Tag 1.362

Donnerstag, 11. April 2019

Das große lila »T« im Kalender – welches das ganze heutige Kästchen einnimmt, denn was sollte heute schon sonst noch passieren, das einer Kalendernotiz bedürfte? – macht mich ganz kribbelig. Zum ersten Mal seit unserem katastrophalen letzten Treffen habe ich Tom nicht abgesagt. Nicht, weil ich ihn gern sehen möchte, sondern weil ich einfach nicht die Kraft dazu hatte, mich mit irgendwelchem Alltagskram herumzuschlagen. Matte Abgeschlagenheit hat sich wie ein Schleier über alles gelegt, aber ich spüre noch den Schatten von Wut und Enttäuschung. Von Sophie Bamford habe ich nichts mehr gehört, aber ich werde das Gefühl nicht los, schnöde verraten worden zu sein. Ehe Tom bei mir aufgetaucht ist, ging es mir wunderbar. Donnerstagsvormittags habe ich an meiner Nähmaschine gesessen oder vor meiner Küchenmaschine gestanden, statt mich mit diesem bornierten Schnösel herumschlagen zu müssen, der sich dazu berufen zu fühlen scheint, mich zu erretten.

Gut möglich, dass ich immer noch sauer bin. Immer, wenn ich einen Löffel Knuspermüsli herunterzuschlucken versuche, schnürt es mir die Kehle zu, und die Milch schmeckt ganz komisch. Schließlich stelle ich mein halb gegessenes Müsli in die Spüle. Ich weiß nicht, wohin mit mir und dem Lärm in meinem Kopf, also lege ich mich wieder ins Bett, obwohl Tom vermutlich schon in einer halben Stunde da sein wird.

Ich bin heute Morgen heillos zu spät dran. Allein das Aufstehen hat mich schon unendliche Mühe gekostet. Ich habe seit fünf Tagen keinen Sport mehr gemacht, und die Äpfel in der Obstschale werden langsam braun.

Ich lege mich aufs Bett und nehme mein Buch in die Hand. Schlafen will ich eigentlich nicht, aber es kommt, wie es kommen muss. Ich habe kaum eine Seite gelesen, da werden mir die Lider schwer.

Als ich wieder aufwache, liegt Fred ausgestreckt auf meinen Füßen, und der Kopf tut mir weh. Mir ist gar nicht gut. Von allen Zimmern im Haus mag ich mein Schlafzimmer am allerliebsten. Ich habe mir alle Mühe gegeben, hier eine Oase der Ruhe und Entspannung zu schaffen. Einen sicheren Zufluchtsort. Keine wilden Muster, keine grellen Farben, kein Krimskrams. Wochenlang habe ich an den Details gefeilt, angefangen bei den cremeweißen Bodendielen bis hin zu den Stumpenkerzen in ihren schmiedeeisernen Haltern in einer Ecke des Zimmers. Die Wände habe ich zartblau gestrichen und mit meinen liebevoll zusammengestellten Lieblingsdrucken behängt. Mein Blick bleibt an Chaim Soutines Eva hängen, der Frau mit den verschränkten Armen. Was will ihr undurchdringlicher Blick mir heute sagen?

Jetzt reiß dich endlich zusammen.

Ich wende mich von ihr ab und mache fest die Augen zu. Heute sind mir sogar die sanften Farben und das gedämpfte Licht zu viel.

Zuerst denke ich, das Klopfen ist in meinem Kopf. Es kommt mir vor, als würde ein winziger Gnom von innen wütend mit den Fäusten gegen meinen Schädel trommeln. Langsam komme ich zu mir und merke schließlich, dass niemand in meinem Kopf hämmert, dafür aber irgendwer an meine Haustür klopft.

Tom.

Ich schubse Fred, der von dem Gehämmer anscheinend nichts mitbekommen hat, von meinen Füßen und lasse die Beine aus dem Bett baumeln. Mir tut alles weh, wie nach einer Prügelei, wenn der erste Schock nachlässt. Meine Fußsohlen fühlen sich ganz seltsam an und liegen ungewohnt schwer auf dem Boden. Behutsam bücke ich mich und ziehe meine Hausschuhe unter dem Bett hervor.

Als ich schließlich steif wie eine alte Frau die Treppe hinuntergeschlurft bin, hat das Hämmern längst aufgehört. Ich bleibe stehen, klammere mich ans Geländer und überlege, mich einfach umzudrehen und wieder ins Bett zu gehen. Dann fängt es wieder an, und diesmal höre ich ihn rufen.

»Meredith, hörst du mich? Bitte, ich möchte nur wissen, ob alles okay ist.«

Irgendwas schwingt da mit in seinen Worten. Irgendwas, das ich nicht einfach ignorieren kann. Ich klappe den Mund auf, aber mir versagt die Stimme. Seit über einer Woche habe ich keinen Pieps mehr gesagt. Anrufe beantworte ich nicht, sondern warte ein paar Minuten (nicht zu kurz, damit die Anrufer nicht misstrauisch werden, aber auch nicht zu lange, damit sie nicht auf dumme Gedanken kommen und am Ende noch die Polizei verständigen), tippe dann rasch eine Entschuldigung und beginne ganz selbstverständlich eine Unterhaltung. Ein Glück, dass heutzutage fast alle nur noch mittels Tastatur und Textnachrichten kommunizieren.

Ich stehe auf der sicheren Seite der Tür und spähe durch den Spion. Tom steht ganz dicht davor, sodass sein Kopf riesig wirkt, viel zu groß für seinen Körper. Ich trete einen Schritt zurück und atme tief durch. Bis heute weiß ich nicht, ob Spione eigentlich in beide Richtungen funktionieren. Mir ist der Gedanke, beobachtet zu werden, schon in den besten Zeiten ein Graus, und ich will ganz bestimmt nicht, dass Tom mich jetzt so sieht, im schmuddeligen Pyjama mit Pelz auf den Zähnen und zerzausten Haaren.

»Meredith? Bitte sag mir nur, ob alles okay ist. Ich mache mir Sorgen.«

Ich klappe den Mund auf, versuche mich an einem Satz. Was auch immer ich hatte sagen wollen, heraus kommt nur ein Krächzen. Ich räuspere mich und schlucke schwer.

Dann klopfe ich an die Tür.

»Meredith, Gott sei Dank! Ist alles in Ordnung?«

Wieder klopfe ich.

»Okay, okay, ich höre dich. Herrje. Ganz sicher alles gut bei dir? Einmal klopfen für Ja, zweimal für Nein.«

Klopf.

»Schön. Das ist gut. Hast du heute schon was gegessen?«

Ich denke an mein Schälchen Knuspermüsli in der Spüle. Das ist inzwischen bestimmt ganz matschig geworden. Klopf.

»Hast du deine Medikamente genommen?«

Klopf. Klopf.

»Hast du sie gestern genommen?«

Klopf.

»Okay. Okay. Meinst du, du kannst mir die Tür aufmachen?«

Klopf. Klopf.

»Okay. Das ist okay, Meredith.«

Ich lehne den Kopf gegen die Tür und frage mich, ob er, wenn ich dreimal klopfe, versteht, dass das »Es tut mir leid« heißen soll.

»Hör zu, ich hab eine Idee. Ich gehe mir eben einen Kaffee holen und vertrete mir ein bisschen die Beine. Nimmst du in der Zwischenzeit deine Medikamente und trinkst ein Glas Wasser?

Klopf.

»Dann können wir vielleicht ein bisschen reden? Meinst du, das kriegst du hin? Oder ich rede und du hörst zu? Du weißt ja, wie gerne ich mich selbst reden höre.«

Und dann muss ich, trotz allem, lächeln. Klopf.

Bis Tom kurz darauf wieder zurückkommt, habe ich brav meine Pille geschluckt, in einem Zug ein Glas Wasser geleert und mich wieder auf meinen Platz gehockt, auf dem Boden auf der sicheren Seite der Haustür. Ich komme mir mies vor, weil Tom sich einen Kaffee kaufen musste, also habe ich ihm ein paar Schoko-Doppelkekse in Alufolie gewickelt. Die will ich ihm gleich durch den Briefschlitz anreichen.

»Meredith? Bist du da?« Kein Hämmern diesmal, bloß ein höfliches Klopfen.

Meine Stimme ist inzwischen wieder da, aber ich bin immer noch ganz heiser. »Hi, Tom. Ich bin hier.«

»Super. Es ist so schön, deine Stimme zu hören.«

»Ich hab was für dich.« Ich halte den Deckel des Briefschlitzes hoch und schiebe die Kekse durch.

Tom lacht. »Ganz famos. Danke, Meredith. Ich setze mich einfach hier auf die Stufe und tunke meine Kekse in den Kaffee.«

»Pass bloß auf, dass sie dir nicht reinfallen.«

Er lacht. »Ich gebe mir Mühe.«

Ich rutsche ein bisschen herum, bis ich mich mit dem Rücken gegen die Tür lehnen kann. Bestimmt sitze ich genauso nahe neben Tom wie sonst drüben auf der Couch. Vielleicht sogar noch näher. Nur, dass wir diesmal eine Tür zwischen uns haben.

»Es tut mir leid, Tom. Ich sollte dir einen Kaffee kochen. Und dich ihn in meiner Küche trinken lassen. Aber mir ist gerade nicht nach Besuch.«

»Meredith, ich verstehe das. Echt. Solche Tage habe ich auch.«

»Echt?«

»Sicher. Hat die nicht jeder?«

Darüber muss ich erst mal nachdenken. Ich glaube nicht, dass jeder Tage hat, an denen man nur durch die geschlossene Tür mit seinen Freunden reden kann, an denen man Kekse durch den Briefschlitz schiebt, statt sie nett auf einem Teller anzurichten. Ich glaube auch nicht, dass andere eine ganze Woche lang keinen Mucks machen oder durchs Haus krücken wie jemand, der doppelt so alt ist. Aber ich schätze seine Bemühungen, mir das Gefühl zu geben, ich sei noch nicht völlig durchgeknallt.

»Was hast du so gemacht, Tom?« Ich will nicht über mich reden, ich will, dass er mir was erzählt, das mich rausholt aus meinem Flur, meinem Haus, meinem Kopf.

Wie damals, als Fiona und ich noch Kinder waren und sie mir Geschichten erzählen musste, wenn meine Gedanken mich nachts nicht schlafen ließen. Märchen mochten wir beide nicht, also erzählte sie mir Geschichten von den anderen Kindern an unserer Schule, Kinder, die auf dem Spielplatz Seil sprangen und immer was Leckeres in der Lunchbox und Eltern im Elternbeirat hatten.

Kann sein, dass die Geschichten nicht immer ganz der Wahrheit entsprachen, aber das war mir schnuppe. Sie nahmen mich mit nach anderswo.

»Ach, so dies und das. Aber hey, mir fällt was Cooles ein. Weißt du noch, Sonntagabend – dieser grandiose Sonnenuntergang?«

Ich sage kein Wort. Ich bringe es nicht über mich, ihm zu sagen, dass ich mich nicht an den grandiosen Sonnenuntergang von Sonntagabend oder sonst irgendeinen erinnere, weil ich schon seit Tagen nicht mehr aus dem Fenster geschaut habe.

»Ich war gerade auf dem Weg vom Fitnessstudio nach Hause und bin über die Brücke gelaufen, just, als die Sonne unterging. Es hat mir fast den Atem verschlagen. Dieser gewaltige feuerrote Streifen am Himmel. Das hat mich an ein Gedicht erinnert – ›Out of the Sunset’s Red‹ von William Stanley Braithwaite. Kennst du es?«

»Nein«, muss ich gestehen.

»Ich schicke es dir mal. Aber egal, der Sonnenuntergang war nicht mal das Beste. Da stand ein altes Ehepaar auf der Brücke – müssen beide mindestens siebzig gewesen sein, wenn nicht noch älter – , die haben Händchen gehalten und einfach nur zugesehen, wie die Sonne unterging. Das hat mich – ich weiß auch nicht – irgendwie sehr berührt. Dieses alte Ehepaar ist mir die ganze Woche nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Und ich musste mir eingestehen, dass das mein sehnlichster Wunsch ist. Ich möchte auch mit siebzig auf einer Brücke stehen, Hand in Hand mit dem Menschen, den ich liebe, und dem Sonnenuntergang zusehen. Jemand, mit dem man all die kleinen schönen Dinge des Lebens teilen kann.«

Ich habe die Augen geschlossen. Ich stehe auf der Brücke, warm eingepackt. Ich sehe das alte Pärchen, sehe ihre Hände, die sich umfassen. Ich spüre die Liebe, die sie umgibt.

»Tja, dann musst du wohl raus in die Welt. Wann war noch mal dein letztes Date?«

»Ist lange her. Mit Dating-Apps habe ich irgendwie kein Glück. Dieses ganze Gewische links, rechts scheint mir so seelenlos.«

»Du bist halt altmodisch, Tom McDermott.«

»Da hast du wohl recht, Meredith Maggs. Du hättest nicht zufällig noch ein paar von diesen Schokoladenkeksen für mich? Die waren köstlich.«