Tag 1.387

Montag, 6. Mai 2019

»Meredith, ich kann nicht ewig hierbleiben.«

Ich spüle weiter unbeirrt das Geschirr vom Mittagessen. »Das weiß ich. Aber zu ihm kannst du auch nicht zurück.«

»Will ich auch nicht.«

»Hat er sich bei dir gemeldet?«

»Acht verpasste Anrufe.«

»Mach das Handy aus und bleib noch eine Nacht«, sage ich zu ihr. »Uns fällt schon irgendwas ein.«

»Ich möchte zur Polizei gehen«, sagt sie. »Nicht bloß meinetwegen.«

»Meinetwegen brauchst du das nicht. Ich will diesen Abend nicht noch mal durchmachen müssen.« Ich lege die letzte Schüssel in das Abtropfgestell und drücke den Schwamm aus.

»Mer.« Sie streift meinen Arm. »Warum hast du das damals nicht gemacht? Warum bist du nicht zur Polizei gegangen?«

Ich drehe den Wasserhahn auf, lasse mir das kalte Wasser über die Hände laufen, spüre, wie sie langsam taub werden. Ganz unerwartet legt sie mir von hinten die Hände auf die Schultern. Dreht mich sachte zu sich um. Ich schaue sie an und sehe ihr geschundenes Gesicht. »Ich fasse es nicht, dass du mich das fragst.« Die Worte bleiben mir fast im Hals stecken, als ich mir vorstelle, wie seine Hand ihren Wangenknochen trifft, dieselbe Hand, die fünf lila Striemen an meinen Schultern hinterlassen hat.

»Es tut mir leid«, stammelt sie mit erstickter Stimme. »Meredith, es tut mir so leid.«

Mit einem Achselzucken tue ich ihre Entschuldigung ab. »Du weißt, was das bedeutet? Es der Polizei zu sagen? Oder? Das ist ein großer Schritt. Sicher, dass du das wirklich willst?«

»Ja«, sagt sie, ohne zu zögern. »Ja, ganz sicher.«

Ich liege auf dem Bett und kraule Fred das weiche Bäuchlein. Noch nie in meinem Leben war ich so müde. Hin und wieder höre ich meine Schwester unten herumhantieren. Ich kann mir selbst nicht erklären, wie ich mich mit jeder Faser meines Körpers nach Ruhe und Alleinsein sehnen kann und sie doch unbedingt in meiner Nähe wissen will. Es ist, als würde ich in der Mitte zerrissen – und eine gezackte Bruchkante liefe mitten durch mich hindurch. Wie ein unvollkommenes Puzzlestück.

Als ich irgendwann nach unten gehe, liegt sie abgeschlagen auf der Couch und zappt sich durch die Fernsehsender.

»Ich will nicht darüber reden«, sage ich leise. »Aber hast du Lust auf einen Film?«

Sofort fangen ihre Augen an zu strahlen.

»Such du einen aus«, sage ich und setze mich ans andere Ende der Couch, ein Samtkissen fest auf den Bauch gedrückt.

Sie fängt an zu scrollen, weiter und immer weiter, bis sie zum Zauberer von Oz kommt.

»Echt jetzt?«

»Ja.« Und mit einem Mal bin ich wieder zehn Jahre alt und sehe Dorothy auf der ausgeleierten VH S -Kassette zu, wie sie die rot glitzernden Hacken zusammenknallt.

»Weißt du noch, wie du mich damals an Halloween als Toto verkleidet hast?«

Sie lacht. »Ich brauchte halt einen Hund.«

Jede an ihrem Couchende, schauen wir einträchtig den Film. Irgendwann springt Fred mir auf den Schoß, und ich kraule ihm das Köpfchen, bis er eingeschlafen ist. Als Dorothy schließlich in der Smaragdstadt ankommt, schläft auch Fee längst tief und fest. Ich decke sie zu, vorsichtig, um sie nicht zu wecken, und schaue mir den Film zu Ende an. Noch nie war meine Couch so warm und gemütlich.