränen aus und laufe kopflos aus der Küche.

Es vergeht mindestens eine halbe Stunde, bis ich höre, wie die Haustür zugeht. Wie lange Tom wohl gebraucht hat, um einzusehen, dass ich nicht wieder aus dem Bad herauskommen werde?

Ich atme aus.

Das Licht im Bad ist gedämpft – ich mag keine harsche Beleuchtung, nirgendwo im Haus – , aber nicht so gedämpft, dass ich nicht die vielen silbrigen Kerben sehen könnte, die sich mit fast unerträglicher Präzision in parallelen Linien über die Innenseite meiner Unterarme ziehen. Vor diesem Hintergrund leuchten zwei frischere grellrote Streifen. So frisch, dass sie nicht einmal vernarbt sind. So hässlich, dass Tom nicht anders konnte, als sie mit offenem Mund anzustarren, so wie Leute ein totes Tier am Straßenrand anglotzen oder einen Unfall auf der Autobahn.

Ich bin nicht mehr dazu gekommen, Tom zu erzählen, was für ein Tier ich gerne wäre. Ich schließe die Augen und stelle mir vor, ich wäre ein Delfin in einem endlosen Ozean, mit glatter, narbenfreier Haut und einem stromlinienförmigen Körper, der mühelos durch das Wasser gleitet, Meile um Meile, schnell wie ein Torpedo. Ich nehme den Bademantel vom Haken der Badezimmertür, schlüpfe mit den Armen hinein und ziehe den Gürtel fest um die Taille.