Tag 1.388

Dienstag, 7. Mai 2019

Zwei Polizeibeamte mit freundlichen, ernsten Gesichtern stehen vor der Tür, ein Mann und eine Frau. Ich führe sie ins Wohnzimmer. »Soll ich …?«, flüstere ich Fee zu.

»Nein, ich schaffe das schon«, erwidert sie mit einem Kopfschütteln und macht mir die Tür vor der Nase zu.

Zwei Stunden später fällt die Haustür hinter den Beamten ins Schloss. Ich rühre in der Suppe, bis ich ihre Stimme höre.

»Geschafft. Sie holen ihn jetzt.«

»Meinst du, er wird angeklagt?«

»Ich glaube schon. Sie scheinen ziemlich zuversichtlich, genug Beweise gegen ihn zu haben.«

Ich starre sie an. »Tja, die Beweise trägst du ja im Gesicht.«

Sie senkt den Blick. »Nicht nur da.«

Ich sehe, wie sie die Arme um den Bauch schlingt, und endlich kapiere ich es.

»Oh, Fee … das Baby?« Ich kann die Worte nur wispern, und doch scheint das Echo durchs ganze Haus zu hallen.

Sie beißt sich auf die Lippe. »Es ging alles so schnell.«

»Erzähl.« Ich ziehe sie an mich. »Oder auch nicht. Wie du willst. Ich bin da. Immer.«

»Danke«, murmelt sie an meiner Schulter. »Scheiße. Was für ein Mist.«

»Wir stehen das durch«, sage ich zu ihr, und zum ersten Mal glaube ich selbst daran.

»Sie meinten, sie melden sich nachher und halten mich auf dem Laufenden, was gerade passiert. Und ob ich unbesorgt nach Hause gehen kann.«

Unvermittelt muss ich schlucken, was mir schwerer fällt als erwartet. Ich wende mich wieder der Suppe zu und rühre weiter, ganz langsam, immer im Kreis, sehe zu, wie die Blasen aufsteigen. Ich drehe die Herdplatte herunter und versuche das Brennen in meiner Brust zu ignorieren, das immer heftiger wird.

»Warum wolltest du nicht, dass ich dabei bin?«

»Ich wollte nicht, dass du hörst, was er mit mir macht … gemacht hat.«

Ich sehe mein Gesicht, das sich im Küchenfenster spiegelt, und die dunkle Gestalt dahinter. Ich schließe die Augen und versuche, den Schmerz wegzuatmen.

»Willst du Suppe?«

»Meredith.« Sie legt mir die Hand auf die Schulter, und ich zucke zusammen. Als hätte ich vergessen, dass sie auch noch da ist.

Ich lasse den Kochlöffel fallen und kleckere mir Suppe auf die Jeans.

Immer, wenn er zustößt, stöhnt er. Fasst mich fester an den Schultern. Ich habe furchtbare Angst – vor allem. Dass jemand hereinkommt. Dass niemand hereinkommt. Ich ziehe den Kopf ein, drücke die Ellbogen fest gegen den Körper. Alles, um mich noch kleiner zu machen.

Ich öffne den Mund, aber es kommt kein Ton heraus. Meine Hände zittern. »Ich habe eine Panikattacke«, sage ich mir, oder vielleicht auch meiner Schwester. »Ich habe eine Panikattacke. Es fühlt sich an, als würde ich sterben. Tue ich aber nicht.«

Ich stemme die Zehen in den Boden und fahre mit den Händen über die Oberschenkel, auf und ab, auf und ab, immer wieder. Der Boden ist hart, der Jeansstoff ist fest und glatt. Ich atme ein, ganz langsam und ganz tief, und wieder aus, ganz langsam und ganz tief.

Irgendwann bin ich wieder da, und ich lasse mich halten von meiner Schwester, ganz lange noch.

Die Polizistin kommt noch mal wieder. Sie ist klein, hat einen blassen, sommersprossigen Teint und braune Haare, im Nacken zu einem ordentlichen Dutt hochgesteckt. Sie sagt, Lucas sei festgenommen worden und werde wegen schwerer Körperverletzung angeklagt. Er ist verhört worden, wird die Nacht auf der Wache verbringen müssen und morgen dem Haftrichter vorgeführt werden. Vermutlich wird er auf »nicht schuldig« plädieren und gegen Kaution auf freien Fuß kommen, sagt sie. Aber sollte er sich Fee irgendwie nähern, wird er bis zum Prozessbeginn in Gewahrsam genommen.

»Was, wenn er herkommt?«, flüstere ich.

»Wählen Sie sofort den Notruf, sollte er irgendwie versuchen, Kontakt aufzunehmen«, sagt sie. »Und wenn es bloß eine Textnachricht ist. Oder Sie rufen mich an. Meine Nummer haben Sie ja.«

»Wann ist denn der Prozess?«, fragt Fee, das Gesicht ganz blass unter den Blutergüssen. Manche der dunklen Flecken haben sich inzwischen gelblich braun verfärbt.

»Das kann bis zu einem halben Jahr dauern«, erklärt die Polizistin. Sie hat große, freundliche Augen. Ich frage mich, welche Entsetzlichkeiten die wohl schon zu sehen bekommen haben.

»Und was passiert dann mit ihm?«, frage ich.

»Das kann ich Ihnen leider nicht sagen«, antwortet sie entschuldigend. »Vermutlich bekommt er eine Geldstrafe. Ein paar Monate Gefängnis vielleicht. Kommt darauf an, wie er sich bis dahin aufführt.«

Ehe sie geht, drückt sie Fee noch einen Stapel Broschüren in die Hand. »Ich wünschte, wir könnten allen Opfern die Hilfe anbieten, die sie brauchen«, sagt sie. »Aber hier finden Sie einige Organisationen vor Ort, die Menschen nach Missbrauchserfahrungen in Beziehungen helfen.«

»Geh nicht wieder dahin«, sage ich, während wir dastehen und zusehen, wie die Polizistin wegfährt. »Bleib hier. Bei mir.«

»Ich muss meine Sachen holen, Meredith. Ehe sie ihn wieder laufen lassen. Ich will mich nicht darauf verlassen, dass er sich wirklich fernhält.«

»Ich auch nicht«, sage ich. Ich gehe in die Küche und mache uns einen Tee. Als ich wiederkomme, sitzt sie weinend auf dem Fensterplatz.

»Ich hätte schon vor Jahren gehen sollen«, schluchzt sie.

»Sag das nicht. Sag niemals ›hätte sollen‹.«

Sie drückt meinen Arm. »Du bist viel stärker, als du glaubst, Mer.«

Ich streiche ihr mit den Fingerspitzen übers Gesicht. »Der tut uns nie wieder weh.«

Sie schreibt mir: Ich bin da. Bei Shirley.

Ich rufe sie an, sobald ich die Nachricht sehe, wie eine übervorsichtige Glucke.

»Sicher ist sicher«, sage ich. »Hast du alles, was du brauchst?«

»Ich habe nicht viel mitgenommen. Aber ich habe den Flachbildfernseher von der Wand gerissen. Den habe ich ihm gekauft, also gehört er mir. Sonst nur meine Klamotten und ein paar Kleinigkeiten. Ich brauche nicht viel. Neuanfang und so.«

Ich weiß, dass sie nicht so gelassen ist, wie sie gerade tut.

»Ich bin so was von alle«, gesteht sie. »Ich bin gerade in Shirleys Gästebett gekrabbelt, und gleich daneben steht mein Fernseher.«

»Du fehlst mir«, sage ich.

»Ich weiß«, sagt sie. »Aber es ist besser so. Wäre ich länger geblieben, ich wäre womöglich nie mehr ausgezogen. Und hätte dich nebenbei in den Wahnsinn getrieben. Ich bin immer noch die absolute Chaos-Queen.«

Dass das nicht der eigentliche Grund ist, warum sie ausgezogen ist, weiß ich. Sie geht wie auf rohen Eiern, will mir Zeit lassen, mich auf die neue Situation einzustellen. Und vermutlich will sie mich vor Lucas schützen. Wenn sie nicht hier ist, warum sollte er dann herkommen. Jahrelang ist er für mich nur eine widerliche Erinnerung gewesen, aber keine akute Bedrohung. Jetzt ist er plötzlich zurück aus der Versenkung.

»Hat Shirley die Haustür abgeschlossen? Und die Hintertür auch?«

»Ja. Und ihr Mann wiegt hundertfünfzig Kilo und arbeitet als Schließer im Barlinnie-Knast. Quasi mein hauseigener Bodyguard.«

Der Druck in der Brust lässt ein klitzekleines bisschen nach. »Gut.«

»Bitte, mach dir keine Sorgen«, sagt sie.

»Mir zu sagen, ich soll mir keine Sorgen machen, ist, wie mir zu sagen, ich solle nicht atmen.«

»Ich weiß. Versuch dir nicht so viele Sorgen zu machen. Das ist nicht gut für dich.«

»Moment«, sage ich. »Ich stelle dich mal eben auf Lautsprecher, dann kann ich mir schon mal den Pyjama anziehen und die Zähne putzen.«

Sie gähnt. »Beeil dich, ich bin todmüde.«

Drei Minuten später liege ich im Bett. Ich platziere das Handy auf dem anderen Kissen und schalte das Licht aus.

»Fee?«

»Hm?«

»Danke.«

»Wofür, zum Teufel?«

»Dass du zurückgekommen bist.«

»Danke, dass ich bleiben durfte«, murmelt sie.

Ich mache meine Bauchatmung, atme tief durch die Nase ein und durch den Mund wieder aus, eine Hand auf der Brust, die andere auf dem Bauch.

»Mach nicht so einen Wind«, meckert Fee.

»Komm, versuch’s doch auch mal«, erwidere ich. »Ist sehr entspannend.«

»Herrje. Als Nächstes kommt dann Meditationsgesang oder was?«

Ich muss lachen. »Leg dich auf den Rücken und lege eine Hand oben auf die Brust. Die andere Hand kommt knapp unterhalb des Brustkorbs auf den Bauch. Jetzt atmest du durch die Nase ein, aber mit dem Bauch. Deine Brust soll sich dabei nicht heben. Probier’s. Und denk dran, schön langsam.« Ich mache es ihr vor und spüre, wie mein Bauch sanft gegen die Handfläche drückt. »Dann spannst du die Bauchmuskeln an und atmest durch den Mund aus. Auch ganz langsam.«

»Da muss man sich aber eine Menge merken«, brummt sie.

»Mach es einfach. Ist eigentlich ganz leicht.«

Ich stelle mir vor, wie Fee und ich gleichzeitig ein- und ausatmen, unsere Bäuche sich im Einklang heben und senken. Ich weiß nicht, wie lange wir so daliegen, während ich langsam in der Dunkelheit versinke – es ist mitten in der Nacht, wo Stunden und Minuten ineinanderfließen und die Zeit uns Streiche spielt.

»Du fehlst mir auch, Meredith«, sagt Fee, gerade, als ich schon glaube, sie sei eingeschlafen.