Tag 1.397

Donnerstag, 16. Mai 2019

»Hallo!« Tom strahlt mich hinter seiner dunklen Sonnenbrille an. »Was für ein herrlicher Tag.«

»Hallo. Ja, und wie«, sage ich und lächele zurück. Ich bin heute Morgen fleißig gewesen und habe gute Laune. Ich habe das Haus von oben bis unten geschrubbt, zwei Vanille-Biskuit-Böden gebacken und endlich die Skyline von Manhattan vollendet. Die Wärme hier draußen umschmeichelt angenehm mein Gesicht, aber Tom will eigentlich hereinkommen. Widerwillig trete ich einen Schritt zurück, heraus aus der Sonne.

»Willst du mir bei der Torte helfen?«, frage ich.

»O ja, unbedingt.« Tom schiebt sich die Sonnenbrille in die Haare. »Aber natürlich nur, wenn ich dann auch ein Stück davon abbekomme.«

»Das wird sich einrichten lassen.« Vermutlich gebe ich ihm nachher ohnehin die Hälfte der Torte mit. Ich hasse es, Lebensmittel wegwerfen zu müssen, aber ich möchte auch nicht tagein, tagaus Torte essen. Also verschenke ich immer so viel wie möglich – an Sadie und die Kinder, an Tom, an Jacob, an meine Nachbarin Jackie, die jede Woche die Mülltonnen für mich rausstellt. Ich lasse ihr das Gebäck in einer Tupperdose auf dem Küchenfensterbrett stehen, die sie mir dann beim nächsten Mal leer und gespült wieder zurückbringt. Manchmal hinterlässt sie einen kleinen Zettel mit ihrer Kritik in der Dose wie köstlich oder Die Schokomuffins fand ich besser .

Tom weiß also, dass er so viel Torte bekommt, wie er essen kann, er zieht mich einfach nur gerne auf.

»Ich habe noch nie eine Torte gebacken«, gesteht er.

»Wir brauchen nur noch die Buttercreme für die Füllung zu machen. Aber wenn du magst, können wir nächste Woche auch mal gemeinsam backen. Ist eigentlich ganz einfach, ehrlich.«

»Für dich vielleicht. Meine kulinarischen Fertigkeiten beschränken sich auf Wokgemüse.«

»Gemüse schnibbeln und im Wok schwenken kriegst du also hin?« Ich kann nicht anders, der kleine Seitenhieb muss sein.

»Exakt, du Schlaumeierin. Manchmal tue ich sogar noch ein paar Nudeln dazu.« Tom stupst mich mit dem Ellbogen an.

Er berührt mich nur für den Bruchteil einer Sekunde, aber kaum ist es vorbei, spüre ich nur noch die Abwesenheit seines Arms. Sogar durch den Ärmel habe ich die Wärme seiner bloßen Haut gefühlt. Aber ich sollte mich lieber darauf konzentrieren, sämtliche Zutaten bereitzustellen: Butter, Zucker, Vanille-Extrakt, Erdbeerkonfitüre.

»Kann ich mich irgendwie nützlich machen?«

Ich drehe mich um und sehe ihn auf der Arbeitsplatte sitzen und mit den Beinen baumeln wie ein Teenager.

»Zuerst mal kannst du da runterkommen«, schimpfe ich streng. »Wir brauchen eine große Rührschüssel und eine Gabel. Einen Holzlöffel und ein Sieb.«

Schwungvoll springt er von der Arbeitsplatte. »Alles klar. Dann wollen wir doch mal sehen, wie lange es dauert, bis ich das alles beisammenhabe.« Er fängt an, Schubladen und Schranktüren aufzureißen und an den völlig falschen Stellen zu suchen. Es ist eigenartig intim, ihn so in meinen Sachen wühlen zu sehen. Und irgendwie auch ziemlich komisch. Wer würde schon ein Sieb im selben Schrank aufbewahren wie Baked Beans und Dosenobst?

»Zuerst muss die Butter etwas weicher werden«, erkläre ich ihm und drücke ein paar Knöpfe an der Mikrowelle.

Als ich mich wieder umdrehe, hat er Gabel und Schüssel und Sieb in den Händen und ein breites Grinsen im Gesicht.

»Fertig?«

»Fertig.«

Ich zeige Tom, wie man die Butter aufschlägt, bis sie glatt und fluffig ist. Wir sieben den Zucker hinein, geben die Vanille dazu und verteilen schließlich die Creme auf einem der Biskuit-Böden. Zum Schluss streichen wir eine dicke Schicht Erdbeerkonfitüre darauf und legen dann den zweiten Boden darauf.

Die meiste Zeit arbeiten wir schweigend, ohne dass es irgendwie komisch wäre. Ich glaube, es gibt kaum jemanden, mit dem ich so gerne auch einfach mal gar nichts sage. Ich lasse diese sonderbare Erkenntnis einen Moment sacken, dann reiche ich ihm den Puderzucker.

»Nur noch eins, dann sind wir so weit. Die Ehre gebührt dir. Du musst die Torte damit bestäuben. Ganz leicht nur, wie Pulverschnee.«

»Also. Das sieht ja unglaublich aus. Wobei du natürlich den Löwenanteil gemacht hast.« Tom tritt einen Schritt zurück, um unser Werk gebührend zu bewundern.

Ich lächele. »Teamarbeit. Und jetzt zum besten Teil – der Verkostung.«

Ich schneide zwei großzügige Stücke ab, und Tom nimmt Kuchenteller aus dem Eckschrank. Nach seiner Suchexpedition vorhin scheint er den Inhalt meiner Küchenschränke jetzt in- und auswendig zu kennen.

»Aber nicht ohne Tee«, sagt er. »Ich mache uns welchen.«

Ich setze mich an den Küchentisch und warte. »Die Torte ist nach Königin Victoria benannt, wusstest du das? Angeblich hat sie jeden Nachmittag zum Tee ein Stück davon gegessen.« Ich fahre mit dem Finger an der herausquellenden Füllung entlang und lecke sie ab.

»Ich bin ja kein Monarchist, aber sie ist definitiv meine Lieblingskönigin.« Tom setzt sich mit zwei Teetassen zu mir an den Tisch. »Sie war ihrer Zeit weit voraus. Wusstest du, dass sie Prinz Albert den Antrag gemacht hat?«

Ich schüttele den Kopf. »Ich mag Maria Stuart.«

»Oh-oh, heikles Thema. Die Torte ist der Hammer, übrigens.«

»Ja. Ja, stimmt.«

»Nächstes Mal machst du mir besser einen Salat. Ich werde noch kugelrund, wenn das so weitergeht.«

Mit hochgezogenen Augenbrauen schaue ich ihn über den Rand meiner Teetasse an. »Du hast doch kein Gramm Fett am Körper.«

»Soll ich dir mal was sagen?«

»Immer.«

»Ich bin einsam.«

Sprachlos starre ich ihn an. Damit habe ich nicht gerechnet.

»Ich muss oft daran denken, wie anders mein Leben sein könnte, wenn Laura noch da wäre, wenn unsere Babys noch da wären. Wäre es nur ein bisschen anders gelaufen, hätte ich jetzt eine Familie.«

Ich versuche mir den anderen Tom vorzustellen, der mit einem krähenden Baby vor der Brust durch den Park spaziert, und mein Herz zieht sich zusammen.

»Ich bin auch manchmal einsam«, gestehe ich ihm. »Aber du bist immerhin da draußen in der Welt. Du könntest morgen deiner Seelenverwandten über den Weg laufen, wenn du einfach bloß die Straße entlanggehst.«

»Glaubst du an Seelenverwandtschaft?«

Ich überlege kurz. »Nein, eigentlich nicht.«

»Du könntest auch wen kennenlernen, Meredith.«

Ich sehe ihn an und verdrehe die Augen.

»Wart’s nur ab. Wenn du es willst, wird es passieren.«

Ich zucke mit den Schultern. »Vielleicht finde ich ja jemanden, der auch ein Einsiedler ist, dann kann er hier einziehen, und wir werden Zweisiedler.«

»Und ihr könntet ganz viele Einsiedlerbabys machen.«

»Eine Vielsiedelei.«

Wir lachen.

»Du weißt aber schon, dass du eigentlich keine Einsiedlerin bist, oder?«

»Meinst du nicht?«

Er grinst. »Einsiedler sind meistens religiöse Eremiten. Du bist bloß eine ganz gewöhnliche, ungläubige Eigenbrötlerin.«

Bei Tee und Torte plauschen wir noch eine Weile weiter. Er erzählt mir, dass er mit dem Laufen angefangen hat, und meint, dass es schwer für ihn wird, sich an seinen gesunden Essensplan zu halten, wenn ich ihn immer mit Kuchen und Keksen vollstopfe. Ich schlage vor, ihm zukünftig nur noch gesunde Süßigkeiten ohne Butter und Zucker vorzusetzen. Später beim Gehen überrumpelt er mich mit einer festen Umarmung.

Als er weg ist, setze ich mich an mein Puzzle, aber ich kann mich nicht konzentrieren. Meine Knie sind ganz steif, weil ich zu lange am Kaffeetisch gesessen habe. Ich stehe auf und schaue nach draußen. Der Himmel ist bewölkt, aber es ist trocken. Ich schaue auf die Uhr und dann wieder hinaus. Sieben Minuten dauert es, bis jemand an meinem Haus vorbeigeht.

Langsam tappe ich von einem Zimmer ins nächste, sammele Schuhe und Pullover ein. Ich denke an Tom, als ich die paar Schritte den Gartenpfad hinuntergehe. Ich will nicht, dass er einsam ist. Ich habe den Keim einer Idee im Kopf, noch zu vage, um greifbar zu sein. Ich komme ans Ende des Pfades, und es fühlt sich fast schon alltäglich an.