Sonntag, 7. Juli 2019
Sadie und ich spazieren gemeinsam zum Tante-Emma-Laden, um mich ein bisschen von meiner sterbenden Mutter abzulenken. Was heute doppelt so lange dauert wie sonst, weil sie mich alle paar Schritte am Arm packen und mir sagen muss, wie unglaublich es doch ist, dass wir beide hier draußen sind, und wie schrecklich stolz sie auf mich ist und wie sie sich schon auf unsere gemeinsamen Unternehmungen freut.
»Komm, wir gehen ins Kino«, ruft sie. »Da läuft ein neuer Film mit Rebel Wilson, den will ich unbedingt sehen. Wir könnten in das schicke neue Kino am Princes Square gehen. Da gibt’s sogar Sofas!«
Ich muss über ihren Überschwang lachen. »Einen Schritt nach dem anderen. Das kommt mir alles noch ganz ungewohnt vor – einfach so meine eigene Straße entlangzulaufen.«
»Und was meinst du, wann es sich wieder normal anfühlen wird?« Sie fragt das rein aus Neugier, ohne Vorwurf.
»Keine Ahnung. An manchen Tagen ist es leichter als an anderen. Manchmal kommt es mir vor, als müsste ich alles noch mal neu lernen. Weil alles ganz anders ist. Ich bin nicht mehr die, die ich früher war.«
Sie hakt sich bei mir unter. »Für mich bist du immer noch meine Mer. Für mich bist du immer noch dieselbe.«
Arm in Arm gehen wir weiter, wie damals in der Schule.
»Rate mal, wen ich neulich in der Stadt getroffen habe«, sagt sie betont beiläufig, und ich weiß sofort, wen sie neulich in der Stadt getroffen hat, weil es nur einen gibt, den sie meinen kann. Nur ein Mensch – zumindest in meinem Leben – hat so eine Einleitung verdient.
»Du hast Gavin gesehen?«, frage ich bemüht lässig.
Mit offenem Mund starrt sie mich an. »Woher weißt du …? Ja, ich habe Gavin gesehen.«
»Immer noch so groß und gut aussehend und weiß es selbst nicht?«
»Immer noch so groß und gut aussehend und weiß es selbst nicht«, bestätigt sie grinsend.
»Hast du lange mit ihm geredet?«
»Nein. Ich hatte die Kinder dabei, die mir die Hosenbeine hochgekrabbelt sind, weil sie unbedingt zu Burger King wollten.«
Ich lächele und warte, weil ich weiß, da kommt noch was.
Sie spannt mich nicht lange auf die Folter. »Er ist verlobt, Mer. Nächsten Monat heiratet er seine Julia. Wer auch immer das ist.«
»Ein Glückspilz«, sage ich zu ihr.
»Alles okay?«
»Ja. Ehrlich. Gavin und ich … das hätte nie funktioniert. Vielleicht ein typischer Fall von miserablem Timing. Richtiger Mensch, falscher Moment. Oder womöglich nicht mal der richtige Mensch. Es hat nicht sollen sein. Ich weiß, das klingt schrecklich fatalistisch. Aber ich glaube, es stimmt.«
Und das meine ich auch so. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, mit Gavin vor den Altar zu treten. Oder mit überhaupt irgendwem. Vielleicht eines schönen Tages, aber das steht nicht besonders weit oben auf meiner To-do-Liste. Vorher mache ich noch eine Reise in die Toskana und trinke ein Glas besten italienischen Rotwein auf Gavin und seine Julia – wer auch immer das ist.
Sadie besteht darauf, Brötchen und schottische Wurst in Scheiben und Irn-Bru-Limo in Dosen zu kaufen. »Das haben wir früher immer gegessen, wenn wir nach der Schule zu mir gegangen sind«, erklärt sie, als ich sie skeptisch angucke.
»Weiß ich doch«, sage ich. »Ich weiß nur nicht, ob meine Gedärme das heutzutage noch aushalten.«
Wir warten gerade in der Schlange, um unser Teenie-Nostalgie-Paket zu bezahlen, als ein Pulk junger Männer in Fußballtrikots hereinschneit. Laut und ausgelassen sind sie – vielleicht nach einem Sixpack Tennant’s. Uns bemerken sie gar nicht, aber als sie an uns vorbeigehen, stellen sich mir schlagartig die Nackenhaare auf.
»Alles okay?«, raunt Sadie mir zu und rückt ein Stückchen näher heran.
Ich drücke mich mit dem Arm gegen sie und versuche, die Stresshormone runterzuschlucken, die meinen ganzen Körper fluten. Diane hat recht. Sadie erdet mich, einfach nur, indem sie da ist.
»Alles gut«, flüstere ich zurück, ohne das Grüppchen aus den Augen zu lassen, das jetzt am anderen Ende des Ladens steht. Sie lachen und witzeln und ziehen sich gegenseitig lautstark auf. Auch die Kassiererin habe ich im Blick. Ich sage mir, wenn die ihr keine Angst machen, brauche ich mich auch nicht vor ihnen zu fürchten.
Die alte Dame vor uns nimmt ihre Tasche und schlurft zur Tür hinaus. Sadie und ich treten an die Kasse, ihr Arm noch immer an meinem, just als es hinter uns laut knallt.
»Verdammt noch mal.« Entnervt verdreht die Kassiererin die Augen und marschiert rüber in Richtung des wiehernden Gelächters.
Mein Blick geht zu Brötchen und Wurst und Limo, und dann sehe ich, dass die Männer kehrtgemacht haben und wieder zurückkommen, und im nächsten Augenblick stehe ich draußen auf der Straße, ringe keuchend um Luft und versuche, meinen unkontrolliert zitternden Körper zu beruhigen.