1993

Ich wusste gleich beim Hereinkommen, dass irgendwas nicht stimmte. Es war viel zu still für einen Sonntagabend. Wenn ich sonst von meinem Imbissjob zurückkam, klapperte Fee immer lautstark in der Küche herum, während im Hintergrund das Radio dudelte. Mama schaute entweder fern oder machte sich gerade fertig, um später auszugehen. Aber die Küchentür öffnete sich in gähnende Leere, und die Stille von oben war erdrückend.

Ich ließ Rucksack und Jacke im Flur fallen. Wie gewöhnlich stanken meine Hände durchdringend nach Fisch und Essig, und die Haare klebten mir nach der stundenlangen Arbeit mit Netzhäubchen an der Fritteuse wie angeklatscht am Kopf. Ich musste dringend duschen, ehe ich irgendwas anderes machte.

»Du bist spät dran.«

Ich fuhr fast aus der Haut vor Schreck. Da saß sie, am oberen Treppenabsatz, und rauchte.

»Ziemlicher Andrang. Sind schließlich Sommerferien.« Das hatte mir gerade noch gefehlt. »Du aschst den ganzen Teppich voll.«

»Scheiß auf den Teppich. Wo ist deine Schwester?«

Ich starrte sie nur an. »Keine Ahnung. Ich hab den ganzen Tag gearbeitet. Wo ist deine Tochter?«

»Hast du mir was mitgebracht? Ich hab den ganzen Tag noch nichts gegessen.«

»Du hättest mir was sagen sollen.« Ich hatte tatsächlich eine Gratis-Portion Pommes bekommen, sie aber schon auf dem Heimweg verputzt.

Die Asche am Ende der Zigarette zitterte bedenklich. Ein kleines Zucken der Hand, und schon würde sie sich über die ganze Treppe verteilen. Am liebsten wäre ich hingegangen und hätte ihr die Zigarette im Nasenloch ausgedrückt. Ich hatte jetzt wirklich keinen Nerv für diesen Quatsch. »Und du weißt wirklich nicht, wo Fiona steckt?«

»Nein, ich weiß wirklich nicht, wo Fiona steckt«, blaffte sie mich an.

»Ich muss erst mal duschen.« Ich wartete ab, dass sie beiseiterückte, tat sie aber nicht. Ich holte tief Luft und drückte mich an ihr vorbei.

»Du stinkst.« Ihre Worte trafen mich von hinten, noch bevor ich an meiner Zimmertür war.

Ich besah mir das Durcheinander, das meine Schwester hinterlassen hatte. Toastrinde auf einem Teller und eine schwarzbraune Kaffeepfütze in einem Becher. Der Inhalt ihres gepunkteten Schminktäschchens auf dem ungemachten Bett verstreut. Achtlos auf den Boden geworfene Klamotten. All der Kram und Krempel, über den ich ständig steigen und den ich tagtäglich von meinem Bett fegen musste, jammernd, dass er nicht dahin gehörte, und warum sie ihre Sachen nicht einfach auf ihrer Zimmerseite behalten konnte. Die Brust wurde mir eng. Ich wollte sie hierhaben, inmitten ihrer ganzen Lotterwirtschaft. Ich wollte sie anpflaumen, wie heute Morgen noch, als ich mich hektisch für die Arbeit fertig gemacht hatte.

Ich öffnete den Schrank und atmete aus, als ich ihren abgetragenen grünen Pulli sah, die Tarnjacke mit den Flicken am Ellbogen, ihren Jeansrucksack. Wo auch immer sie stecken mochte, weit konnte sie nicht sein.

»Was hast du gemacht?« Ich verschränkte die Arme über dem zerknitterten T-Shirt.

Sie trank Rotwein und schaute ganz leise fern.

»Was hast du gemacht?« Ich zwang mich, lauter zu reden – leicht fiel mir das nicht.

Aus den Augenwinkeln sah sie mich an. »Nichts habe ich gemacht. Deine Schwester ist ganz einfach bekloppt. Ich dachte ja immer, du bist die Bekloppte, aber inzwischen bin ich mir da nicht mehr so sicher.«

»Du bist eine Lügnerin.«

Ich duckte mich gerade noch rechtzeitig, Sekunden bevor das Weinglas an der Wand hinter meinem Kopf zerschellte. »Ich habe keine Angst vor dir«, sagte ich zu ihr, aber sie lachte bloß.

Ich knallte die Haustür hinter mir zu und lief los, ohne zu wissen, wohin. Um den Block, vorbei an der Schule, hinter dem Laden her, dann drehte ich schließlich um und marschierte den ganzen Weg wieder zurück. Eine Stunde später fand ich mich unversehens im Park wieder. Er war menschenleer, bis auf jemanden ganz weit hinten, am anderen Ende, eine Gestalt auf einer Schaukel, die langsam hin und her schwang. Kaum hatte ich die Puzzleteile zusammengefügt – schnittlauchgerade blonde Haare, dünne Beine, schmale Schultern, an den Knien zerrissene Jeans – , jagte ich los.

Sie schaute auf, sah mich, wie ich auf sie zurannte. Ich winkte, versuchte, mich beim Laufen komisch zu verrenken, um sie zum Lachen zu bringen, zog die Knie so hoch ich konnte. Sie sah mich nur an. Ihr Gesicht war anders. Erst als ich auf ein paar Meter herangekommen war, sah ich, dass es ganz rot und fleckig war. Sie wandte sich ab.

Unmittelbar vor ihr blieb ich stehen. »Fiona Maggs, was ist los?«

Sie zuckte die Achseln. »Nix.«

»Nach nix sieht das aber nicht aus.« Ich hielt ihr die Hand hin. Sie nahm sie, fasste sie ganz fest, blieb aber auf der Schaukel sitzen. So standen wir da, ohne irgendwas zu sagen, bis sie mich mit ihrem fleckigen Gesicht wieder ansah.

»Fee.«

»Lass es, Meredith. Lass es einfach.«

»Was machst du hier?«

»Ich weiß es nicht. Ich musste bloß mal raus.«

Noch nie hatte ich meine Schwester so mutlos gesehen. Sie war die Starke. Die Mutige. Die Ist-mir-doch-Egal. Nicht die, die allein im Park auf einer Schaukel sitzt. So was machte ich sonst.

»Ist was passiert?«

Sie zuckte mit den Schultern.

»Okay, es ist was passiert. Du brauchst es mir nicht zu sagen, wenn du nicht willst. Aber komm bitte wieder mit nach Hause. Bitte. Du musst deine Toastrinde noch wegräumen.«

Sie lachte, dann sagte sie: »Noch nicht.«

»Okay.« Ich sah mich um. »Dann setze ich mich da drüben hin. Und warte auf dich.«

Ich spürte ihre Blicke im Rücken, als ich auf ein kleines Kinderkarussell stieg. Es drehte sich ein bisschen, als ich mich setzte, und ich musste an damals denken, als ich noch ganz klein gewesen war und Fiona mich im Kreis gedreht hatte, immer herum und herum, bis ich irgendwann geschrien hatte, sie solle aufhören.

Ein paar Minuten später kam sie und setzte sich zu mir. Ich rückte ein bisschen beiseite, um ihr Platz zu machen.

Wir legten uns auf den Rücken, ließen die Beine baumeln und drückten uns mit den Füßen vom Asphalt ab, bis wir uns drehten. Händchen haltend warteten wir auf den unvermeidlichen Drehwurm.

»Entschuldige«, keuchte sie, als das Karussell schließlich wieder langsamer wurde.

Ich hielt mir den Bauch, bis mein Magen sich beruhigt hatte. »Wofür?«

»Dass ich nicht da war, als du nach Hause gekommen bist. Ich bin deine große Schwester. Ich muss auf dich aufpassen.«

»Gar nicht wahr«, widersprach ich. »Wir passen gegenseitig auf uns auf.«

Und dann liefen wir hinaus aus dem großen Park und zurück in unser kleines Häuschen, unser kleines Leben. In geschwisterlichem Schweigen gingen wir nebeneinanderher, und ich sah zu, wie unsere Füße im Gleichschritt marschierten, und spürte, wie meine Hand beim Vor- und Zurückschwingen ihre streifte. Just als die Sonne über der Stadt unterging, kamen wir an die Haustür.