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Die ersten Tage über hatte es Schuldzuweisungen im Überfluss gegeben. Daher all der Zorn. Für Amy und ihren Bruder Eric kam das, was ihrem Vater zugestoßen war, einem Selbstmord gleich – sein leichtsinniges und eigennütziges Verhalten hatte letztlich zu nichts als Leid und Trauer unter denjenigen geführt, die ihm in Liebe verbunden gewesen waren.
Dieser Zustand hielt jedoch nicht lange an. Schon sehr bald verwandelte sich der Zorn in Trauer, und Eric und Amy blieb nichts anderes übrig, als diesen Wesenszug ihres Vaters zu akzeptieren. Bob Corcoran war ein jederzeit offenes Buch gewesen. Sein Charakter, sein Lebensstil, seine Überzeugungen – all das kam innerhalb der ersten fünf Minuten des Kennenlernens auf den Tisch. Der Traum einer jeden Wahrsagerin. Und man brauchte wahrlich keine Wahrsagerin, um zu erkennen, dass im Leben eines solchen Mannes die Möglichkeit eines tragischen Endes angelegt war. Wahrscheinlich war Audrey Corcoran die Einzige, die demgegenüber die Augen verschlossen hatte. Natürlich ganz bewusst. Patrick fragte sich – fasziniert von der Fähigkeit, sich einer Wirklichkeit zu verschließen, die einem permanent vor Augen geführt wurde –, ob Audrey sich jetzt in stillen Momenten der Nachdenklichkeit eingestand, dass sie das, was ihrem Mann passiert war, schon vor Jahren hätte kommen sehen können. Oder hatte ihre Verdrängungsmanie bereits depressive Züge angenommen, sodass sie, hätte Bob sich in ihrem Wohnzimmer den Kopf weggeschossen, auf immer und ewig der Pistole die Schuld zugesprochen hätte statt dem Finger, der den Abzug gedrückt hatte? Ja – das erschien Patrick einleuchtend. Wenn in der überschaubaren Blase, die Audrey ihr Leben nannte, irgendwer oder irgendwas ihren Unmut erregte, dann keinesfalls ihr geliebter Bob. Es war der Schnaps. Der Schnaps war schuld. Der Schnaps war so tödlich wie eine verdammte Knarre. Egal, dass Bob ständig besoffen Auto fuhr. Egal, dass er jedes Mal die Woodmere nahm. Wenn der Schnaps nicht gewesen wäre, hätten sich diese Faktoren in Luft aufgelöst. Der Schnaps war schuld.
Patrick erinnerte sich an eine Meldung, die er vor ein paar Jahren in den Fernsehnachrichten gesehen hatte. Ein etwa zwanzig Jahre alter Junge hatte sich mit einer Schrotflinte den Kopf weggeblasen, weil man seine Figur in einem dieser beliebten Online-Videospiele getötet hatte. Die Medien hatten sich danach ekelhaft voyeuristisch an der Trauer der Mutter geweidet, die dem Videospiel vorwarf, »ihr Baby umgebracht zu haben«. Selbstverständlich verklagte die Mutter die Produktionsfirma des extrem erfolgreichen Spieles auf Schmerzensgeld in Millionenhöhe, aber darum ging es nicht wirklich, nicht wahr? Das Spiel hatte ihrem einzigen Sohn das Leben geraubt!
Als das Reporterteam in der Folge der Tragödie das Apartment des jungen Mannes aufsuchte, hatte sich einer beim Betreten die Nase zugehalten, wie sich Patrick noch gut erinnerte. Es war nicht etwa Leichengestank gewesen, der dem Journalisten zugesetzt hatte. Sondern der Geruch von Pizzaschachteln und Hamburger-Einwickelpapier, aus Pappboxen mit chinesischem Essen und Speiseresten, mannshoch gestapelt und sich wie ein widerwärtiges Labyrinth durch die komplette kleine Wohnung windend. Der Junge war ein völlig isolierter Stubenhocker gewesen und hatte seit Monaten in diesem Berg von Unrat dahinvegetiert. Job? Er hatte seinen Job sechs Monate zuvor gekündigt, um Tag und Nacht vor dem Spiel sitzen zu können. Wo war Mom währenddessen? Diese Frage hatte sich Patrick als erste gestellt. Hast du auch nur ein EINZIGES Mal versucht, ihn aus seiner steilen Abwärtsspirale zu reißen? Himmel, selbst ein Blinder hätte beim Besuch der Wohnung sofort GEROCHEN, dass etwas nicht stimmte. Aber nein, Lady, Sie haben natürlich völlig recht; das Videospiel hat Ihren Sohn getötet. Er hatte sein Leben ja im Griff gehabt und war geistig so robust, stabil und dauerhaft wie der erste Ständer eines Teenagers gewesen. Das SPIEL hat den Lauf der Schrotflinte in seinen Mund geschoben und ihm den Kopf von den Schultern gepustet. Jau. Ganz klar. Das Spiel.
»Hey! Hörst du überhaupt zu?«, fragte Amy.
Patrick wurde aus seiner Erinnerung gerissen, und die diffusen Nachrichtenbilder verschwanden. »Pardon, wie bitte?«
Amy schüttelte den Kopf, stürzte den Rest ihres Kaffees herunter und schenkte sich aus der Kanne nach. Patrick stand gegen die Küchentheke gelehnt, musterte die Kehrseite seiner Gattin und ertappte sich wieder einmal bei einem seiner notorischen Tagträume. Er war zweifelsfrei einer von der nachdenklichen Sorte. Was zu den Eigenschaften gehörte, die Amy sehr an ihm mochte. Er war allerdings ziemlich häufig auch dann leicht weggetreten, wenn es völlig unpassend war. Wie zum Beispiel jetzt.
Amy sah ihn an. Sie trank ihren Kaffee schwarz, was sie sonst nie tat. »Ich habe gesagt, dass Carrie und Caleb anscheinend nicht vollständig begreifen können, was mit ihrem Großvater geschehen ist.«
»Ich glaube, das ist in ihrem Alter völlig normal, Liebste.«
Amy runzelte skeptisch die Stirn. »Carrie hat tagelang geheult, als Oscar starb.«
»Das ist ein bisschen was anderes.«
»Was?«
»Das soll nicht heißen, dass er ihr mehr bedeutet hat, sondern nur, dass es was anderes ist. Versuch mal eine Sekunde lang, dich in eine Siebenjährige hineinzuversetzen.«
»Ein verstorbener Hund ist wichtiger als ein verstorbener Grandpa?«
Amys Trauer blockierte jede Möglichkeit der Rationalisierung. In jeder anderen Situation oder wenn eine andere Familie betroffen wäre, hätte sie ohne weitere Erläuterungen verstanden, worauf Patrick hinauswollte.
»Natürlich nicht. Das weißt du genauso gut wie ich. Aber weiß das auch ein siebenjähriges Kind, das jede freie Minute mit besagtem Hund verbringt? Sie hat Bob wie oft gesehen? Einmal im Monat? Wenn überhaupt? Sie ist zu klein, Schatz. Denk daran, was Dr. Bogan über kindliche Entwicklungsstadien gesagt hat. Die egozentrische Phase. Carries Kosmos endet mit ihrer Nasenspitze. Oscar war ein Teil dieser kleinen Welt. Du kannst nicht von ihr erwarten, den Ernst und die Tragweite der jetzigen Situation zu erfassen. Dazu ist sie noch nicht imstande. Auf dieser Entwicklungsstufe liegt das völlig außerhalb ihrer Reichweite. Und Caleb ist selbstverständlich noch weit weniger zu so etwas in der Lage.«
»Du willst also damit sagen, dass sie trauriger wären, wenn es um deine Eltern ginge?«
»Habe ich das gesagt?«
»Du hast es angedeutet.«
»Tja, wenn ich das getan habe, dann unabsichtlich. Fürs Protokoll: Nein, meiner Überzeugung nach hätte Carrie auch mehr Tränen für Oscar als für meine Eltern vergossen, wären die plötzlich gestorben.«
Amy stellte die Kaffeetasse ab, schlug die Hände vors Gesicht und begann zu weinen.
Patrick zog sie an sich. Darauf hatte er gewartet. Amy hatte noch immer nicht alles rausgelassen. Er drückte sie fest an sich und flüsterte ihr tröstende Worte zu. Sie schluchzte eine geraume Weile an seiner Brust.