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Nach diesem Vorfall waren sie nicht in Miles’ Büro zurückgekehrt. Vielmehr befanden sie sich in dem im Parterre gelegenen Büro des Sicherheitsdienstes. Patrick saß mit einem Wachmann an jeder Seite auf einem Stuhl. Miles ging vor Patrick auf und ab, während er sprach.
»Lucas ist auf dem Weg ins Krankenhaus«, sagte Miles. »Er sieht aus, als wäre er vom gottverdammten Trecker überfahren worden.«
Patrick schwieg und hielt den Blick gesenkt. Sein Furor war keineswegs verflogen; doch die Vernunft gewann inzwischen einigermaßen die Oberhand.
»Es war zweifellos die Wahrheit«, sagte Miles. »Das mit dem Besuch von Bruder und Neffen und so.«
Patrick hob den Kopf. »Was?«
»Wir haben es überprüft. Sein Bruder und dessen Kinder waren letzten Abend bei ihm zu Besuch.«
Patrick runzelte die Stirn und schloss kurz die Augen, während er über eine Erklärung nachgrübelte. Dann richtete er sie wieder auf Miles. »Laut Sicherheitsdatensystem ist er um zwölf gekommen und bis fast vier geblieben. Er hätte sich davonstehlen können, nachdem sie ins Bett gegangen sind.«
»Sein Bruder behauptet, sie hätten sich bis zwei Uhr nachts unterhalten. Er ist bereit, das unter Eid auszusagen.«
Patrick blieb unnachgiebig. »Aber das ist nicht – wie erklärst du dir dann …«
Miles blieb stehen und sah Patrick unverwandt an. »Ich kann es nicht erklären, Patrick.«
Patrick schlug sich gegen die Brust. »Du glaubst doch nicht etwa noch immer, dass ich irgendwas damit zu tun hatte, oder?«
Miles schloss die Augen und schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er mit ernster Miene.
»Was zum Geier kann dann …«
Miles erhob die Hand. »Ruhig, Patrick. Ganz ruhig.« Er hielt einen Moment lang inne. »Die einzige logische Erklärung, die mir vorerst einfällt, lautet, dass irgendjemand Lucas’ Magnetkartenschlüssel in die Finger bekommen hat.«
Patrick zog erneut eine nachdenkliche Miene. In der Eile, in der er Lucas als Schuldigen ausgemacht hatte, war ihm diese Möglichkeit zu keiner Sekunde eingefallen. »Na schön … Wer hätte Interesse daran …?«, sagte er.
»Allerdings«, unterbrach Miles, »hatte Lucas seine Magnetkarte bei sich, als er in die Notaufnahme gefahren wurde. Das haben wir nachgeprüft.«
»Also lügen sowohl Lucas als auch sein Bruder«, sagte Patrick.
Miles schnappte sich einen Stuhl und stellte ihn unmittelbar vor Patrick auf. Er nahm Platz und sah Patrick in einer ausgewogenen Mischung aus Ernst und Mitgefühl an. »Ich glaube nicht, dass sie lügen, Patrick.« Miles senkte seine Stimme – die Wachen konnten zweifelsfrei noch immer mithören, daher deutete nach Patricks Einschätzung der gedämpfte Ton auf ein Von-Mann-zu-Mann-Gespräch hin. »Hör zu, Patrick. Ich bin weder ein dummer noch ein gleichgültiger Chef. Und blind bin ich auch nicht. Ich kenne meine Angestellten, und mir ist bewusst, was für eine Nervensäge Steve Lucas sein kann. Ich weiß allerdings auch, dass er so etwas nicht tun würde. Dazu ist er nicht imstande, dafür fehlen ihm die Eier. Er ist ein korrekter Mitarbeiter und erledigt gewissenhaft seine Arbeit, aber es hat seinen Grund, dass er keine wirklich großen Aufträge bekommt.« Miles beugte sich näher vor. »Also, würdest du nach diesem Geständnis immer noch ernsthaft behaupten wollen, Steve Lucas wäre zu einer solchen Aktion in der Lage? Zu etwas in dieser Größenordnung?«
Patrick erinnerte sich daran, wie Lucas letzte Woche in seinem Apartment ausgesehen hatte. Wie verängstigt. Wie kindlich. Patrick erinnerte sich, wie er Lucas aus seinem Büro geschmissen hatte. Auch da: verängstigt, kindlich. Miles lag richtig: Steve Lucas war ein nervtötender Trottel, aber niemals zu so etwas fähig. Dergleichen verlangte Planung, fundiertes technisches Wissen … und ein dickes Paar Eier. Einmal mehr musste Patrick Miles zustimmen: Lucas hatte keine dicken Eier. Durchschnitt, wenn überhaupt.
Patrick kniff sich in die Nasenwurzel. »Gut«, sagte er. »Was jetzt? Hab ich nun wieder den Schwarzen Peter?«
Miles lehnte sich zurück. »Nein«, erwiderte er. »Ich gehe auch nicht davon aus, dass der Patrick, den ich kannte, dazu imstande war.«
Patricks Stirn legte sich in Falten. »Der Patrick, den du kanntest?«
Miles warf beiden Wachleuten einen Blick zu. »Könntet ihr uns ein paar Sekunden lang alleine lassen, Jungs? Ist alles in Ordnung.«
Die Wachen wechselten einen flüchtigen Blick und verschwanden.
Miles fuhr fort. »Ich weiß, was du und deine Familie durchgemacht habt, Patrick.«
»Jon …«
Miles hob eine Hand. »Ich meine, wer weiß das nicht? Die Medien haben sich nicht gerade bemüht, es geheim zu halten. Und die Öffentlichkeit schaut Nachrichten, lässt sich ein bisschen Angst einjagen und geht dann zum Tagesgeschäft über, bis die nächste Sau durchs Dorf getrieben wird. Nichts wirklich anderes, als einen Horrorfilm zu gucken. Doch bei dir funktioniert das so nicht – was vorbei ist, ist deswegen noch lange nicht vergessen. Ich bin kein gleichgültiger Arbeitgeber. Ein Krieg hinterlässt Spuren bei einem Menschen. Er verändert ihn. Manche sagen, der Krieg selbst sei der einfachere Teil. Das Danach macht dich fertig.«
Patrick wollte das Wort ergreifen, doch Miles hob erneut die Hand.
»Du hingegen bist ein starker Hundesohn, Patrick. Nicht nur hier …« Er berührte Patricks kräftigen Arm. »Sondern auch hier …« Er legte Patrick die Hand aufs Herz. »Und hier oben …« Er wies auf Patricks Schädel. »Ich hätte dich nicht zurückgeholt, wenn ich nicht geglaubt hätte, dass du bereit dafür warst. Und ich habe dir Megablast anvertraut, weil ich wusste, dass du das bewältigen kannst. Scheiße, vielleicht habe ich auch irgendwie gedacht, du hättest etwas von dieser Größe nötig, um dich abzulenken. Aber das hat nichts mit Mitleid zu tun, weiß Gott nicht. Das hier ist immerhin meine Firma; ich kann mir keine Barmherzigkeiten zulasten meiner Geldbörse leisten.« Er lächelte.
Patrick lächelte nicht.
»Und dann erfahre ich das mit deinem Schwiegervater. Sogar das mit deinem Hund.«
Patrick zog das Kinn an die Brust.
»Ich bin kein dummer, gefühlskalter Vorgesetzter, Patrick …«
Ja, das habe ich langsam verstanden.
»Ich hätte in diesem Business nicht so lange und erfolgreich überlebt, wenn ich nicht ständig meine Angestellten im Auge hätte.« Miles lehnte sich wieder zurück. »Also will ich dir nichts vormachen, Patrick. Ich habe sogar in Betracht gezogen, dich von Megablast abzuziehen. Ich habe das Projekt in vollem Vertrauen in deine Hände gelegt, als du wieder zu arbeiten angefangen hast. Doch nach dem, was in den letzten Monaten passiert ist …«
»Was ist passiert?«
Miles vollführte eine beschwichtigende Geste. »Entspann dich, Patrick. Ich will damit nur sagen, dass jeder Mensch Grenzen hat.«
»Grenzen? Du glaubst, ich schnappe über? Du glaubst, ich hätte die größte Präsentation meiner Karriere nur so aus Spaß mit Pornobildern gewürzt?«
»Habe ich das etwa gesagt?«
»Du deutest es an.«
»Ich deute gar nichts an, Patrick. Ich spreche klar und deutlich aus, was ich denke. Und wenn ich gedacht hätte, du würdest überschnappen, hätte ich dir das Megablast-Projekt auf der Stelle weggenommen.«
»Was soll dann dieser ›Der-Patrick-den-ich-kannte‹-Mist? Willst du damit zum Ausdruck bringen, dass ich nicht mehr derselbe bin?«
Allmählich wirkte Miles verstimmt. »Ich will zum Ausdruck bringen, dass du eine Auszeit benötigst.«
»Du feuerst mich.«
»Nein – wie gesagt, du brauchst eine Auszeit.«
Patricks Atem beschleunigte sich. »Eines musst du mir noch sagen«, brachte er schließlich hervor.
Miles’ Oberkörper spannte sich. »Was?«
»Sag mir, was deiner Meinung nach geschehen ist. Du deutest nicht an, sondern sprichst Klartext, richtig? Also sag mir, was geschehen ist. Sag mir, was mit der Präsentation passiert ist, für die ich mir monatelang den Arsch aufgerissen habe. Willst du nochmals die Sicherheitsdaten durchsehen lassen? Damit du weißt, wie lange ich jeden Abend geblieben bin? Wie viel Zeit ich in dieses Projekt investiert habe, nur um einen beschissenen Riesenschwanz auf die Leinwand zu bringen …«
»Patrick!«
Patrick verstummte. Er schnaufte, und sein Puls hämmerte in seinem Kopf.
Beide Männer nutzten den Moment der Stille, um sich zu sammeln.
»Okay«, sagte Patrick schließlich. »Ich benötige also eine Auszeit. Wie lange – zwei, drei Wochen?«
»Eher Monate, Patrick.«
»Monate.« Patrick ließ ein verächtliches Lächeln aufblitzen. »Wenn du mich feuern willst, Jon …«
»Du bist nicht gefeuert, Patrick. Aber du wirst eine beträchtliche Auszeit nehmen.«
Patrick wandte den Blick ab.
»Natürlich nicht unbezahlt. Die Zusatzleistungen bleiben dir erhalten«, verkündete Miles.
Patrick hätte am liebsten laut geschrien. Löcher in alle vier Wände geschlagen. Stattdessen schluckte er seine Galle hinunter, sah Miles an und sagte: »In Ordnung.«
Beide standen auf und gaben sich die Hand. Normalerweise tätschelte Miles Patrick nach einem Handschlag die breite Schulter. Diesmal nicht.
Patrick stieß die Glastüren des Bürogebäudes auf und bahnte sich mit einem mit Privatgegenständen gefüllten Pappkarton unter dem Arm den Weg nach draußen. Die Winterluft stach in seine Nase und ließ seine Augen tränen, was er für eine gehässige Fügung des Schicksals hielt.
Patrick überquerte eilig den Parkplatz, wobei ihm der Karton beinahe unter der Achsel weggeglitten wäre. Er konnte ihn gerade noch auffangen, doch ein Tacker fiel raus und knallte auf den Beton. Auch das hielt Patrick für eine gehässige Fügung des Schicksals. Er kickte den Tacker über den Parkplatz, wo er unter einem Wagen verschwand. Erst dann bemerkte er, dass ein Mann und eine Frau ihn aus der Ferne beobachteten.
»Was gibt’s hier zu glotzen?!«, brüllte er.
Das Paar wandte ihm den Rücken zu und begann sich so eifrig zu unterhalten, als hätten sie ihn gar nicht bemerkt.
Patrick schloss den Highlander auf, pfefferte den Pappkarton auf den Beifahrersitz, verließ mit quietschenden Reifen den Parkplatz und raste heimwärts.
»Da kommt er«, flüsterte Monica ihrem Vater zu.
»Was gibt es hier zu glotzen?«
Sie wandten sich von Patrick ab, drängten sich zusammen und kicherten leise wie kleine Kinder. Als der Highlander verschwunden war, brachen sie in lautstarkes Gelächter aus.
Sobald sie sich wieder eingekriegt hatten, zündete sich Monica eine Zigarette an und inhalierte tief. »Wie schlecht es wohl um meinen kleinen Liebling Steve steht?«
John grinste. »Er sah nicht besonders gut aus, als sie ihn rausgeschoben haben.« Johns Grinsen wurde breiter, als er seine Tochter beäugte. »Du hast gewusst, dass er durchdrehen und ihm eine Tracht Prügel verabreichen würde, stimmt’s?«
Monica blies eine üppige, von der Kälte akzentuierte Rauchwolke in die Luft und schlug die Augen nieder. »Jedenfalls habe ich darauf gehofft. Betrachte es als angenehme Dreingabe.«
Er strahlte. »Habe ich dir je gesagt, wie stolz ich auf dich bin?«
»Heute noch nicht.«
»Du mein kleines geliebtes Augäpfelchen, du.«