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Amy lag mit dem Gesicht nach unten unter den Laken auf dem Massagetisch. Dank der Gesichtsmulde war der Vorleger ihr einziger Ausblick. Sie zog die Arme unter den Laken hervor und betrachtete ihre Fingernägel. Sie fragte sich, ob noch Zeit für eine schnelle Maniküre blieb. Nun ja … Zeit hatte sie genug. Fraglich war nur, ob sie Domino dazu überreden konnte, ihr eine zusätzliche halbe Stunde nach der Massage zu gewähren.
Amy hörte, wie sich die Verbindungstür zum Duschraum öffnete und wieder schloss. Sie legte die Arme wieder an die Seiten und atmete tief und behaglich ein.
»Ist es bequem?«, fragte Lana.
»Sehr«, sagte Amy in die Mulde hinein. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie nötig ich das hatte, Lana. Sei herzlichst bedankt dafür, dass du mich noch reingequetscht hast.«
»Ist mir ein Vergnügen. Du bist gute Kundin. Ich habe es gern getan.«
Lanas Füße erschienen unter der Gesichtsmulde. Die vertrauten blauen Schlappen standen sauber nebeneinander auf dem Teppich und wiesen in Amys Richtung. Dann berührte eine sanfte Hand ihren Nacken und begann zu kneten. »Du bist sehr verspannt. Das ich schon fühlen.«
Amy kicherte leise. »Erzähl mir was Neues.«
»Du willst, dass ich dir was erzähle?«
Amy kicherte erneut. »Nein, nein – das ist nur eine Redewendung, Lana.«
»Oh, verstehe. Ich dachte, du würdest es ernst meinen. Denn ich kann dir erzählen, woher Verspannung kommt, wenn du mögen.« Auf einmal schien ihr Akzent leichter zu sein. »Ich wette, du hattest in letzter Zeit einiges um die Ohren, oder?« Viel weniger ausgeprägt. Und da war noch was.
Sie hat auch eine Redewendung benutzt, dachte Amy. Das kenne ich nicht von ihr.
In all den Jahren bei Lana hatte Amy sie nie eine Redewendung gebrauchen hören. Sie hatte das sogar einmal Patrick gegenüber erwähnt und sich gefragt, ob es sprachliche Inkompetenz war oder daran lag, dass ihr solche Formulierungen zu flapsig vorkamen.
Lanas Füße verließen ihr Blickfeld. Ihre Hand blieb auf Amys Nacken. Amy wollte gerade etwas sagen, als ein Foto unter der Mulde auf den Teppich fiel – eine Nahaufnahme von Carrie und Caleb im Park, mit Dan Briggs in ihrer Nähe. Ein zweites Foto folgte kurz darauf – wieder eine Nahaufnahme von Carrie und Caleb im Park, diesmal mit Christopher Allan.
Es dauerte einen Moment, bis sich Amys Augen im trüben Licht auf die Fotos eingestellt hatten. Das dritte und vierte Foto war entsetzlich scharf. Amy fuhr zusammen und machte Anstalten, sich aufzusetzen, aber die Hand in ihrem Nacken presste ihr Gesicht in die Mulde zurück. Eine Sekunde später hörte sie den Abzugshahn einer Waffe klicken. Ein Lauf wurde ihr grob gegen den Hinterkopf gedrückt.
»Scheint, als wärst du jetzt extrem verspannt«, sagte eine eindeutig amerikanische Frau. »Gehe ich fehl in der Annahme, dass du über genug gesunden Menschenverstand verfügst, um das Maul zu halten?«
Amy schüttelte den Kopf, so gut das in der Vertiefung ging, und das Herz hämmerte ihr in der Brust.
»Gut«, sagte die Frau. »Vielleicht bist du bereit, dein eigenes Leben aufs Spiel zu setzen, aber ich bezweifle, dass du das von Carrie und Caleb riskierst.«
Mein Gott, sie kennt ihre Namen.
»Ja, die Namen deiner Kinder sind mir bekannt, Amy. Sie selbst haben sie mir vor weniger als einer Stunde verraten.«
Was? Was?!
Amy räusperte sich, um zu einem verzweifelten Flüstern ansetzen zu können. Die Hand der Frau schloss sich fester um ihren Hals und drückte den Pistolenlauf fester gegen ihren Kopf.
»Kein Wort. Nichts. Bis ich dich dazu auffordere. Verstanden?«
Amy nickte. Sie spürte die Tränen aufsteigen, wehrte sich jedoch dagegen, zu weinen.
»Wir haben deine Kinder, und wir haben Patrick. Sie leben noch, aber ihr Schicksal liegt in deiner Hand.«
Ist Domino tot? Oder Dan? Was ist mit Christopher? Ist er immer noch vor der Tür? Nur wenige Meter entfernt?
»Ich werde jetzt meine Hand von deinem Hals nehmen, und du wirst schön langsam den Kopf heben und deinen kleinen Freund anrufen, der draußen Wache schiebt. Bitte ihn für eine Sekunde herein. Freundlich und ruhig, nicht so, dass es Verdacht erregen könnte. Ich will Meryl-Streep-Qualität, kapiert? Wenn du schreist oder einen irgendwie seltsamen Ton anschlägst, bist du tot. Dann Patrick. Dann deine Kinder. Und ich werde ihnen vorher sagen, dass Mommy sie hätte retten können, wenn sie getan hätte, was man ihr gesagt hat. Das wird das Letzte sein, was sie zu hören kriegen, bevor ich den beiden in den Kopf schieße. Mommy hätte euch retten können, hat sich aber dagegen entschieden.«
Amy begann lautlos zu weinen; sie konnte einfach nicht anders.
»Verstehen wir uns, Amy? Meinst du, du kriegst geregelt, was ich soeben von dir verlangt habe?«
Amy schniefte und nickte.
Die Frau drückte den Waffenlauf noch härter gegen Amys Kopf. »Hör auf zu heulen. Wenn du dich anhörst, als wärst du aufgebracht …«
Amy atmete tief ein und nickte erneut.
»Also, dann mal los, Mrs. Lambert«, sagte die Frau.
Der Druck des Laufes an Amys Hinterkopf ließ nach, und die Hand löste sich von ihrem Hals. Amy drehte den Kopf und erhaschte einen Blick auf die Frau – sie verharrte am Kopfende des Tisches, gekleidet in Lanas blauen Kittel, das Haar so blond wie Lanas, das Gesicht abgewandt und unter den Haaren versteckt, die Hand mit der Waffe (die rechte) gesenkt, die linke Hand auf Amys Schulter. Anscheinend hatte sie sich bereits in Pose für eine völlig unverdächtige Szenerie geworfen.
Amy räusperte sich ein letztes Mal und setzte zu sprechen an, hielt jedoch inne. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie, wenn ihr der »freundliche und ruhige« Ton in »Meryl-Streep-Qualität« gelänge, Christopher in den sicheren Tod treiben würde. Könnte sie damit leben, für die Ermordung eines unschuldigen Mannes mitverantwortlich zu sein?
Und als die böse Frau sich dann über sie beugte und ihre Lippen ganz nahe an ihr Ohr brachte, fragte sich Amy, ob sie durch ihr Ohr in ihr Hirn sehen und ihre Gedanken lesen konnte – bizarrerweise kam ihr das nicht so unwahrscheinlich vor. Denn was die böse Frau flüsterte, war: »Würdest du lieber das Leben eines Fremden als das deiner Kinder retten, Amy?«
Darüber musste Amy nicht nachdenken. Sie schüttelte den Kopf.
»Kluges Mädchen«, flüsterte die böse Frau.
»Christopher?«, rief Amy. Sie betete, dass es einigermaßen überzeugend klang. »Christopher, hörst du mich?«
Beide Frauen hielten den Blick auf die Tür gerichtet. Amy hatte Schwierigkeiten, leise Geräusche zu vernehmen; ihr Puls schlug wie eine Trommel in ihren Ohren. Also beobachtete sie die Tür. Und wartete. Nichts geschah.
Die Frau verpasste Amy einen leichten Stoß gegen die Schulter. »Ruf ihn noch mal. Lauter.«
»Christopher? Hallo?«
»Ich bin hier.«
Amys Kopf schnellte in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Die böse Frau wirbelte herum. Christopher Allan hatte den Massageraum ohne das leiseste Geräusch durch die Verbindungstür betreten. Seine Pistole war auf die Brust der bösen Frau gerichtet.
»Wenn Sie auch nur versuchen, Ihren Arm zu heben«, sagte Allan und wies mit dem Kinn auf die Hand, in der die böse Frau ihre Waffe hielt, »werde ich schießen – mehr als einmal.«
Die böse Frau lächelte. »Ich nehme an, Sie wollen mir befehlen, sie fallen zu lassen?«
Allan brachte seinen Schussarm fester in Stellung. »Jawohl.«
Die böse Frau lächelte immer noch. »Und was wäre, wenn ich …«
Allan drückte ab. Das zweimalige dumpfe Knallen seiner Pistole ließ Amy zusammenzucken. Die böse Frau stolperte rückwärts, stieß gegen die Wand und rutschte zu Boden. Ihre schockiert aufgerissenen Augen blinzelten schnell, dann langsam, dann schlossen sie sich. Schließlich kippte sie zur Seite und blieb reglos liegen.
Amy starrte sie einfach nur fassungslos an. Sie wusste jetzt, wer die Frau war. Sie wusste, dass es die Frau von der Beerdigung ihres Vaters war. Die Frau, die sie in der Bar abgefüllt und dann sitzen gelassen hatte. Die Frau, die Patrick auf Lucas’ Handyfoto als mutmaßliche Saboteurin seines großen Projekts ausgemacht hatte. Immer anderes Haar, immer eine andere Augenfarbe, jedes Mal auf irgendeine Art anders – doch das spielte keine Rolle. Jetzt wusste Amy, wer sie war.
Allerdings war das auch schon alles. Ich erkenne sie wieder. Könnte sie eindeutig identifizieren. Sie anzeigen. Aber wer ist sie eigentlich wirklich? Wer zum Teufel ist diese Frau?
Allan näherte sich mit vorgehaltener Waffe vorsichtig dem Körper der bösen Frau.
»Sie hat gesagt, sie hätte die Kinder«, meinte Amy. »Sie hat ›Wir haben eure Kinder‹ gesagt. Es gibt mehrere. Sie haben meine Kinder.«
Christopher sah über die Schulter. »Ganz ruhig, Mrs. Lambert. Ich werde jetzt Domino Meldung erstatten und …«
Amy hörte einen dumpfen Schlag und sah, wie Christopher Allans Schädel zerplatzte und die Wand mit Blut besprenkelt wurde, bevor er zusammenbrach.
Die böse Frau sprang auf die Beine. »Man sollte immer auf den Kopf schießen«, sagte sie, während sie ihr Oberteil auszog, in dessen Stoff deutlich die beiden Einschusslöcher zu erkennen waren. »Er war gut; es überrascht mich, dass er diese Regel nicht befolgt hat.«
Die Frau riss sich das blaue Kleidungsstück herunter und brachte die kugelsichere Kevlarweste darunter zum Vorschein. In der Hand hielt sie eine andere Waffe. Amy betrachtete die neue Pistole verständnislos. Die Frau bemerkte es, lächelte, hob ihr Hosenbein und präsentierte Amy ihr Schienbeinholster. Dann öffnete sie beidhändig die Kevlarweste. »Der Wichser hat mir in die Titte geschossen.« Sie warf die Weste zu Boden und massierte sich, nur noch mit einem Sport-BH bekleidet, ihre rechte Brust. »Tut verflucht weh.« Sie schaute zu Amy und deutete auf die Weste auf dem Boden. »Auch wenn man die anhat, tut ein Schuss verdammt weh. Vor allem in die Titte.« Die Frau trat näher, drückte Amy die Pistole an den Kopf und flüsterte: »Hey, aber dir muss ich das nicht erzählen, oder? Wie ich hörte, hat mein Bruder dir das Gleiche angetan.«
Beim Wort »Bruder« klappte Amy der Mund auf, und die böse Frau, die soeben behauptet hatte, Arty Fannellis Schwester zu sein, brach in Gelächter aus.