Tag 1.386

Sonntag, 5. Mai 2019

Immer wieder sage ich mir, dass Mama lügt, aber ich werde die nagenden Zweifel ganz tief drinnen nicht los. Um mich irgendwie auf andere Gedanken zu bringen, bestelle ich mir spontan was Neues für Celestes Party. Es ist meine erste Party seit Jahren, das verdient etwas Besonderes. Mir Kleider über Kleider über Kleider anzuschauen erweist sich als ausgezeichnete Ablenkung, sowohl von den nagenden Zweifeln als auch von der Stimme, die mir ins Ohr flüstert, was ich mir eigentlich einbilde, und dass ich nie im Leben auf diese Party gehen werde. Aber ich will unbedingt da hin , zischele ich ungehalten zurück, als zählte mein Wille irgendwas. Kinderwillen ist Kälberdreck, hat Mama immer gesagt.

Trotzdem kaufe ich mir was Neues. Statt eines Kleides entscheide ich mich für einen Jumpsuit. Hatte ich noch nie, aber im Fernsehen und im Internet führt momentan kein Weg daran vorbei.

Meine einzige Sorge ist der unvermeidliche Gang zum Klo, aber das kriege ich bestimmt auch irgendwie hin. Vielleicht kann Celeste ja mitkommen und mir die Ärmel festhalten, damit sie nicht auf dem Boden schleifen. Sind wir schon so eng, uns zusammen in eine Toilettenkabine zu quetschen? Nach ein paar Gläschen Wein bestimmt. Sadie und ich haben das früher immer so gemacht. Man sparte ein paar Minuten Anstehzeit in der Schlange vor dem Pubklo, und eine von uns konnte Schmiere stehen, falls das Schloss mal wieder kaputt war. Lustig waren sie, die Abend mit Sadie, damals, in einem anderen Leben.

Von Celestes Party habe ich Sadie noch nichts erzählt. Ich will mich nicht noch mehr unter Zugzwang setzen. Celeste zu enttäuschen wäre schon schlimm genug, da will ich nicht auch noch vor Sadie wie eine Versagerin dastehen. Diane weiß Bescheid, aber der blättere ich ja auch fünfzig Pfund die Stunde hin für dieses Privileg, jetzt, wo ich meine Sitzungen selbst bezahlen muss. Bei unserem letzten Termin hat sie die Entscheidung, meiner besten Freundin nichts von der Einladung zu sagen, noch mal kritisch hinterfragt.

»Sadie ist Ihre treueste Unterstützerin«, erklärte sie nachdrücklich. »Ich glaube, sie könnte Ihnen in mehrfacher Hinsicht eine große Hilfe sein – egal, ob Sie letztendlich hingehen oder nicht. Vielleicht könnte sie ja sogar mitkommen?«

Ich nickte nur und wechselte das Thema. Diane ist zwar gut, aber sie versteht auch nicht alles. Ich habe Sadie Celeste und Tom noch immer nicht vorgestellt, weil ich nicht weiß, wie ich es anstellen soll, mein Davor und mein Danach unter einen Hut zu bringen, ohne dabei in kalten Schweiß auszubrechen.

Ich bestelle mir den Jumpsuit, Riemchensandalen und eine süße kleine Clutch, dann rufe ich Fee an. Sie geht nicht ran. Ich wähle ihre Nummer noch elf Mal, wie ein irrer Stalker, aber sie antwortet nicht.

Gerade habe ich mein Buch beiseitegelegt und meine Nachttischlampe ausgeknipst, da fängt mein Handy an zu vibrieren.

»Meredith.« Ihre Stimme ist kaum mehr als ein Wispern. »Ich wollte dich schon die ganze Zeit anrufen.«

»Tja, ich hab dich bestimmt nicht davon abgehalten«, entgegne ich angesäuert.

»Ich weiß.«

»Bist du wieder mit Lucas zusammen?«

»Meredith …«

»Bist du wieder mit Lucas zusammen?«

»Nein … nicht so richtig.«

»Nicht so richtig? Was zum Teufel soll das denn heißen? Entweder du bist mit ihm zusammen oder nicht. Und wenn ja, dann ist das hier das letzte Gespräch, das wir beide je miteinander führen werden, das schwöre ich dir.«

Sie sagt nichts mehr. Im Hintergrund höre ich gedämpfte Geräusche, dann eine Stimme.

»Ich muss Schluss machen«, sagt sie. »Ich bringe dir morgen die Schokoladentorte vorbei.«

Dann ist die Leitung tot. Schokoladentorte.

Ich schlucke die aufsteigende Panik herunter und knipse die Nachttischlampe an. Dann rufe ich sie zurück. Sofort geht die Mailbox dran und fordert mich auf, eine Nachricht zu hinterlassen.

Meine Finger stolpern über die Tastatur. Tut er dir weh?

Die nächsten vier Minuten laufe ich im Schlafzimmer auf und ab, bis sie endlich antwortet: Gerade nicht.

Wo ist er?

Besoffen eingepennt.

Fee, verschwinde auf der Stelle.

Wo soll ich denn hin?

Hierher. Komm hierher.

Sicher?

Sicher sicher. Ruf dir ein Taxi. Jetzt sofort. xx

Ok. xx

Über ein Jahr ist es her, seit Sadie das letzte Mal ein bisschen zu viel Gin getrunken hatte und nicht mehr nach Hause fahren konnte und die ganze Nacht kotzend in meinem Badezimmer zubrachte. Seitdem hat niemand mehr bei mir übernachtet. Ich klappe die Schlafcouch in dem Zimmer auf, das ein Kinderzimmer hätte werden können oder ein Büro, und doch nie mehr geworden ist als eine Gerümpelkammer für aussortierte Möbel. Ich mache das Fenster auf, um ein bisschen frische Luft reinzulassen, und wische mit dem Pyjama-Ärmel den Staub vom Fensterbrett. Fee achtet zwar nicht auf so was, aber ich schon. Ich gehe nach unten, stelle Teewasser auf und setze mich dann, die Knie an die Brust gezogen, auf meinen Fensterplatz und warte.

Mit gleißend hellen Scheinwerfern hält das Taxi vor dem Haus. Ich warte nicht, bis sie klopft. Ich stehe schon in der offenen Tür, noch ehe sie unten am Gartenpfad ist. Sie hat die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, obwohl es gar nicht regnet. Ich sehe die dunklen Schatten auf der einen Seite ihres Gesichts schon von Weitem. Dann kommt sie näher, und sie sind unübersehbar.

»Fee! Was hat er mit dir gemacht?«

Sie sagt kein Wort. Ich breite die Arme aus, und sie fällt haltlos schluchzend hinein.

Der Bluterguss ist schon älter, ich kann also nicht viel für sie tun.

»Mit Schminke im Gesicht sieht es nur halb so schlimm aus«, versichert sie und nippt an ihrem Tee.

»Willst du mir erzählen, wie das passiert ist?«

Sie zuckt die Achseln. »Wie immer eigentlich. Zu viel Bier. Ein paar Widerworte von mir. Weiß gar nicht mehr, worum es ging.«

»Wie lange …« Ich kann den Blick nicht von dem Veilchen an ihrem linken Auge wenden. Es schillert in dunklem Lila und Grün und Rot, fast wie eine Ölpfütze. Genauso stellt man sich ein blaues Auge vor; fast wirkt es wie aufgemalt.

»Die körperlichen Misshandlungen … vor ein, zwei Jahren. Alles andere … vor Ewigkeiten schon.«

Ich greife nach ihrer Hand. »Du musst ja fix und fertig sein. Geh ins Bett – wir reden morgen weiter.«

Sie hat eine Zahnbürste dabei, aber keinen Pyjama. Ich gebe ihr meinen Lieblingsschlafanzug – kuschelig warm und rotweiß kariert, und dazu ein Paar dicke weiße Socken.

»Hast du nachts immer noch so kalte Füße?«

»Ja, manchmal.«

Unschlüssig drücke ich mich vor dem Badezimmer herum, bis sie schließlich wieder rauskommt, und denke, dass ich womöglich noch viel zu lernen habe über diese Frau, die ich doch eigentlich in- und auswendig kenne.

Irgendwann legt sie sich schlafen, und nachdem ich mich vergewissert habe, dass Haustür und Hintertür auch wirklich abgeschlossen sind, gehe ich ebenfalls ins Bett. Um vier Uhr morgens bin ich immer noch wach. Ich nehme Bettdecke und Kissen und schleiche mich ins Gästezimmer. Auf dem Boden mache ich mir ein kleines Nachtlager, und wir schlafen beide bis mittags.