12
Der Tierarzt verließ den kleinen weißen Raum und ließ Patrick und Amy alleine zurück.
»Ich kann’s nicht fassen«, sagte Patrick. »Wie konnte ich nur so verdammt dämlich sein?«
»Schatz, es ist genauso mein Fehler – meine Schuld ist sogar größer als deine, zum Teufel.«
»Wie kommst du darauf?«
»Sein Verhalten. Ich hätte wissen müssen, dass etwas nicht stimmt. Er wollte heute Morgen nicht mal fressen. Und das bei einem Hund, der einen abgeschnittenen menschlichen Finger verschlungen hat, um Himmels willen.«
Patrick erinnerte sich lebhaft an den Crescent Lake. Seine zum Angeln bereite Familie am Bootssteg. Caleb, der etwas aus der Köderschachtel fischte, das eigentlich ein Wurm hätte sein sollen. Patrick, dessen Blick auf einen Fingernagel fiel und der daraufhin das Ding von sich schleuderte. Oscar, der sich auf den Finger stürzte und ihn hinunterschlang, als wäre er ein Cocktail-Würstchen.
Er schloss die Augen, verdrängte die Bilder und war fast wütend auf Amy, weil sie den Filmprojektor in seinem Kopf überhaupt erst angeworfen hatte. »Das konntest du nicht wissen«, sagte er.
»Aber ich habe davon gehört. Ich weiß, dass Frostschutz- oder Kühlmittel für kleinere Haustiere tödlich sein kann«, sagte sie.
»Das mag dir durchaus bekannt gewesen sein, aber es ist noch mal was anderes, im richtigen Augenblick auch dran zu denken …«
»Wie meinst du das?«
»Na ja, hatten wir je zuvor einen Hund? Oder ausgelaufenes Frostschutzmittel in unserer Einfahrt? Ob du nun wusstest, was das Zeug bei Haustieren anrichten kann oder nicht, es ist nicht verwunderlich, dass du nicht sofort die entsprechende Verbindung hergestellt hast. Ich habe ja auch nicht nachgedacht, sonst hätte ich dir verboten, Oscar vor die Tür zu lassen, nachdem du die Lache gesehen hast.«
»Aber nach deinem Anruf war er nicht mehr draußen. Es muss passiert sein, nachdem er Carrie zum Bus nachgelaufen ist. Es hat ewig gedauert, bis er wieder reinkommen wollte. Jetzt wissen wir, warum. Es ist in erster Linie meine Schuld.« Sie ließ den Kopf hängen.
Er nahm sie in die Arme. »Niemand hat Schuld daran, Liebling. Wie hättest du das mit dem Frostschutzmittel in Verbindung bringen sollen? Wenn wir jemandem die Schuld geben müssen, dann dem verfluchten Wagen.«
»Der Arzt hat gesagt, Oscar hätte möglicherweise gerettet werden können, wenn wir ihn unverzüglich hergebracht hätten.«
Patrick sah auf die Wanduhr. Neunzehn Uhr fünfzehn.
Amy fuhr fort. »Ich hätte wissen müssen, dass was nicht stimmte, Frostschutz hin oder her. Ich hätte es wissen müssen – er war wie verwandelt.«
Patrick trat einen Schritt zurück und schaute sie an. Tränen standen in ihren Augen. »Schatz, du darfst dich nicht quälen. Er hat weder gekotzt, noch ist er irgendwie durchgedreht oder so. Du hast gesagt, er hätte müde ausgesehen und einfach nur geschlafen, richtig?«
Sie nickte.
»Na bitte. Deshalb hätte ich ihn auch nicht zum Tierarzt gefahren. Ich meine, wir können uns endlos Vorwürfe machen – und bei Gott, das werden wir –, aber unterm Strich ist Oscar an den Folgen eines Unfalls gestorben.«
Amy wandte den Blick ab. Als sie ihn wieder auf Patrick richtete, las dieser ihre Gedanken, und das Blut gefror ihm in den Adern.
»Ich weiß, was du denkst«, sagte er, »und du musst auf der Stelle damit aufhören.«
»Was denke ich denn?«
»Ich werde es nicht einmal aussprechen.« Doch er hätte lügen müssen, um zu sagen, dass der lästige Gedanke nicht auch an der Peripherie seiner eigenen Psyche entlanggeflattert war.
Amy schnalzte mit der Zunge. »Also war das nur Pech?«
»Amy, lass es. Du weißt so gut wie ich, dass das hier ein Unfall war.«
Sie fixierte ihn stur. Und das machte ihn zornig. Ja, seine Ängste hatten eben jenen Überlegungen Nahrung gegeben, auf die sie anspielte, aber sie waren nicht mehr als das: Ängste. Er kannte die Wahrheit. Und sie beide wussten, dass Jim tot war. Beide wussten, dass Arty irgendwo in Pittsburgh sicher weggesperrt war und auf seinen Prozess wartete. Und trotz dieses Wissens und der ganzen Therapie und den vielen Fortschritten dachte sie beim ersten Rückschlag gleich an ihn?
Schuld. Ja – die Schuldgefühle waren dafür verantwortlich. Ihr Verstand wusste, dass niemand die Verantwortung trug. »Du hast Schuldgefühle«, sagte er. »Und das lässt dich irrationale Schlüsse ziehen.«
»Soll das heißen, dass ich doch schuld bin?«
»Nein – ich habe dir bereits gesagt, dass ich genauso dafür verantwortlich bin. Es war ein Unfall, Amy. Ein Unfall.« Er hielt inne und überlegte, ob er es laut aussprechen sollte. Sie dachten beide an das Gleiche, daran bestand kein Zweifel; sie hatte es bereits unmissverständlich angedeutet. Aber es auszusprechen, es laut zu sagen? Scheiß drauf, dachte er. Wir lassen uns hiervon nicht alle Fortschritte zunichte machen. »Und damit meine ich nicht die Sorte ›Unfall‹, die uns am Crescent Lake zugestoßen ist.«
Amy zuckte leicht zusammen. Patrick war klar, dass seine Frau nur durch ihre unbeugsame Selbstbeherrschung gefasst und ruhig blieb. Es erinnerte ihn an das alte »Wer zuckt, verliert«-Spiel, das er als Kind gespielt hatte und bei dem jemand einen Faustschlag ins Gesicht andeutete. Wer zurückwich oder mit der Wimper zuckte, kassierte zwei Ohrfeigen. Es war verdammt schwierig, völlig ruhig zu bleiben, wenn eine Hand so nahe am eigenen Gesicht vorbeisauste, vor allem dann, wenn sie unvorbereitet und plötzlich kam. Tja, Amy war alles andere als unvorbereitet, doch die auf ewig verhassten Wörter Crescent Lake waren, um im Bild zu bleiben, ein regelrechter Mike-Tyson-Schwinger. »Okay?«, fragte Patrick.
Sie hielt seinem Blick stand, aber ihre Schultern senkten such. »Schön. Was erzählen wir den Kindern?«
»Du meinst Carrie.«
»Nun – und Caleb.« Sie seufzte. »Doch, ja … Carrie.«
Patrick holte tief Luft und stieß sie langsam wieder aus. »Zunächst mal erzählen wir ihr nichts von dem Frostschutzmittel. Wir sagen ihr einfach, dass Oscar alt war und …« Er nahm einen neuerlichen tiefen Atemzug. »Und dass seine Uhr abgelaufen war.«
Amy verzog das Gesicht. »Alt? Er war energiegeladen wie eine Springbohne.«
»Schatz, er war ein Streuner. Wir wussten nicht, wie alt er wirklich war.«
»Er war eindeutig nicht alt genug, um eines natürlichen Todes zu sterben.«
»Stimmt, und du und ich wissen das. Carrie hingegen muss das nicht wissen.«
Amys Schultern sanken tiefer, und schließlich signalisierten ihre Augen resigniertes Einverständnis. »Ich weiß.«
»Wir sagen ihr, dass Oscar alt und seine Zeit gekommen war und er an der Regenbogenbrücke auf sie warten wird.«
»Wo?«
»Das suche ich im Internet, wenn wir zu Hause sind. Es ist ein wunderschöner kurzer Text eines anonymen Autors über das, was mit Haustieren geschieht, wenn sie sterben. Mir kommen jedes Mal die Tränen, wenn ich es lese.« Dann fügte er rasch hinzu: »Nicht vor Trauer. Vor Glück. Wenn du es liest, verstehst du, was ich meine.«
Amy seufzte. »In Ordnung. Ich setze dich daheim ab, du suchst diese Regenbogenbrücken-Geschichte, und ich hole die Kinder von deinen Eltern ab.«
»Klingt gut.« Er streckte ihr seine Hand entgegen. Sie nahm und drückte sie, blieb jedoch auf Distanz.
»Ich kann’s noch immer nicht fassen«, sagte sie.
Er zog sie nicht an sich, sondern erwiderte ihren Händedruck und teilte ihre Trauer mit einem mitfühlenden Lächeln. »Ich weiß. Geht mir genauso.«
Monica saß im Wartezimmer und versteckte ihr Gesicht hinter einer Zeitschrift. Die Tür zu dem kleinen weißen Raum öffnete sich, und Patrick und Amy traten heraus. Die Rezeptionistin sprach ihnen ihr Beileid aus, als sie sich auf den Weg machten.
Monica legte das Magazin auf dem Nebenstuhl ab und näherte sich der Rezeptionistin. »Traurig«, sagte sie.
Die Empfangsdame, ein fülliges junges Mädchen in blauem Kittel, nickte mit aufrichtigem Mitleid. »Ja.«
»Die beiden haben ihren Hund verloren, oder?«, fragte Monica.
Die Rezeptionistin nickte.
Monica lächelte innerlich. »Eine Schande«, sagte sie.
»Ja«, sagte das Empfangsmädchen. »Ich weiß nicht, was ich täte, wenn meinem Baby etwas zustoßen würde.«
»Ich auch nicht«, murmelte Monica.
»Was für einen Hund haben Sie?«
»Einen Mops«, kam es ihr abrupt in den Sinn.
»Ich auch.« Das Gesicht der Rezeptionistin leuchtete auf. »Junge oder Mädchen?«
»Mädchen.«
»Ich auch.« Jetzt war das Empfangsfräulein regelrecht trunken vor Glück. »Sie ist für mich das Wertvollste auf der ganzen Welt. Sie heißt Sophia. Und Ihre?«
Monica hätte sie am liebsten geschlagen. Ihr wehgetan. Dieser verbale Austausch. Auf … Augenhöhe … als gehörten sie zur selben Spezies.
»Fotze«, sagte Monica.
Das Lächeln des Empfangsmädchens gefror. »Wie bitte?«, fragte sie leise.
Monica lächelte weder, noch sah sie finster drein. Sie sprach im ruhigen, selbstsicheren Ton gönnerhafter Liebenswürdigkeit. »Fotze«, wiederholte sie.
Das junge Mädchen errötete und sprach noch leiser. »Das verstehe ich nicht.«
»Was verstehen Sie nicht?«
»Wollten Sie mir nicht gerade … den Namen …?«
»Wessen Namen?«
Die Rezeptionistin räusperte sich, und ihre bleiche Haut wurde krebsrot. »Den Namen Ihres Mopses.«
»Ich habe keinen Mops.«
»Ich dachte, Sie hätten gesagt …«
»Ich habe keinen Mops.«
Die Rezeptionistin konnte Monicas Blick nicht länger standhalten und heuchelte lebhaftes Interesse an einem Stapel Unterlagen, der vor ihr lag. »Gut, dann wünsche ich Ihnen noch einen schönen Tag«, sagte sie hastig.
Monica rührte sich nicht vom Fleck. Das Empfangsmädchen hielt den Kopf gesenkt und schob die Papiere ziellos umher wie ein unruhiges Kind, das unablässig an einer Haarlocke dreht. Sie riskierte einen kurzen Blick, ohne den Kopf zu heben.
Monica starrte sie noch immer an.
Die Rezeptionistin vergrub den Kopf wieder in den Unterlagen. Auf dem Tresen befand sich eine silberne Klingel. Monica schlug darauf, und die Rezeptionistin fuhr zusammen. Dann begann sie zu weinen – stille Tränen rannen aus furchtgeweiteten Augen ihre vollen roten Wangen hinab.
Monica lächelte und ging.
Auf dem Weg zum Auto wollte sich Monica eine Zigarette anstecken, doch die Schachtel war leer. Sie fluchte, zerknüllte die Packung und warf sie zu Boden.
»Entschuldigung.«
Monica drehte sich um.
Eine Frau in den mittleren Vierzigern, die einen kleinen weißen Pudel an einer rosafarbenen Leine führte. »Sie haben gerade Ihren Abfall auf die Straße geschmissen.«
»Weiß ich«, sagte Monica.
»Nun, das ist schändlich. Sie sollten sich schämen.«
Monica trat an die Frau heran, bis sie ungefähr dreißig Zentimeter voneinander entfernt waren. In allerfreundlichstem Ton sagte sie: »Könnten Sie das bitte wiederholen?«
»Ich habe gesagt …«
Monica rammte der Frau ihre Stirn mitten ins Gesicht. Ein dumpfes Knacken hallte in ihren Ohren wider, als die Nase der Frau explodierte. Monicas Magen kribbelte, als die Frau mit dem Hintern auf das Pflaster schlug und dann langsam nach hinten kippte, bis sie wie ein Seestern auf dem Bürgersteig lag. Monica beugte sich über die Frau und wedelte mit einer Hand vor ihrem blutüberströmten Gesicht herum. Die Frau erkannte sie nicht, sondern starrte bloß mit aufgerissenen und glasigen Augen gen Himmel, während sich ihr Mund wortlos öffnete und schloss wie der eines sterbenden Fisches. Sie stand total unter Schock.
Danach stammte das einzige wahrnehmbare Geräusch von dem Pudel, dessen einzige Möglichkeit, sich zu wehren, in unermüdlichem Kläffen zu bestehen schien. Zu der Fremden, die sein Frauchen zu Boden geschickt hatte, blieb er jedenfalls auf sicherer Distanz.
Monica streifte den Hund mit einem Blick, als sie sich mit zwei Fingern Blut von der Stirn wischte. Die blöde Alte hatte sie vollgeblutet. Monica ging in die Hocke und hielt dem Pudel ihre blutigen Finger hin. Der Hund näherte sich vorsichtig, schnüffelte daran und leckte sie schließlich ab.
Monica lenkte den Pudel mit den beiden Fingern zum Gesicht ihres nach wie vor reglos daliegenden Frauchens, aus dem mehr von der schmackhaften roten Soße, die den Gaumen des Tieres gekitzelt hatte, hervorsickerte. Der Pudel begann ohne Umschweife zu schlabbern, und die benommene Frau konnte nur daliegen und es geschehen lassen.
Obwohl Monica wirklich starke Sehnsucht nach einer Zigarette hatte, fuhr sie mit dem Gedanken davon, dass heute ein toller Tag gewesen war.