Freitag, 22. März 2019
Es ist nicht schwer, meine Arme versteckt zu halten. Ich bin ohnehin meist allein, und trotzdem trage ich nur selten kurze Ärmel. Ich will den unschönen Anblick meiner geschundenen Haut nicht länger ertragen müssen als unbedingt nötig. Mit ein bisschen Mühe schaffe ich es manchmal wochenlang, höchstens einen flüchtigen Blick auf meine bloßen Arme zu werfen. Ich schließe die Augen unter der Dusche und bade bei gedämpftem Licht. In Glasgow wird es selten so warm, dass lange Ärmel ungemütlich werden, und wenn doch, reiße ich eben sämtliche Fenster auf. Es ist wirklich keine Hexerei.
Gestern mit Tom in der Küche, da war es nicht zu warm. Es war sehr angenehm. Meine Zehennägel sahen toll aus, und es ging mir eigentlich ganz gut, bis ich unbedingt eine bescheuerte Frage stellen und zur falschen Zeit einen Schluck von meinem Smoothie trinken musste, und schon war der ganze Tag versaut.
Es ist erst kurz nach Mittag – ich habe nur einen halben Teller Tomatensuppe herunterbekommen und den Rest für Fred auf den Boden gestellt – , aber ich habe schon sechs verpasste Anrufe von Tom. Ich frage mich, wie oft er es noch versuchen wird. Ich gucke auf das Handy neben mir auf der Couch. Geschrieben hat er mir auch schon. Dreizehn Nachrichten, so viele habe ich sonst nie. Bisher habe ich keine einzige davon gelesen, weil ich nicht weiß, was ich ihm antworten soll.
Ich muss mich beschäftigt halten. Ich schalte das Radio ein – ganz laut – und mache mich daran, die Küchenschränke aufzuräumen. Eine Arbeit, bei der ich mich konzentrieren muss und nicht so schnell auf dumme Gedanken komme, die aber mein übermüdetes Hirn auch nicht überfordert. Die vergangene Nacht war hart. Stundenlang habe ich an meinem Eiffelturm-Puzzle gesessen und mir geschworen aufzubleiben, bis wenigstens das obere Drittel fertig ist. Gegen drei Uhr morgens musste ich schließlich die Segel streichen und brauchte doch noch gut eine Stunde, bis ich endlich eingeschlafen bin. Zwischen Einschlafen und neun Uhr morgens wurde ich mehrfach wach und musste mich mühsam aus bizarren, unerklärlichen Träumen voller sich langsam bewegender Gestalten und gesichtsloser Widersacher kämpfen. Selbst Fred hielt sich lieber fern. Sein Lieblingsplatz am Fußende des Bettes blieb die ganze Nacht leer.
Stunden später habe ich immer noch ganz verquollene Augen, und meine Pupillen sind winzige schwarze Stecknadelköpfe. Ich habe ein Ekzem am Kinn, und meine Wangen sind knallrot. Gut sieht das nicht aus. Aber zum Küchenschränkeaufräumen reicht es.
Ich fülle eine tiefe Schüssel mit warmem Wasser und Seife. Wo ich schon mal dabei bin, kann ich die Schränke auch gleich auswischen. Ich habe sieben Küchenschränke – das wird Stunden dauern. Ich spüre, wie die Spannung in meinen Schultern ein wenig weicht. Ein ganzer langer Tag ohne irgendwas zu tun ist die Hölle für mich. Zumindest das Problem wäre erst einmal gelöst.
Ich stelle Freds Schälchen mit der Tomatensuppe auf die Arbeitsplatte, um Platz für den Inhalt des ersten Schranks zu machen, und merke jetzt erst, dass er es nicht angerührt hat.
Er liegt nicht auf dem lila Sessel im Wohnzimmer und auch nicht auf seinem gemütlichen Liegeplatz auf dem oberen Treppenabsatz oder unter dem Bett. Ich suche das ganze Haus ab, dreimal, und schaue überall nach, wo er sonst gerne ist, und auch da, wo er gar nicht hinkäme, selbst wenn er es wollte, wie im Kleiderschrank und dem Badezimmerschränkchen. Was man halt so macht, wenn man zunehmend verzweifelt ist. Ich rufe nach ihm, bis ich nur noch schluchzen kann.
Er ist nicht im Haus. Ich reiße die Hintertür auf und sehe mich in meinem winzigen eingemauerten Gärtchen um. Draußen steht ein kleiner Bistrotisch mit passenden Stühlen, die früher mal strahlend blau waren, aber inzwischen ganz verblichen und verrostet sind. Ein paar leere Blumentöpfe, in denen sich das Regenwasser sammelt; die Vögel benutzen sie gern als Tränke. Ansonsten ist da nur noch eine verschlossene Gartenkiste mit allerhand Werkzeug, die ich seit Jahren nicht mehr aufgemacht habe. Nichts, wo Fred sich verstecken oder versehentlich eingesperrt worden sein könnte. Womöglich ist er über die Mauer gesprungen. Ich habe ihn noch nie so hoch springen gesehen, weiß aber, dass Katzen das mühelos schaffen. Er könnte über die Mauer gesprungen und jetzt wer weiß wo sein.
Den Kopf in den Händen, sitze ich wie ein Häufchen Elend am Küchentisch und überlege krampfhaft, wann ich ihn das letzte Mal gesehen habe. Ich arbeite mich langsam rückwärts, als würde man einen Film zurückspulen, und muss das ganze schlimme Spektakel notgedrungen noch mal durchmachen. Fred hat auf dem warmen Beton gelegen und geschlafen, als Tom und ich an der Gartentür saßen. Mein Glas ist auf dem Boden zerschellt, und er ist hochgeschreckt. Dann ist er losgerannt, aber nicht ins Haus. Als ich irgendwann wieder nach unten gekommen bin, war Tom weg, jede noch so kleine Glasscherbe war sorgfältig eingesammelt und weggeworfen worden, und die Hintertür war zu.
Ich muss Tom anrufen. Ich will zwar nicht, aber er ist der Einzige, der mir vielleicht weiterhelfen kann.
Beim zweiten Klingeln geht er ran. »Meredith?«
»Ich rufe nicht wegen gestern an«, sage ich hastig. »Fred ist weg. Hast du ihn gesehen, bevor du gegangen bist?«
»Ich weiß nicht. Ist alles okay? Ich habe mir solche Sorgen gemacht.«
»Tom, bitte. Ich weiß nicht, wo Fred ist. Nur deswegen rufe ich an.«
»Okay. Habe ich ihn gesehen? Ich glaube nicht, nein. Jedenfalls nicht im Haus. Lag er nicht draußen? Ich wüsste nicht, dass er danach reingekommen wäre. Mist … Und ich habe die Tür zugemacht. Tut mir leid, Meredith. Daran habe ich nicht gedacht.«
»Könnte er vielleicht unbemerkt an dir vorbeigehuscht sein?« Ich weiß nicht, warum ich ihn das frage, Fred ist schließlich nicht im Haus.
»Vermutlich schon. Könnte er sich vielleicht irgendwo verstecken?«
»Ich habe schon überall nachgeschaut.«
»Meredith, es tut mir so leid. Alles.«
Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Blicklos starre ich aus dem Küchenfenster und beiße mir auf die Lippe. Der Gedanke an ein Leben ohne Fred ist unerträglich.
»Ich komme rüber und helfe dir suchen.«
»Danke«, sage ich leise.
Zwei Stunden später habe ich drei verschiedene Küchenaufteilungen ausprobiert und kann mich trotzdem noch immer nicht entscheiden, ob die Tassen lieber ganz links über dem Wasserkocher stehen sollen oder ganz rechts neben den Tellern und Schüsseln. Ein dumpfer Schmerz hat sich hinter meinen Augen festgesetzt, und ich habe keine Ahnung, wie spät es ist. Ich bekomme nichts herunter. Ich glaube, mein Magen ist auf Erbsengröße zusammengeschrumpft. Ich bringe es nicht über mich, Freds Suppe auszuschütten, obwohl sie schon eine runzelige Haut angesetzt hat.
Es klingelt, und ich stürze hastig zur Tür. Ich bin auf das Schlimmste gefasst, aber Tom mit leeren Händen vor der Tür stehen zu sehen, gibt mir den Rest.
»Es tut mir so leid, Meredith. Ich bin die ganze Straße abgelaufen, wieder und wieder, und sämtliche drumherum, aber keine Spur von ihm. Bestimmt kommt er bald nach Hause. Er ist doch eine Hauskatze.«
»Danke trotzdem.« Ich suche die Straße hinter ihm nach einem orangenen Farbtupfer ab. Meine Stimme klingt eigenartig; ich weiß nicht, wie ich mich vor Tom verhalten soll, gerade jetzt.
»Ich habe überall meine Nummer hinterlassen, bei sämtlichen Nachbarn. Aber hör mal, er kommt ganz bestimmt zurück. Vielleicht ist er irgendwo falsch abgebogen, aber er ist clever – er wird den Heimweg schon finden. Bestimmt vermisst er dich schon und will wieder nach Hause.«
»Danke, jetzt geht’s mir noch mieser«, murmele ich.
»Entschuldige.« Tom sieht aus, als kämpfe er mit den Tränen.
»Hör auf, dich zu entschuldigen, Tom. Du kannst doch nichts dafür.« Ich ziehe mir die Pulloverärmel noch weiter über die Hände. Es ist kälter geworden – kein Tag, um mit nackten Zehen in der Sonne herumzuwackeln.
»Darf ich kurz reinkommen?«
»Ich bin müde. Ich kann nicht … wegen Fred. Ich kann an nichts anderes denken als an Fred.«
»Verstehe ich. Lass uns überlegen, was wir jetzt machen. Wir hängen Suchplakate auf – hast du ein Foto von ihm?«
Ich nicke. »Tausende.«
»Sehr gut. Du schickst mir ein aktuelles Foto, und ich drucke die Plakate aus. Morgen komme ich wieder, und dann erweitern wir den Suchradius. Klopfen an alle Türen. Wir finden ihn, ganz bestimmt, Meredith.«
»Du bist ein feiner Kerl, Tom.«
Er zuckt die Achseln. »Ich weiß ganz bestimmt, dass er wiederkommt. Vielleicht sitzt er schon an der Hintertür und wartet.«
»Dann sollte ich wohl lieber mal nachsehen.«
»Ja, aber … bleib nicht die ganze Nacht in der Küche sitzen, ja? Schlaf ein bisschen. Du siehst hundemüde aus.«
»Ich sehe beschissen aus.«
»Du siehst hundemüde aus. Und hör mal, du weißt doch, dass du mit mir reden kannst? Egal worüber. Sag mir ruhig, ich soll Leine ziehen und mich um meinen eigenen Kram kümmern, wenn dir danach ist. Mir macht das nichts aus. Aber ich würde es mir nie verzeihen, wenn dir etwas zustößt, das ich womöglich hätte verhindern können.«
»Wie beispielsweise, dass ich mich umbringe, meinst du?« Ich verschränke die Arme und schiebe den rechten Daumen ins linke Ärmelbündchen. Streiche über die erhabene Stelle.
»Denkst du manchmal daran?« Tom sieht mich unverwandt an, mir direkt in die Augen. Er fährt sich mit der Hand durch die Haare. »Herrje, Meredith. Ich fasse es nicht, dass wir hier vor deiner Haustür stehen und über so was reden.«
Ich halte seinen Blick. Reibe weiter mit dem Daumen.
»Und, tust du?«
»Manchmal«, wispere ich.
»Meredith.« Er streckt die Hand nach mir aus, aber ich weiche zurück. Stumm murmele ich noch ein »Tut mir leid« und schaue in seine tieftraurigen braunen Augen, dann schließe ich die Tür. Ich drehe den Schlüssel im Schloss, hake die Kette ein und gehe langsam rüber in die Küche, um dort auf Fred zu warten.