Donnerstag, 4. Juli 2019
Vor uns das Krankenhaus, kalter Stahl und glänzendes Glas. Draußen drängen sich geschätzte drei Millionen Menschen. Zumindest sieht es so aus.
»Ich glaube, ich schaffe das nicht«, sage ich und klammere mich von innen an den Türgriff des Autos.
»Klar schaffst du das.« Fee reißt die Handbremse hoch und fängt an, in ihrer Handtasche herumzukramen. »Sie ist bestimmt ganz handzahm. Sind schließlich ringsum Ärzte und Schwestern.«
»Nicht nur deswegen. Hier sind so viele Leute. Die sind überall.«
Seufzend löst Fee ihren Sitzgurt. »Meredith, die Leute da draußen scheren sich alle den Teufel um dich. Die gucken dich nicht mal an, wenn du nicht gerade dumm im Weg rumstehst. Jetzt komm schon – bringen wir es hinter uns.«
Wieder schaue ich rüber zum Krankenhauseingang, auf das wogende Menschenmeer vor den Türen. »Ich glaube, ich bin noch nicht so weit. Das ist mir zu viel.«
»Guck dir den an.« Sie weist auf einen Mann mittleren Alters, der mit nacktem Oberkörper an der Bushaltestelle steht und wartet. »Meinst du, die Dumpfbacke kümmert sich einen feuchten Kehricht darum, was die anderen Leute über ihn denken? Wenn der völlig ungeniert halb nackt hier rumlaufen kann, dann kannst du auch aus dem Auto steigen.«
»Das kannst du doch überhaupt nicht vergleichen, Fee.«
»Dann willst du also einfach hier sitzen bleiben? Und was ist mit Mama?«
»Was soll mit ihr sein?«
»Sie liegt im Sterben, Meredith. Wenn du sie heute nicht besuchst, könnte es vielleicht zu spät sein. Aber das ist deine Entscheidung. Ich will nur nicht, dass es dir hinterher leidtut.«
»Fee, es ist mir offen gestanden ziemlich schnuppe, ob ich sie noch mal sehe oder nicht«, erkläre ich. »Ich bin nur deinetwegen mitgekommen.«
»Dann lass mich jetzt nicht im Stich. Lass uns das zusammen durchziehen.«
Allmählich wird es heiß in Fees Auto. Ich drücke auf das Knöpfchen, um das Fenster herunterzulassen, und schnappe gierig nach Luft. Ein Mann läuft mit zwei kleinen Jungs an uns vorbei; der eine sieht mich und streckt mir die Zunge raus. Ohne nachzudenken strecke ich ihm auch die Zunge raus. Der kleine Junge grinst.
Ich versuche meiner Schwester zuzuhören, während ich dem Jungen nachsehe. Er klammert sich fest an die Hand des Mannes und hopst mehr, als er geht, wie kleine Kinder mit ihren kurzen Beinchen es so gern machen.
»Hast du dich nicht mittlerweile wieder dran gewöhnt, draußen zu sein? Du gehst doch auch wieder einkaufen, oder?«
»Ja, aber nicht ins Einkaufszentrum«, murre ich.
Das Trio kommt an den Krankenhauseingang, und dann ist es plötzlich verschwunden, verschluckt von der Drehtür. Ich frage mich, warum die drei wohl hier sind – hoffentlich ist es was Schönes. Um ein neues Schwesterchen abzuholen vielleicht oder jemanden, der nach viel zu langer Zeit endlich wieder nach Hause darf.
»Du verstehst das nicht«, sage ich zu Fee.
»Behaupte ich auch gar nicht.« Sie zuckt die Achseln und lässt dann den Wagen wieder an.
»Was soll das denn jetzt?«
»Wir fahren. Ich habe keinen Bock, den ganzen Tag auf einem Krankenhausparkplatz rumzusitzen. Ich habe Besseres zu tun.«
»Das ist nicht fair. Ich halte dich doch nicht davon ab reinzugehen.«
Sie schaltet den Motor wieder aus. »Okay. Es ist jetzt halb zwei. Wir bleiben noch fünf Minuten sitzen, und dann entscheidest du dich. Einverstanden?«
»Einverstanden.« Ich atme aus und lasse mich in den Sitz sinken. »Danke für deine Geduld.«
Sie zieht eine Grimasse.
»Leute gucken hat mir richtig gefehlt«, sage ich zu ihr, während ich einer älteren Dame dabei zusehe, wie sie, einen monumentalen Obstkorb in beiden Händen, vor uns die Straße überquert. »Das ist so was, das kann man allein zu Hause nicht machen. Früher bin ich hin und wieder in den Park gegangen, ehe … du weißt schon. Hab mich einfach auf eine Bank gesetzt und die Leute beobachtet, die an mir vorbeispazierten. Ungeheuer entspannend.«
»Ganz allein?« Wieder verzieht sie das Gesicht.
»Klar. Solltest du auch mal versuchen. Ein sehr befreiendes Gefühl.«
»Vielleicht mache ich das wirklich«, sagt sie. Und dann, einen Augenblick später: »Was hast du sonst noch vermisst?«
Ich muss kurz nachdenken. »Am meisten habe ich vermisst, was ich schon vor einer Ewigkeit verloren habe. Uns beide als kleine Mädchen. Unzertrennlich.«
Sie lacht. »Dahin gibt es kein Zurück mehr, Mer.«
»Ich weiß. Und trotzdem fehlt es mir. Damals war alles leichter, auch wenn es ungleich schwerer war. Ich weiß, das klingt total verquer.«
»Nein, eigentlich nicht. Damals haben wir noch gehofft.«
Ich drehe mich zu ihr um und schaue sie an. »Fee – wir können auch heute noch hoffen.« Sie schaut mich an, und ihre Augen glänzen. Ich nehme ihre Hand. »Los, lass uns reingehen.«
Wie ein kleines Vögelchen liegt sie da in ihrem Krankenhausbett. Ein winziges Vögelchen mit einem Rasseln in der Brust, angeschlossen an unzählige Schläuche und Kabel. Nicht die Frau im Paillettenkleid und Trenchcoat, die barfuß vor dem Haus steht und mich am einsamsten Abend meines Lebens um Geld anschnorrt. Und unvermittelt überkommt mich eine Welle des Mitleids für diese sterbende Frau am Ende eines Lebens ohne Liebe. Dass sie mir so leidtun würde, damit hatte ich nicht gerechnet. Das Leben ist voller Überraschungen.
»Sie hatte eine schlimme Nacht«, erklärt die Schwester uns. »Wundern Sie sich nicht, dass sie so schwer atmet – es fällt ihr zunehmend schwer, die Flüssigkeit aus der Lunge abzuhusten. Wenn sie aufwacht, können Sie ihr ein bisschen Wasser anbieten.«
Wir nicken und warten, bis die Schwester wieder rausgeht.
»Sie liegt echt im Sterben«, wispert Fee.
»Ich sehe es«, wispere ich zurück. Fast hatte ich erwartet, sie würde im Bett sitzen und fernsehen und vor sich hingackern und den Schwestern die Hölle heißmachen, weil sie hier nicht rauchen darf. Aber die Tage des Gegackers sind unwiederbringlich vorüber. Ihre Haut ist dünn wie Papier und schimmert bläulich. Sie war immer schon hager, aber jetzt sieht sie aus, als könne sie jeden Augenblick entzweibrechen.
Fee setzt sich ans Bett, ich bleibe hinter ihr stehen. Eine halbe Stunde lang sehen wir zu, wie unsere Mutter langsam ihrem Lebensende entgegendämmert. Sie schlägt die Augen kein einziges Mal auf. Bevor wir gehen, schaue ich ihr lange ins Gesicht auf der Suche nach dem winzigsten Fitzelchen Liebe.