Tag 1.370

Freitag, 19. April 2019

Ich wache an meinem vierzigsten Geburtstag auf mit einem Summen im Ohr und Fred lang ausgestreckt auf meiner Brust. Behutsam schiebe ich ihn beiseite; er maunzt empört. »Ich habe heute Geburtstag«, sage ich zu ihm und kraule ihn am Bauch. Verdattert dreht er sich weg und ringelt sich fest zusammen.

Dann erst merke ich, dass das Summen von meinem Handy kommt. »Happy Birthday!«, zirpt Sadie in überlautem, eigenartigem Flüsterton. Ich lache. »Danke. Ich bin noch im Bett.«

»Ich weiß«, erwidert sie. »Ich stehe in deiner Küche. Du bewegst jetzt sofort deinen vierzig Jahre alten Hintern hier runter, Meredith Maggs. Und zieh dir was Anständiges an. Ich will Fotos machen.«

»Wie bitte?« Verdutzt setze ich mich auf und greife nach meinem Bademantel am Fußende des Bettes. »Habe ich noch Zeit zu duschen?«

»Sorry, das muss leider warten. Ich habe gerade alle Mühe, Matildas Patschehändchen von deiner Torte fernzuhalten.«

In meiner Küche hängt ein Bettlaken an der Wand mit der Aufschrift: Alles Liebe zum 40sten, Mer! Wir haben dich lieb! in knallrosa Buchstaben. Die Zimmerdecke hat sich in einen rosé-goldenen Ballonhimmel verwandelt, und die gigantischste Torte, die ich je gesehen habe, steht, umgeben von Glückwunschkarten und Geschenken, mitten auf dem Tisch. Sprachlos starre ich das alles an, dann geht mein Blick zu Sadie, James und Matilda, die mit eifrig strahlenden Gesichtern danebenstehen. Ich breche in Tränen aus.

»Komm her, du Heulsuse.« Sadie breitet die Arme aus und zieht mich in einen kleinen Kuschelkreis. Lange halten wir vier uns fest umarmt, bis Matilda irgendwann anfängt herumzuhüpfen und wir es ihr alle nachtun und lachend und hopsend im Kreis durch die Küche tanzen.

»Kuchenzeit!«, kreischt James.

»Ja, Kuchenzeit«, ruft Sadie. Sie führt mich zum Tisch. »Ich kümmere mich um die Kerzen, fang du schon mal an, die Geschenke auszupacken. Wir haben bloß eine Stunde Zeit, bis die beiden hier in die Schule und die Kita müssen – ich hab heute Tagschicht.«

»Ich fasse es nicht, dass ihr euch so viel Mühe für mich macht«, stammele ich. »Du bist die Beste.«

»Ich weiß«, sagt sie und stellt mir eine Tasse Tee vor die Nase. »Du aber auch. Und jetzt bist du vierzig! Wie fühlst du dich?«

Ich zucke die Achseln. »Wie achtunddreißig?« Andächtig wickele ich eine wunderhübsche Sojawachskerze im Keramiktopf aus, einen kuscheligen blassblauen Kaschmirpullover, eine zarte Silberkette mit einem winzigen Sichelmond-Anhänger.

»Und das.« Sadie schiebt mir eine große Schachtel hin. »Die wirst du vielleicht irgendwann brauchen. Hoffentlich.« Sie guckt plötzlich ganz ernst. »Nur zu«, ermuntert sie mich sachte.

Langsam schiebe ich das Papier beiseite und nehme den Deckel von der Schachtel. Sie sind glänzend und schwer, gemacht für viele Jahre und selbst für das unwegsamste Terrain. Und sie haben grellorange Schnürsenkel.

»Wanderschuhe«, murmele ich andächtig und fahre mit den Fingerspitzen über die warme, raue Oberfläche. Ich schaue hoch zu Sadie. »Danke«, forme ich stumm mit den Lippen, weil ich plötzlich einen Kloß im Hals habe. Sie grinst mich an, und wir prosten uns mit den Teetassen zu.

Unter begeisterten Jubelrufen puste ich die Kerzen aus, wir futtern jeder ein riesengroßes Stück Schokoladentorte (»Erzählt das um Himmels willen nicht eurer Lehrerin, dass es heute Morgen Torte zum Frühstück gab«, brummt Sadie, während sie den Kindern die verräterischen Schokoladenspuren aus den verschmierten Gesichtern wischt), und dann probiere ich meine neuen Stiefel an.

»Gut fühlen die sich an«, sage ich zu Sadie. »Aber ehe ich damit den Ben Nevis besteige, sollte ich sie wohl lieber ein bisschen einlaufen.«

»Lauf einfach den Gartenpfad lang, immer hin und her«, sagt sie, umarmt mich noch mal feste, vergewissert sich dann, dass die Kinder keine Kuchenkrümel an den Klamotten haben, und packt sie in die Jacken. Ich stehe in meinen neuen Wanderstiefeln an der Tür und winke ihnen zum Abschied nach.

In der Küche warten noch etliche Geburtstagskarten auf mich – Sadie hat sie mir in einem ordentlichen, kleinen Stapel ans Tischende gelegt. Eine ist von Tom, darauf eine Comic-Katze mit Partyhut und »40«-Anstecker, die mit großen, verdutzten Augen auf eine Geburtstagstorte starrt. Ich muss laut lachen.

In Celestes Karte – auf der Du bist 40 und fantastisch steht – liegt ein Geschenkgutschein von ihrem Friseursalon. »Komm vorbei und lass dich mal so richtig verwöhnen … Das hast du dir verdient!«

Ich werd’s versuchen , denke ich.

Von Tante Linda ist die Karte mit dem gigantischen Blumenstrauß und der noch größeren »40« vorne drauf. Ich lese, was sie dazu geschrieben hat – Auf viele weitere glückliche Jahre, Meredith. Ich denke oft an dich. Alles Liebe, Tante Linda  – , und mein Magen schlägt einen Purzelbaum. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Nachdenklich streiche ich über die glitzernden Blütenblätter. Sie erinnern mich an den Lidschatten, den Mama und Tante Linda früher immer getragen haben, damals in den Achtzigern, wenn sie abends tanzen gingen.

Seit meinem sechsunddreißigsten Geburtstag habe ich keine Karte mehr von Mama und Fee bekommen, aber ich erkenne ihre Handschrift auf Anhieb. Fees Schrift ist klein und ordentlich, während Mamas Großbuchstaben mich schon vom Umschlag anschreien: Meredith! Ich nehme ihre zuerst und reiße sie rasch auf, ehe ich es mir anders überlegen kann. Auf ihrer Karte sind auch Blumen, aber keine »40«, kein Glitzer. Und es stehen auch keine Glückwünsche drin, nur das, was sie gleich unter einen Zehn-Pfund-Schein geschrieben hat: Meredith, ich hoffe, du hast einen schönen 40sten Geburtstag. Mama. (Kauf dir was Schönes, wenn du wieder aus dem Haus gehst.) Ich drehe sie um, hinten klebt noch der Preis drauf. 99 Pence.

Ich mache mir noch einen Tee, ehe ich Fees Karte öffne, und überlege mir dabei, ob ich mich darüber freuen soll, dass sie sich eigens die Mühe gemacht hat, mir eine Karte zu schicken, statt bloß ihrer üblichen täglichen Textnachrichten. Die beantworte ich manchmal und manchmal auch nicht – es ist immer noch ein eigenartiges, seltsames Gefühl. Die heutige Sitzung mit Diane habe ich abgesagt, weil ich keine Lust habe, mich an meinem Geburtstag therapieren zu lassen, aber auch, weil ich nicht weiß, woher ich die Kraft dazu nehmen soll, ihr zu erzählen, was inzwischen alles passiert ist. Dass meine ganze Welt zusammengeklappt ist wie ein Kartenhaus, als mein Kater plötzlich verschwunden war. Dass ich einen meiner wenigen Freunde vergrault habe, nur weil er einen winzigen Blick erhascht hat auf den Teil meiner selbst, für den ich mich am allermeisten schäme. Dass ich, allen Fortschritten zum Schluss, keinerlei Antrieb mehr habe, auch nur die Haustür aufzumachen.

Doch dann denke ich mir, ich kann meinen Geburtstag nicht damit verbringen, wütend zu sein, vor allem nicht in einem Raum voller rosa und goldener Ballons und eigens für mich handgemaltem Spruchband. Also mache ich Fees Karte auf. Es ist eine dieser personalisierten Glückwunschkarten, wie man sie aus der Fernsehwerbung kennt. Fee und ich als Kinder, wie wir gemeinsam die Kerzen auf einer Geburtstagstorte aufblasen. Das haben wir immer so gemacht – gemeinsam die Kerzen auspusten. Bei uns gab es keine Partys, keine Ballons, keinen Spruchbandschmuck an der Wand. Aber immer gab es eine Torte mit Kerzen, und die Freude darüber war viel zu groß, um sie nicht zu teilen.

So alt wie ich wirst du nie!!!

Das hat sie früher immer zu mir gesagt – zum Angeben, wenn sie sich mit ihren anderthalb Jahren Altersvorsprung wichtig machen wollte. Wann genau kippt das eigentlich, und wir fangen an, uns zu wünschen, wir könnten die Uhr zurückdrehen statt vor?

Unter dem gedruckten Happy Birthday! steht: Du fehlst mir .