Tag 1.377

Freitag, 26. April 2019

Ich sitze im Erkerfenster, trinke gerade eine Tasse Tee und schlage ein bisschen die Zeit tot, ehe ich mit der Arbeit anfange, da sehe ich ihn – zumindest Kopf und Schultern. Er fliegt nur so vorbei, viel schneller, als man es selbst von einem Zehnjährigen erwarten würde. Und dann ist er auch schon wieder verschwunden. Ich warte kurz, und als er nicht wieder auftaucht, stelle ich meine Teetasse ab und flitze los, um ihm die Haustür aufzumachen.

»Jacob, ist was passiert?«

Er antwortet irgendwas, aber es ist hinter der Mauer nicht zu verstehen. Ich schaue mich um. Niemand sonst zu sehen. Ich atme tief durch und schlüpfe in die Turnschuhe. Ich bin vor sechs Tagen rausgegangen, also schaffe ich das jetzt auch.

Ich bin gerade auf halbem Weg den Pfad hinunter, da erscheint sein Kopf unvermittelt oberhalb der Mauer. »Hey, Meredith. Wie geht’s? Bin gerade nur vom Skateboard gefallen.«

»Hast du dir wehgetan?« Am Ende des Pfades stehen wir uns gegenüber.

»Nö, bloß ein kleiner Kratzer.« Er weist auf seinen Ellbogen, von dem das Blut tropft.

Ich muss mir das Grinsen verkneifen. »Tapfer bist du. Was meinst du, soll ich es eben desinfizieren und dir ein Pflaster draufkleben?«

Er denkt kurz über mein Angebot nach. »Ich glaube, es geht schon.«

»Ganz sicher? Meinst du, ein Keks würde vielleicht helfen?«

»Ja, kann sein. Was für ein Keks denn?«

»Schoko mit Schoko.«

Er grinst. »Na schön.«

»Bin gleich wieder da.«

Als ich kurz darauf mit Keksdose und Erste-Hilfe-Set wieder nach draußen komme, sitzt er auf meiner Gartenmauer und inspiziert seine Knie. »Hier blutet’s auch«, sagt er zu mir.

»Na, dann ist es ja gut, dass ich reichlich Pflaster dabeihabe.« Ich reiche ihm die Blechdose. »Hier, nimm dir einen. Und sag mir, wie sie dir schmecken.«

Er mümmelt eine Weile, während ich Ellbogen und Knie verarzte. »Gut. Ein bisschen weich in der Mitte.«

»Genau richtig weich? Oder zu weich?«

Er denkt kurz nach. »Da müsste ich schon noch einen probieren, um ganz sicher zu sein.«

»Klingt logisch.« Ich krame im Verbandszeug nach einem Pflaster. »Und, ist das Skateboard neu?«

»Ist für meinen Cousin zu klein geworden«, erklärt er, den Mund voller Kekskrümel. »Meine Mum flippt aus, wenn sie das sieht. Immer ist sie hinter mir her, ich soll die Knieschoner anziehen. Aber die sind so uncool.«

»Ja, aber damit wäre das nicht passiert.« Behutsam drücke ich ein Pflaster auf sein aufgeschürftes Knie. »Na, wie du schon sagtest, bloß ein kleiner Kratzer. Das heilt im Handumdrehen.«

»Danke, Meredith. Du bist ’ne tolle Krankenschwester.« Er hopst von der Mauer. »Willst du mal einen Trick sehen?«

»Klar.« Ich nehme mir einen Keks aus der Dose und setze mich auf die Mauer, so wie er eben. Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal auf einer Mauer gesessen und mit den Beinen gebaumelt und dabei Süßkram gefuttert habe. Vielleicht noch nie. Ich sehe zu, wie er in die Knie geht und springt und das Skateboard mit einem Tritt auf einer Seite in die Luft schnellen lässt.

»Das nennt man einen Ollie«, sagt er. »Die Profis springen richtig hoch. Aber ich bin ja noch Anfänger, wie man sieht.«

»Du bist bestimmt auch ruckzuck ein Profi, Jacob.«

Er zuckt die Achseln.

»Pass auf, ich muss wieder rein und mich an die Arbeit setzen. Aber … möchtest du die Kekse vielleicht mitnehmen? Für dich und deinen Bruder? Ich lasse sie dir hier auf der Mauer stehen, dann kannst du sie später mitnehmen, wenn du nach Hause gehst.«

Er strahlt mich an. »Ja, bitte, gerne. Aber mein Bruder kriegt keine ab. Der ist ein Schwein. Die verstecke ich unterm Bett.«

Ich lache. »Versprich mir, dass du sie deiner Mum gibst.«

Er verdreht die Augen. »Versprochen.«

»War schön, dich zu sehen, Jacob.«

»Gleichfalls, Meredith.«

»Und falls noch mal was passiert, du weißt ja, wo ich bin.«

»Jep.«

Eigentlich müsste ich mich dringend an die Arbeit setzen. Aber es ist so schön, hier auf der Mauer zu hocken und mit den Beinen zu baumeln. Also bleibe ich noch ein bisschen sitzen und sehe zu, wie Jacob die Straße hoch und runter rollt und mit wechselndem Erfolg seine Kunststücke übt. Hin und wieder schaut er zu mir rüber, und ich zeige ihm die gereckten Daumen. Dann rücke ich ein bisschen nach vorne, bis zur Mauerkante, und merke, dass ich von da mit den Zehen auf den Bürgersteig komme. Nur ein Schritt, und ich würde draufstehen. Viel anders als mein Gartenpfad ist er auch nicht. Aber nicht heute, und nicht vor Jacob. Ich finde, für heute reicht es. Also schwinge ich die Beine wieder über die Mauer, rüber auf die sichere Seite. Ich gehe ins Haus und lasse nur die Keksdose zurück.