Freitag, 6. September 2019
Fee kommt ausnahmsweise pünktlich. »Maggies Baby ist da«, sagt sie, als sie mir die Beifahrertür von innen aufmacht.
»Tante Lindas Maggie?«
»Ja. Ein kleiner Junge. Schade um die vielen rosa Strickjäckchen.«
Ich grinse. »Gratulierst du ihr von mir?«
»Mache ich. Sie hat nach dir gefragt.«
»Was hast du ihr gesagt?«
»Nicht viel. Nur, dass es dir gut geht.« Sie wartet, bis ich mich angeschnallt habe, dann fährt sie los. »Es geht dir doch gut, oder?«
Ich schaue aus dem Autofenster auf die Häuser von Menschen, die ich nicht kenne. »Ja, ich glaube schon.«
Sie schaltet das Radio ein, und ohrenbetäubend laute Musik dröhnt durch den Wagen. Ich regele die Lautstärke ein bisschen runter und konzentriere mich auf die Straße vor uns, beobachte die Menschen, die da draußen ihr Leben leben – alleine, als Pärchen, als Familie. Ein paar Minuten, dann fahren wir über die Kingston Bridge, wo die spektakuläre Aussicht den Blick auf imposante viktorianische Gebäude und poppige Straßenkunst freigibt.
»Ich bin nervös.«
»Ich auch.« Fee umfasst das Lenkrad noch ein bisschen fester. Ich starre auf ihre Knöchel, die blassen, schmalen Hände.
»Okay.« Ich wende mich wieder meiner Weltbetrachtung zu.
Der Friedhof ist weitläufig, keine Menschenseele ist zu sehen, aber die Gräber drängen sich dicht an dicht. »Wir haben gar keine Blumen mitgebracht«, bemerkt Fee, als sie den Motor abstellt.
»Daran hab ich auch nicht gedacht«, muss ich gestehen. »Aber ich glaube, das ist nicht weiter schlimm.«
»Wie zum Teufel sollen wir ihn hier bloß finden?«
Wir trennen uns und fangen an entgegengesetzten Enden an zu suchen, unter einem Himmel mit tief hängenden Wolken, die sich langsam auf uns herabzusenken scheinen. Ich hoffe, wir finden ihn, ehe es anfängt zu regnen. Ich habe keinen Schirm dabei.
Im Vorbeigehen lese ich Namen und Daten und erfahre, wofür Menschen der Nachwelt in Erinnerung bleiben. Ein treusorgender Ehemann oder eine liebende Mutter oder ein Engel auf Erden oder jemand, der viel zu früh heimgegangen ist. Manche Verstorbenen haben keine Beschreibung mitbekommen, nicht einmal ein mickriges Adjektiv. Ich überlege, was das wohl zu bedeuten hat, warum niemand es für nötig gehalten hat, ihnen ein, zwei liebe Worte mit auf den Weg zu geben.
Michael Youngs Grabstein ist hoch und schmal. Wir erfahren, dass er mit zweitem Namen Angus hieß, dass er ein Sohn, Bruder, Vater war. Unten auf dem Stein steht:
Er kommt nicht ins Gericht, sondern ist aus dem Tod
ins Leben hinübergegangen.
Johannes 5:24
»Das kann er nicht sein«, sage ich.
»Aber Geburts- und Todesdatum stimmen.« Fee geht vor dem Grabstein in die Hocke. »Das muss er sein.«
»Aber war er gläubig? Das kann ich mir überhaupt nicht vorstellen.«
»Warum? Wir wissen doch eigentlich gar nichts über ihn.«
Ich schaue erst sie an und dann den Stein. »Stimmt. Aber wundern tut es mich trotzdem.«
»Es kann doch gut sein, dass er sich gar nicht selbst ausgesucht hat, was auf seinem Grabstein stehen soll, Meredith. Vielleicht war derjenige, der ihn hat anfertigen lassen, fromm. Oder einer von denen, die angeblich an Gott glauben, aber nur zu Weihnachten in die Kirche gehen.«
Ich starre auf die eingemeißelten Worte. Sohn, Bruder, Vater.
»Ich spüre gar nichts«, wispere ich – eigentlich nur für mich, aber Fee hört es.
»Ich auch nicht«, sagt sie und verzieht beim Aufstehen das Gesicht. »Autsch. Meine armen alten Knochen.«
»Sonst gibt es eigentlich nichts Befriedigenderes, als das letzte Puzzleteil einzusetzen. Aber das hier fühlt sich so gar nicht danach an.«
»Vielleicht ist es nicht das letzte Teil«, brummt sie.
Lange sagt keine von uns ein Wort, während ich darüber nachdenke, was sie gesagt hat, und hoffe, dass sie recht behält.
»Ich bin vier Jahre älter, als er damals war, als er gestorben ist. Er hatte sein halbes Leben noch vor sich. Was würdest du zu ihm sagen, wenn er jetzt hier wäre? Wenn er noch am Leben wäre und einfach eines Tages aus heiterem Himmel vor der Tür stünde?«
Fee lacht. »Ich würde sagen: ›Was zum Teufel hast du dir dabei gedacht, dich mit ihr einzulassen?‹«
»Na ja, aber dann …«
»Ich weiß.«
»Ich will ihm so vieles sagen.« Ich rede mit Fee, aber eigentlich meine ich ihn. Ich habe jetzt eine viel bessere Vorstellung von ihm, auch dank der alten Fotos, die Tante Linda für uns aufgestöbert hat.
Schweigend stehen wir eine Weile nebeneinander. Ich muss mich noch immer daran gewöhnen, draußen zu sein, und es ist eisig kalt. Anscheinend habe ich vergessen, dass Anfang September in Schottland schon Winterjackenwetter sein kann. Ich ziehe die Strickjacke fester um mich und die Ärmel bis über die Hände. »Hey. Alles okay?«
»Alles bestens«, sagt sie.
»Ehrlich?«
»Ehrlich. Es ist, als würde mein Leben gerade erst anfangen.«
»Ich hasse dich.« Ich ziehe eine Grimasse. »Ich brauche immer so lange, um mit allem klarzukommen.«
Und dann lachen wir, laut und befreit, bis uns wieder einfällt, dass wir auf einem Friedhof sind, und dann müssen wir noch mehr lachen.
»Tut mir leid«, sagt sie. »Ich weiß, ich bin eine Landplage.«
»Wir sind so verschieden.«
Sie nickt. »Aber irgendwie auch gleich.«
»Ich will Lucas bei der Polizei anzeigen. Dafür, was damals passiert ist. Anders geht es nicht.« Seit Tagen schon versuche ich all meinen Mut zusammenzunehmen, und es laut auszusprechen ist, als fiele eine gewaltige Last von mir ab.
Fee nimmt mich fest in die Arme. »Ich bin so stolz auf dich, Mer.«
»Ich bin so stolz auf dich, Fee.«
Einen Augenblick bleiben wir so stehen, nur wir beide. Gerade will ich schon vorschlagen, wieder zu fahren, da sagt sie: »Wollen wir zusammen Mittagessen gehen?«
Ich hake mich bei ihr unter, und dann verabschieden wir uns zum ersten und zum letzten Mal von Michael Angus Young.