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Harrisburg, Pennsylvania
Bob und Audrey Corcoran hatten offenbar Besuch von außerhalb der Stadt, weil ein Toyota Highlander in ihrer Auffahrt parkte. In dieser Nachbarschaft stach der Geländewagen inmitten der Fords, Chevrolets und Dodges heraus wie ein bunter Hund.
Patrick hatte sich nicht etwa für den Highlander entschieden, weil er wenig von amerikanischer Wertarbeit hielt. Er wollte seiner Familie einfach nur so viel Bequemlichkeit und Komfort wie möglich bieten. Der Highlander erfüllte diesbezüglich drei von vier Kriterien – er bot jede Menge Platz, geschmeidiges Fahrverhalten und hohe Sicherheit (jedenfalls soweit ein SUV diese zu bieten in der Lage war), war aber verdammt teuer. Und doch hatte er ihn gekauft. Weil er es sich leisten konnte. Patrick verdiente gut. Amy ebenfalls. Ihr gemeinsames Einkommen sicherte der Familie ein angenehmes Leben in einer Vorstadt, in der man ausgezeichnetes Sushi und Martinis mit originellen Namen bekam.
Auch wenn sie die noble Sicherheit ihres Vorortes verließen, gab es nicht die geringste Spur von Unbehagen oder Befangenheit. Patrick und Amy waren beide in für Pennsylvania typischen Arbeiterkleinstädten aufgewachsen. Trotz der in ihrem Nobelviertel geschlossenen standesgemäßen Freundschaften und der Ausflüge in Luxusrestaurants, in die man ging, um gesehen zu werden, nicht unbedingt, um gut zu essen, war es nichts Ungewöhnliches für Amy und Patrick, sich alleine auf die Suche nach weniger steifen Etablissements zu begeben – Läden, die ein Steak servierten, das größer als ein Fünf-Cent-Stück war, Läden, die darauf pfiffen, wie man aussah und angezogen war, Läden, in denen es die Gäste einen feuchten Dreck scherte, wen sie sahen und von wem sie gesehen wurden. Wo man sich auch mal öffentlich einen ansaufen konnte, ohne dass die anderen die Augen verdrehten und angewidert mit der Zunge schnalzten.
Den Lamberts war ihr mehr oder weniger luxuriöses Leben in Valley Forge alles andere als unangenehm; sie hatten hart dafür gearbeitet. Auch die dortigen Schulbezirke und ihre pädagogischen Einrichtungen waren eine Klasse für sich. Amy und Patrick fühlten sich in beiden Welten wohl; auch diesbezüglich waren sie Seelenverwandte. Ihre Ehe bestand nicht darin, dass Patrick furzend und biertrinkend auf dem Sofa saß und ein Footballspiel schaute, während Amy sich danach sehnte, extravagante Speiselokale und gesellschaftliche Großereignisse zu besuchen. Sie leistete ihm mit Freuden auf jenem Sofa Gesellschaft. Trank Bier und furzte mit ihm.
Allerdings weckten zu viele träge Abende dieser Art ihr Bedürfnis nach sozialen Aktivitäten, und sie hatten dann großes Vergnügen daran, sich aufzubrezeln und den Reizen des städtischen Lebens hinzugeben, die sie für gewöhnlich verschmähten. Es ging schlicht den goldenen Mittelweg. Die eine Abendgestaltung ließ sie die jeweils andere immer wieder aufs Neue schätzen.
Dementsprechend war es keineswegs eine lästige Pflicht für sie, sich hier vor den Toren Harrisburgs vorübergehend in einer Arbeitergemeinde einzuquartieren. Patrick wusste, dass ihm Fusel in den Hals geschüttet werden würde, sobald er seinen Fuß über die Schwelle setzte, und Amy wusste, dass ein Teil von ihm – trotz seiner zuvor geäußerten fadenscheinigen Bedenken – sich darauf freute. Sie würde wohl auch fünfe gerade sein lassen und ein bisschen was wegschlucken. Sie alle, abgesehen von Amys Mutter natürlich.
Mrs. Audrey Corcoran trank keinen Alkohol – dafür war ihr Ehemann zuständig. Wenn etwas in Amys altem Revier ihren Unmut erregte, dann die Tatsache, dass bestimmte Traditionen hochgehalten wurden. Obwohl es niemand laut aussprach, wurde nach wie vor vorausgesetzt, dass der Mann der Herr im Haus war und die Ehefrau es als ihre Hauptaufgabe betrachtete, ihrem Gatten zu Diensten zu sein, auch wenn sie dabei nicht unbedingt mit Babybauch auf Händen und Knien den Fußboden schrubbte. Der Mann brachte das Geld nach Hause, und die Frau kümmerte sich um sein Wohlbefinden. So war es nun einmal. Amy befürwortete diesen Zustand nicht gerade – zumal solche Regeln für sie und Patrick ganz und gar nicht galten –, aber sie akzeptierte ihn. Es blieb ihr auch keine Wahl. Außerdem war ihr Vater ein guter Ehemann. Ein guter Vater. Gelegentlich grob und streng, aber herzensgut. Er konnte herumbrüllen wie ein Geisteskranker und verlor schnell die Beherrschung (vor allem, wenn er ein paar intus hatte), doch Amy konnte sich an nichts Schlimmeres erinnern als an ein paar Standpauken und den gelegentlichen Klaps auf ihren Hintern oder den ihres Bruders.
Carrie und Caleb mochten Grandma und Grandpa Corcoran. Nicht ganz so sehr wie die Großeltern Lambert, was aber keine persönlichen Gründe hatte, sondern schlicht eine Sache des Standorts war. Die älteren Lamberts wohnten in Conshohocken – fünfzehn Minuten Fahrzeit von Valley Forge entfernt. Harrisburg dagegen war anderthalb Stunden weit weg, weshalb die Kinder Grandma und Grandpa Lambert häufiger sahen – im Schnitt fast einmal pro Woche. Deswegen hatten auch die Lamberts nach den Vorfällen am Crescent Lake die Kinder bei sich aufgenommen, obwohl die Hütte den Corcorans gehörte. Trost und Geborgenheit waren nach einer derartigen Tragödie das Gebot der Stunde, und Patrick und Amy hatten auf der Stelle und einstimmig entschieden, zunächst den alten Lamberts Bescheid zu geben. Die Corcorans waren am folgenden Tag nach Amys Anruf aufgetaucht, ohne auch nur ein einziges Mal kritisch nachzufragen, warum sie nicht als Erste kontaktiert worden waren. Amy hatte ihr Verständnis gespürt, und dafür liebte sie ihre Eltern.
Amy stand auf der dritten und letzten Stufe, die zur Eingangstür ihrer Eltern hinaufführte. Ein schwarzes Eisengeländer verband die kleine Treppe mit der weiß getünchten Backsteinaußenwand. Zwei ovale Windlichter leuchteten auf beiden Seiten der Tür. Als Kind hatte Amy immer gedacht, sie sähen wie gigantische Glühwürmchen aus. An diesem Abend war es nicht anders, und die nostalgischen Gefühle, die ihn ihr aufstiegen, wärmten ihr Herz.
Patrick stand hinter Amy auf der zweiten Stufe und hatte den beiden Kindern an seiner Seite eine Hand auf die Schulter gelegt. Carrie zupfte an einem schwarzen Lacksplitter auf dem Geländer herum. Patrick verpasste ihr einen leichten Klaps auf die Hand und ermahnte sie, damit aufzuhören. Eine Sekunde lang gehorchte sie, dann fing sie wieder damit an. Ein Windstoß ließ Caleb erschauern, und Patrick zog ihn zu sich heran.
»Hast du geklingelt?«, fragte Patrick.
Amy warf ihm einen genervten Blick zu. »Nein, Liebling – ich dachte mir, dass irgendwann irgendjemand rauskommen und uns in Empfang nehmen wird, wenn wir einfach lange genug hier draußen in der klirrenden Kälte rumstehen.« Sie drückte erneut den Klingelknopf.
Eine Stimme dröhnte von hinter der Tür. »Wer ist da?«
»Dad, mach auf, wir erfrieren.«
»Wir kaufen nix.«
»Dad!«
Das Klicken eines Schlosses, das Geräusch einer zurückgeschobenen Kette, und die Tür flog auf und offenbarte die Gestalt eines gedrungenen Mannes, der ohne jeden Vorbehalt als Weihnachtsmann durchgegangen wäre, wenn er sich entschlossen hätte, seinen braunen Bart weiß zu färben. Seine Knollennase war gerötet, die Augen wurden von den vollen Wangen und einem Dauerlächeln zu Schlitzen verengt, und sein Bauch hätte auch einer Hochschwangeren gut gestanden. Noch dazu trug er einen roten Pullover.
Amys Vater bellte ein triumphierendes Lachen und riss dann seine Tochter an sich. Er küsste sie kräftig auf die Wange und rieb seinen Bart daran.
Amy drückte ihn von sich weg und wischte sich wie ein kleines Kind über das Gesicht. »Pfui Spinne!«
Er grinste und spähte an ihr vorbei. »Und wer ist dieser große Saftsack, den du da mitgebracht hast? Ziemlich hübscher Kerl. Hast dich endlich von Patrick getrennt, was?«
Patrick lachte. »Wie geht’s, Bob?«
»Ich werde nur älter und fetter.« Dann spähte Bob Corcoran über Carries und Calebs Köpfe hinweg und sah sich um, als suchte er etwas. »Komisch«, sagte er, »ich hätte schwören können, dass ich euch zusammen mit zwei kleinen Krabbelkäfern gesehen habe, als ich die Tür aufmachte.« Er setzte sein kleines Spielchen fort und hielt weiterhin ziellos nach ihnen Ausschau. »Schätze, sie sind abgehauen. Eine Affenschande, immerhin gibt’s drinnen Kekse und heiße Schokolade.«
»Grandpa!«, platzte es aus Carrie heraus, als hätte man sie mit einer Nadel gestochen.
Bob zog ein verdutztes Gesicht. »Wer hat das gesagt?«
»Ich!« Carrie schüttelte die Hand ihres Vaters von der Schulter und trat neben Amy auf die dritte Stufe.
»Oh, da bist du ja …« Bob beugte sich vor und stupste mit seinem Finger gegen Carries Nasenspitze. »Gut, dass ich dich gefunden habe …« Er richtete sich wieder auf und ließ seine große Wange wackeln. »Sonst hätte ich all die leckeren Sachen alleine aufessen müssen!«
Carrie gluckste, und Bob streichelte ihre Wange, bevor er erneut den Blinden spielte. »Also, ich hätte schwören können, dass hier irgendwo noch ein anderer Käfer rumkrabbelt. Wohin ist der nur verschwunden?«
Caleb hielt sich eng an der Seite seines Vaters, hob jedoch eine Hand. Bob richtete seine Aufmerksamkeit auf ihn. »Aha! Da ist er!« Er ging eine Stufe hinab und legte seine Hand auf Calebs Kopf. »Jetzt werde ich wohl gar keine Kekse mehr abkriegen, wenn so ein Riesenkerl dabei ist!«
»Ich bin auch groß!«, krähte Carrie.
Bob sprang einen Schritt zurück und tat furchtbar erschrocken, als wäre Carrie ganz plötzlich einen Meter gewachsen. »Das bist du, verflixt noch mal! Ich kann nur hoffen, dass unsere Betten für euch zwei Monster groß genug sind.«
»Dad?«, sagte Amy. »Dürfen wir bitte reinkommen, bevor wir erfrieren?«
Bob Corcoran gab die Tür frei, machte einen Diener und vollführte mit der Hand eine schwungvolle, einladende Geste. »Ich erbitte untertänigst Eure Verzeihung«, sagte er. »Nach Euch, Eure Hoheit.«
Alle gingen hinein. Amy wurde mit einer zweiten Umarmung bedacht (diesmal ohne Bartgekratze), Carrie bis zur Decke hochgehoben, Caleb mit einem festen, sich für »echte Männer« geziemenden Händedruck, der in voller Absicht seinen kompletten Leib durchschüttelte und ihn zum Kichern brachte, geehrt, und Patrick bekam einen satten Klaps auf den Rücken, unmittelbar gefolgt vom Angebot eines Bourbons. Patrick warf Amy unverzüglich einen Blick zu; selbst als sie sich abwandte, spürte er ihr Grinsen noch.
Audrey Corcoran erschien aus der Küche und wischte ihre Hände an der bis zu den Knien reichenden grünen Kittelschürze ab. Ihre altmodische Brille mit den glasbausteindicken Gläsern vergrößerte die hellbraunen Augen, die sie ihrer Tochter vererbt hatte, erheblich. Patricks Ansicht zufolge war das die einzige Ähnlichkeit zwischen den beiden. Audrey war kleiner und fülliger, und ihr lockiges Haar ergraute allmählich. Patrick hielt seine Schwiegermutter nicht für hässlich, aber besonders attraktiv war sie auch nicht – gewiss kein Hingucker wie seine Frau. Auch auf alten Fotos, die sie im gleichen Alter zeigten, kam sie bei Weitem nicht an Amy heran. Und trotz der gutmütigen Hänseleien seiner Freunde war Patrick überzeugt davon, dass die alte Maxime, mit der sie ihn bevorzugt aufzuziehen pflegten (»Wenn du wissen willst, wie deine Frau in dreißig Jahren aussieht, wirf einen Blick auf die Mutter!«), so falsch, wie das Gebiss war, das zu tragen er Audrey Corcoran verdächtigte. Zumindest hoffte er das. Eigentlich wäre ihm ein Bourbon jetzt doch ganz recht, herzlichen Dank, Bob.
Audrey Corcoran vollzog nun ihr Begrüßungsritual in Form von Umarmungen und Küssen, bevor sie all ihre Aufmerksamkeit ihren Enkelkindern schenkte und diese in die Küche führte, um ihnen so schnell wie möglich Berge an Zuckerwerk zu verabreichen.
Bob machte mit ihnen eine schnelle Führung durch das kleine Haus und platzte vor Stolz auf die neuen Kacheln, mit denen er jüngst das Badezimmer gefliest hatte. Amy und Patrick heuchelten Interesse (Patrick strich ehrfürchtig mit den Fingerspitzen über die Fliesen und nickte anerkennend und fachkundig, als hätte er auch nur den Hauch einer Ahnung, was sein Schwiegervater da faselte), und nachdem alle Formalitäten erledigt waren, versammelten sich die drei im Hobbyraum, während Audrey weiterhin die Kinder in der Küche unterhielt.
Bob schenkte Amy ein Glas Cabernet und dann sich und Patrick eine großzügige Portion Bourbon – ohne Eis – ein, bevor er sich grunzend und seufzend in seinen Fernsehsessel sinken ließ. Amy und Patrick nahmen auf dem Sofa rechts davon Platz. Bob nippte an seinem Bourbon, strich sich durch den Bart und sagte zu Patrick: »Heute Abend spielen die Bears. Live-Übertragung.«
Amy erwiderte Patricks flüchtigen Seitenblick und brach in Gelächter aus.