1991

Es war ein ruhiger Sonntag. Wir saßen am Küchentisch und schnitten Anziehpuppen aus Papier aus, während Mama Brot backte. Sie summte zur Musik aus dem Radio und war ganz versunken ins Rühren und Mischen und Kneten. Gelegentlich warf sie einen Blick über die Schulter rüber zu uns, ob wir auch ja nichts zerschnibbelten, was nicht zerschnibbelt werden sollte. Fee hatte mal sämtlichen Puppen die Köpfe abgeschnitten. Das war nicht besonders gut angekommen.

»Wir sind zu alt für diesen Quatsch«, flüsterte Fee mir zu. Ich guckte schnell zu Mama, aber die war ganz mit ihrem Brot beschäftigt. Die Muskeln in den Unterarmen spannten sich, immer, wenn sie mit den Handflächen den Teig platt drückte. Wieder und wieder machte sie das, stundenlang, wie es schien. Ich sah ihr gerne dabei zu. Es hatte etwas Hypnotisches.

Fee hatte recht – wir waren zu alt für Anziehpüppchen aus Papier. Aber Mama wollte verhindern, dass aus uns frühreife Früchtchen wurden. Und außerdem, mit der scharfen Schere das dicke Papier zu zerschneiden, machte irgendwie Spaß. Ich ließ mir Zeit, schnitt sorgfältig an den Linien entlang. Ich bastelte mir das Mädchen zurecht, das ich nie sein würde – mit dicken blonden Locken, Stupsnase und breitem Lächeln. Ich zog ihr ein türkisblaues Kleid mit großen weißen Punkten an und faltete vorsichtig die Laschen um den flachen Körper.

Es klingelte an der Haustür. »Wer platzt einem denn sonntagsnachmittags unangemeldet ins Haus?« Mit dem Ellbogen drückte sie den Wasserhahn hoch und wusch sich Öl und Mehl von den Händen. »Würde eine von euch bitte die Tür aufmachen?«

Fee sprang auf. »Ich geh schon.« Alles, nur um von den langweiligen Papierpuppen wegzukommen.

Ich schnibbelte schweigend weiter, während Mama sich die Hände abtrocknete, in der Ofentür kurz ihr Spiegelbild begutachtete und sich die Haare glatt strich.

Fee spähte um die Küchentür. Ihre Augen waren groß und rund. »Unsere Tante ist hier«, sagte sie.

»Tante Linda?« Ich freute mich. Manchmal brachte sie am Wochenende Fish and Chips mit und Limo aus der Dose. Vielleicht mussten wir Mamas Brot doch nicht essen.

»Sie sagt, sie ist unsere Tante Anna.«

»Scheiße«, fluchte Mama.

»Ist das eine Freundin von dir?« Diese Tante-aber-keine-richtige-Tante-Sache war irgendwie verwirrend.

»Nicht unbedingt.« Mama legte mir eine Hand auf die Schulter. »Benehmt euch, Mädels. Macht mir keine Schande.«

Die Dame, die sich als Tante Anna vorgestellt hatte, saß in einem Sessel im Wohnzimmer, wir drei anderen ihr gegenüber auf der Couch, Mama inmitten ihrer Mädchen. Ihre Hand lag warm und mehlstaubig auf meiner, und ihre Finger schlossen sich fest um meine, wann immer Tante Anna mich etwas fragte. Wie eine wortlose Warnung.

Tante Anna erzählte uns, dass sie die ältere Schwester unseres Vaters sei, dass sie uns nicht mehr gesehen habe, seit wir ganz klein gewesen waren, und dass wir ihr gefehlt hätten. Sie sagte, sie sei nur für ein paar Tage aus Irland zu Besuch. Ich wollte sie fragen, ob unser Vater auch in Irland war. Ich wollte sie alles fragen, aber meine Stimme wollte mir nicht gehorchen.

Fee dagegen schien keinerlei derartige Schwierigkeiten zu haben. »Wo ist unser Dad?«

Ich spürte, wie Mama stocksteif wurde. Ich wünschte, sie würde meine Hand loslassen und mich nicht so bedrängen. Meine Kehle war wie zugeschnürt, als legten sich ihre Finger auch darum und drückten erbarmungslos zu. Ich hielt die Luft an und wartete ab, was Tante Anna dazu zu sagen hatte.

Sie war klein und rundlich, hatte ein freundliches Gesicht und dunkle Löckchen, die sich bis auf ihre Schultern ringelten. »Momentan ist er in Liverpool. Er würde euch so gerne sehen.«

Liverpool. Ich hatte keine Ahnung, wo das war – ich hoffte bloß, nicht allzu weit weg. Ich starrte rüber zu Fee, flehte sie mit Blicken an, mir irgendwas zu verstehen zu geben, aber sie verzog keine Miene.

»Hat er dir Geld für uns mitgegeben?«, fragte Mama.

»Also … ähm, nein, aber …«

»Tja. Da sieht man es wieder. Gute Väter kümmern sich um ihre Kinder.« Mama stand auf und zog uns auf die Füße. »Kommt, Mädels, kochen wir unserem Gast erst mal eine Kanne Tee.«

Ich wollte lieber bleiben und mit Tante Anna reden. Ich hatte so viele Fragen. Aber Mama wollte nichts davon wissen. Unerbittlich zerrte sie Fee und mich hinter sich her in die Küche.

»Unser Dad ist in Liverpool?«, fragte Fee aufgebracht, kaum, dass die Tür zugegangen war. »Du hast uns doch gesagt, er ist im Ausland.«

»Fiona, ich habe nicht die leiseste Ahnung, wo euer Vater sich nach all den Jahren herumtreibt. Was weiß ich, er könnte genauso gut in Australien oder auf dem Mond sein.« Mama hatte uns den Rücken zugekehrt, während sie den Wasserkocher füllte und Tassen und Untertassen auf ein Tablett stellte.

»Wo ist denn Liverpool?«, fragte ich Fee im Flüsterton.

Sie zuckte die Achseln. »Nicht weit. Die Beatles kommen da her. Die mit dem »Yellow Submarine«- Song.«

»Können wir nach Liverpool fahren?«, fragte ich Mama.

Sie lachte. »Natürlich könnt ihr das, Engelchen. Wenn ihr alt genug seid, allein zu fahren. Euer Vater weiß ganz genau, wo ihr seid. Er kann jederzeit herkommen und euch besuchen.« Sie riss die Besteckschublade auf.

»Aber … aber …«

»Aber, aber. Du klingst wie ein Roboter. Los, hol die Milch aus dem Kühlschrank, aber schnell. Ich setze mich jetzt zu Tante Anna und trinke in Ruhe eine Tasse Tee mit ihr.« Sie wies auf die liegen gebliebenen Papierpuppen. »Und ihr beide spielt schön weiter. Ihr könnt euch nachher noch verabschieden, ehe sie wieder geht.«

Verzweifelt guckte ich Fee an, aber sie starrte bloß stur auf den Boden. Auf jeder Wange hatte sie einen knallrosa Fleck. Wütend riss ich die Milchflasche heraus und knallte die Kühlschranktür zu. Entweder merkte Mama es nicht oder es war ihr egal. Ungerührt nahm sie mir die Milch aus der Hand, rauschte aus der Küche und schloss nachdrücklich die Tür hinter sich.

Bevor sie ging, steckte Tante Anna mir und Fee noch je einen knistrigen Fünf-Pfund-Schein und einen Schokoriegel zu.

»Danke«, sagten wir im Chor. Zögerlich machte ich einen Schritt auf sie zu, just als Mamas Arm sich unter meinen hakte und mich langsam, aber bestimmt zurückzog. Kaum hatte sich die Tür hinter Tante Anna geschlossen, stürmte Mama wieder in die Küche. Fee und ich flitzten ins Wohnzimmer, stützten die Hände aufs Fensterbrett und schauten Tante Anna nach, wie sie in ihr kleines rotes Auto stieg.

Dort blieb sie so lange reglos sitzen, dass ich mich schon fragte, ob sie wohl gerade all ihren Mut zusammennahm, um noch mal reinzukommen. Vielleicht könnten wir uns aber auch durchs Fenster quetschen, zu ihr ins Auto hopsen und mit nach Liverpool fahren? Schließlich schaute sie noch einmal hoch zum Haus und sah uns am Fenster. Sie lächelte und winkte. Wir winkten wie wild zurück, bis sie schließlich losfuhr. Dann drückte Fee meine Schulter und rannte nach oben.

Die Hände gegen die Scheibe gepresst, blieb ich am Fenster stehen, bis das kleine rote Auto verschwunden war.

Meinen Schokoriegel aß ich heimlich im Badezimmer und schob den Fünfer unter die Matratze. Ich hatte zwar keine Ahnung, wie weit ich damit kommen würde, aber ich war wild entschlossen, nach Liverpool zu fahren.

Immer wieder habe ich im Laufe der Jahre von Tante Anna geträumt. Manchmal läuft sie mir über einen Strand nach, ich strauchele, sie fängt mich auf, und just in dem Moment wache ich auf. Manchmal jage ich ihr auch nach, aber immer ist sie zu schnell für mich. Sie wird kleiner und kleiner und immer kleiner, bis sie nur noch ein winziger Punkt am Horizont ist, aber ich kann nicht anders, ich muss ihr immer weiter nachlaufen. Beide Träume sind gleichermaßen verstörend.

In den Wochen nach Tante Annas Besuch musste ich immer wieder daran denken, wie anders alles hätte ausgehen können, wäre ich doch bloß ein bisschen mutiger gewesen. Unerschrockener. Wenn ich mich nicht von Mamas Hand zum Schweigen hätte bringen lassen. Die Last der verpassten Chance wog schwer auf meinen Schultern. Immer musste ich an Liverpool denken. Wenn Fiona und ich allein waren, wollte ich über nichts anderes mehr reden.

»Willst du denn gar nicht hin? Willst du ihn überhaupt nicht sehen? Vielleicht könnten wir ja bei ihm bleiben«, sagte ich und setzte fast beiläufig hinterher: »In Liverpool.« Als könne es irgendeinen Zweifel daran geben, was ich wirklich meinte. Als wäre es eine Rückkehr in altvertraute Straßen, ich, ein Mädchen, das nie über die Stadtgrenzen von Glasgow hinausgekommen war.

»In Liverpool wäre das Leben auch nicht leichter.« Fiona verschränkte die Arme hinter dem Kopf und legte sich ausgestreckt ins Gras. Es war ein sonniger Tag. Mama hatte seit letztem Monat einen neuen Job im Pub um die Ecke und arbeitete den ganzen Tag. Sie hatte uns eine Liste geschrieben, was alles im Haushalt zu erledigen war, bevor sie nach Hause kam, sonst  … Aber sie unterschätzte uns. Wir waren schnell und gründlich und ein gutes Team, solange ich machte, was Fiona mir sagte. Die letzte Aufgabe für heute war es, die Wäsche an die Leine zu hängen. Ich sah zu, wie die vergilbten Kissenbezüge sich in der leichten Brise bauschten.

»Woher willst du das wissen?«, murrte ich. »Du weißt doch gar nicht, wie es ist, woanders zu wohnen.«

»Ich weiß mehr als du. Du bist nicht Annie, das kleine Waisenkind, und es gibt auch keinen Daddy Walton, der kommt und dich rettet.«

»Ich weiß, dass ich nicht Annie bin, und er heißt Daddy Warbucks.« Ich drehte mich auf die Seite und starrte das Profil meiner Schwester an. Wie ich sie um ihre Stupsnase beneidete. Mama meinte, ich hätte eine spitze Nase, wie eine Hexe. Fionas Himmelfahrtsnase zierten ein paar verstreute Sommersprossen, nicht zu viele, gerade genug. Sonnenküsschen , nannte Mama sie.

»Sie hat uns schon so lange«, brummte ich. »Jetzt ist er mal dran.«

»Meredith, sie würde uns nie gehen lassen.«

Ich zuckte mit den Schultern. »Wir könnten trotzdem gehen. Wir könnten auf der Stelle verschwinden. Sei nicht so feige.«

Fiona guckte mich mit zusammengekniffenen Augen an. »Wir sind nicht feige. Darum sind wir noch hier.«

Ich ließ mich auf den Rücken fallen und starrte in die Sonne, bis mir die Augen wehtaten.

»Liverpool ist bestimmt gigantisch groß«, sagte sie. »Viel größer als Glasgow. Wie sollen wir ihn da überhaupt finden?«

Sie hatte recht. Immer hatte sie recht. Ich hasste sie dafür. Irgendwas in meiner Brust wurde ganz hart. Vielleicht war es mein Herz, das langsam zu Stein wurde.

»Am liebsten würde ich die ganze Wäsche von der Leine reißen und darauf herumtrampeln«, schimpfte ich. »Ich will alles kurz und klein schlagen. Ihre Klamotten einfach verbrennen.«

»Was ziemlich blöd wäre«, wandte meine Schwester sachte ein. »Wie wäre es, wenn ich dir die Fingernägel lackiere? Du darfst dir auch die Farbe aussuchen.«

Sie sprang auf und hielt mir die Hand hin. Ich ließ mich von ihr auf die Füße ziehen. Sie war immer noch größer als ich, aber langsam schloss ich auf. Ich dackelte hinter ihr her ins Haus und fragte mich, ob sie mich wohl in alle Ewigkeiten herumkommandieren würde. Ob ich je würde selbst entscheiden dürfen.

Meine Schwester legte mir den Arm um die Schultern. »Vielleicht kommt er ja auch her und holt uns.« Keine von uns beiden glaubte daran, aber wir waren gut im So-tun-als-Ob.