Mittwoch, 3. April 2019
Seit zehn Minuten suche ich nun schon ein rotes Puzzleteil, als es unvermittelt an der Tür klingelt. Ich versuche mich gerade an einem ganz neuartigen Puzzle – mal was anderes als meine üblichen Sehenswürdigkeiten und Kunstwerke. Sehr modern, sehr abstrakt – eigentlich nichts als wilde knallbunte Farbwirbel – und sehr, sehr verzwickt.
Sadie weiß längst, dass sie hier nicht unangekündigt hereinschneien sollte, und ich erwarte auch keine Online-Bestellung, für die es meine Unterschrift bräuchte. Das notiere ich mir immer auf der Kreidetafel in der Küche, damit ich mich geistig schon mal auf den unvermeidlichen Smalltalk einstellen kann. Heute ist auch kein Tesco-Liefertag. Rasch gehe ich im Kopf die verschiedenen Möglichkeiten durch, während ich unschlüssig im Flur stehe und abwarte, ob der ungebetene Besucher womöglich von selbst wieder geht. Vielleicht ist es Tom – ich habe ihm gestern Abend geschrieben, wir sollten unsere Verabredung auch diese Woche lieber noch mal ausfallen lassen. Doch dann sage ich mir, dass es vermutlich bloß die Zeugen Jehovas sind oder jemand, der mir doppelt verglaste Fenster andrehen will. Das kriege ich geregelt.
»Miss Maggs? Hören Sie mich?« Sie hat einen englischen Akzent und klingt amtlich. Und ich weiß, heute ist der Tag, vor dem es mich schon die ganze Zeit graust.
»Wer ist da?« Ich gebe mir Mühe, bestimmter zu klingen, als mir zumute ist.
»Miss Maggs, hallo. Mein Name ist Sophie Bamford. Ich komme vom sozialpsychiatrischen Dienst. Dürfte ich bitte eben reinkommen, damit wir uns ein bisschen unterhalten können?«
Sophie Bamford ist die fünfte Sozialarbeiterin in drei Jahren, die mich hier besucht. Die erste war Amelia, dann kam Theo, aber der war nur zweimal da, weil er noch ganz neu und heillos überfordert war und recht schnell hingeschmissen hat. Ich hoffe, das lag nicht nur an mir – wir haben zusammen ein Tässchen Tee getrunken, uns nett unterhalten und uns eigentlich recht gut verstanden, wie ich fand. Wer danach kam, weiß ich nicht mehr so genau, aber vor ungefähr einem Jahr stand dann Colette (oder hieß sie Colleen?) vor der Tür, und die hatte nicht gerade das beste Händchen. Ständig sagte sie »hmmm«, wenn ich auf eine ihrer Fragen antwortete, was die Vermutung nahelegte, dass sie mir nicht abnahm, was ich ihr erzählte. Einen Monat nach Colette/Colleen bekam ich einen Brief, in dem stand, meine Akte werde geschlossen, und dazu eine Liste mit Telefonnummern, sollte ich je wieder Hilfe brauchen. Die hatte ich benutzt, um meinen neuen Mini-Reißwolf auszuprobieren.
»Das passt gerade ganz schlecht. Können Sie nicht nächste Woche wiederkommen? Ich habe nicht mit Besuch gerechnet.«
»Das tut mir sehr leid, Miss Maggs. Ich kann Ihre … Lage gut verstehen. Machen Sie mir trotzdem bitte kurz die Tür auf, damit wir uns eben unterhalten können?«
Mich beschleicht das ungute Gefühl, Sophie Bamford wird nicht wieder verschwinden, bis ich ihr die Tür aufgemacht habe. Also atme ich tief durch und mache ein paar zögerliche Schritte auf die Haustür zu. Fred kommt an meine Seite und wickelt den Schwanz um meine Knöchel. Ich nehme ihn hoch und halte ihn ganz fest. Er schmiegt sich an mich und lässt sich von mir knuddeln. Er ist, in mehr als einer Hinsicht, die unkätzischste Katze aller Zeiten.
»Sie wurden uns gemeldet, Miss Maggs. Ich will mich nur vergewissern, dass es Ihnen gut geht. Aber dazu müsste ich Sie selbst sehen und mit Ihnen sprechen. Würden Sie also bitte …«
»Es geht mir bestens.«
»Das klingt aber nicht so, Miss Maggs. Sie klingen ein bisschen … aufgebracht.«
»Selbstredend bin ich aufgebracht. Bis eben war es ein wunderbarer Morgen, und plötzlich stehen Sie vor meiner Tür und stellen irgendwelche Forderungen. Ist aufgebracht zu sein jetzt etwa auch schon verboten?«
»Natürlich nicht«, sagt sie besänftigend. »Entschuldigen Sie. Ich verspreche Ihnen, ich möchte mich nur vergewissern, dass es Ihnen gut geht. Mr McDermott sorgt sich, Sie könnten …«
»Mr McDermott hat keine Ahnung.«
»Miss Maggs, Sie können sich sicher vorstellen, warum ich dieses Gespräch lieber nicht durch die geschlossene Haustür führen möchte.«
Ich löse die Kette und reiße die Tür auf. Sophie Bamford ist klein, sie reicht mir kaum bis zur Schulter. Sie trägt einen akkuraten braunen Bob, einen gestreiften Schal um den Hals und eine Brille, bei der ich an Harry Potter denken muss. Mir doch egal, dass sie hier ist, dass sie in meiner Küche sitzen und mir alle möglichen unverschämten Fragen stellen wird.
Kenne ich alles, habe ich alles schon erlebt, und wenn es sein muss, lasse ich es auch noch mal über mich ergehen. Mir doch piepegal.
Ganz und gar nicht egal ist mir allerdings, dass mein Freund Tom mich hinterrücks verraten und verkauft hat.
Eins muss ich Sophie Bamford lassen, gut vorbereitet ist sie. Sie scheint alles auswendig gelernt zu haben, was es Wissenswertes über mich gibt – alles Schlimme jedenfalls – , und muss nur gelegentlich in ihre Akte spicken. Bestimmt ist sie neu. Ein bisschen übereifrig, die Gute.
Und sie ist wirklich gründlich bei ihrer Befragung. Um mir die ganze Sache etwas erträglicher zu machen, tue ich, als sei das alles nur ein Spiel. Für die richtigen Antworten gibt es zwar keinen Gewinn – außer meiner Freiheit natürlich – , aber damit mir nicht langweilig wird, spiele ich gegen die Uhr. Keine Pausen, keine »Ähms« oder »Öhms«. Ich antworte wie aus der Pistole geschossen. Die nächste bitte. Und weiter. Weiter. Weiter. Bonuspunkte gibt es außerdem für Blickkontakt zur Fragestellerin. Das ist ein bisschen kniffelig, weil sie ständig auf ihren Notizblock schaut. Ihre Schrift ist riesig, mit ausholenden Schleifen am »g« und »y«. Eigentlich hätte ich gedacht, sie müsse eine kleine, adrette Handschrift haben, passend zum Rest.
Von meiner Tischseite aus kann ich ein paar Wörter entziffern – »Risiko«, »kohärent«, »Zeitplan« – aber ich will nicht, dass sie mich dabei ertappt, wie ich in ihre Aufzeichnungen glotze. Früher oder später werde ich ihre Einschätzung ohnehin zu lesen bekommen. Ich kenne meine Rechte.
Wie immer kommt das Beste zum Schluss.
»Meredith, haben Sie in letzter Zeit einen Versuch unternommen, sich etwas anzutun?«
»Nein«, lüge ich. Ich lasse mich nicht davon einwickeln, dass sie mich beim Vornamen nennt. Wir sind keine Freundinnen.
»Mr McDermott glaubt, während seines letzten Besuchs frische Spuren einer Selbstverletzung bei Ihnen gesehen zu haben. Er war immerhin so besorgt, dass er sich an uns gewendet hat. Erinnern Sie sich an den fraglichen Tag? Das war am« – sie blättert in ihren Unterlagen – »einundzwanzigsten März.«
»Ich erinnere mich.«
»Und erinnern Sie sich auch daran, Mr McDermott etwas gesagt zu haben, das ihn vielleicht beunruhigt haben könnte?«
»Nein.«
Sophie Bamford schaut mich durch die kleinen runden Brillengläser an. Ihre Miene verrät nichts. Sie sollte Polizistin werden, nicht Sozialarbeiterin. »Wirklich nicht, Meredith?«
»Ganz bestimmt nicht. Danke der Nachfrage, aber es geht mir gut. Wirklich. Ich hege keinerlei Absicht, mich irgendwann in absehbarer Zeit umzubringen.«
Sie schaut mich mit einer skeptisch hochgezogenen, perfekt gewölbten Augenbraue an, während die andere sich keinen Millimeter vom Fleck rührt. Beinahe bin ich versucht, ihr zu sagen, dass nur etwa ein Drittel aller Menschen überhaupt dazu imstande ist, eine einzelne Augenbraue hochzuziehen, aber ich weiß nicht, wie das bei ihr ankommen würde.
»Entschuldigen Sie«, sage ich. »War ein blöder Witz. Ich habe nicht vor, mich umzubringen. Weder jetzt noch in Zukunft.«
»Schön«, sagt sie schließlich. »Dann danke ich Ihnen für Ihre Zeit, Meredith. Sie wissen ja, wie Sie uns erreichen, sollten Sie uns brauchen.«
Ich nicke und sehe zu, wie sie den Mantel zuknöpft, sich den Schal um den Hals wickelt, die Unterlagen ordentlich im Ordner verstaut und die Aktentasche zuschnappen lässt. Sie hält kurz inne und sieht mich an, ehe sie aus der Küche geht.
»Und sonst, wie ist Ihr Leben so, Meredith?«
Keine Ahnung, warum dieser plumpe Versuch. Als würde ich jetzt unbefangen aus dem Nähkästchen zu plaudern beginnen, nur weil sie die Aktentasche zugeklappt und den Schal angezogen hat. Seien wir ehrlich, solche Leute kennen doch gar keinen Dienstschluss.
»Mein Leben ist ganz prima, Sophie.«