51
Steve Lucas war noch am selben Tag aus dem Chester County Hospital entlassen worden. Er hatte eine gebrochene Nase, zwei gebrochene Rippen und diverse Prellungen davongetragen.
Zu Patricks großer Überraschung bat Lucas ihn hinein und bot ihm ohne Umstände an, Platz zu nehmen. Auf Lucas’ Nase prangte ein weißer Verband, und beide Augen waren tiefblau. Er zuckte vor Schmerz zusammen, als er sich auf seiner Couch niederließ. Patrick saß links von Lucas in einem Sessel.
»Ich werde keine Anzeige erstatten, wenn es das ist, was dir Sorgen macht, Patrick«, sagte er. »Ich habe darüber nachgedacht, darauf kannst du Gift nehmen, aber du warst der Einzige, der sich nach … du weißt schon, nach dieser Affäre um mich gekümmert hat.«
»Es tut mir leid, Steve. Ich habe keine Entschuldigung für mein Verhalten.« Das war nicht die ganze Wahrheit. Zu jenem Zeitpunkt hatte er das, was er getan hatte, als vollkommen gerechtfertigt empfunden. »Ich habe so verdammt hart an diesem Projekt geschuftet. Was passiert ist … war … Himmel, ich weiß nicht mal, wie ich es nennen soll.«
Lucas nickte. »Eine Riesenscheiße.«
Versuch es, dachte Patrick. Was hast du zu verlieren? »Fällt dir irgendwer aus dem Büro ein, der zu so etwas imstande ist?«
Lucas schüttelte den Kopf. »Nein. Vor allem fällt mir niemand ein, der imstande sein könnte, meinen Kartenschlüssel zu klauen, sich damit ins Büro zu schleichen und ihn Stunden später wieder zurück in meine Brieftasche zu schieben, ohne dass ich das Geringste merke.«
Eben das war das große Rätsel. Würde die Magnetkarte fehlen, hätten sie zumindest ein Detail geklärt – jemand hatte die Karte gestohlen, das wäre ein Anfang. Leider war die Karte nicht verschwunden – Lucas hatte sie noch, hatte sie offenbar die ganze Zeit über gehabt.
Jemand hätte das Sicherheitssystem hacken und Lucas als den Schuldigen hinstellen können, überlegte Patrick. Es war denkbar. Aber es warf Fragen auf. Die erste lautete: Warum sollte man es Steve Lucas in die Schuhe schieben wollen? Die Antwort war relativ einfach: Weil Lucas ein echtes Arschloch sein konnte. Die zweite Frage war weniger einfach zu beantworten. Warum sabotierte man Patricks Präsentation, nur um Lucas etwas anzuhängen? Worin bestand die Verbindung? Jemandem, der über das Fachwissen verfügte, in ein High-Tech-Sicherheitssystem einzudringen, würde höchstwahrscheinlich etwas Besseres einfallen, um Steve Lucas zu schaden, als ausgerechnet Patricks Projekt zu ruinieren. Vielleicht hatten Lucas und Patrick einen gemeinsamen Gegenspieler in der Firma? Doch wen? Patrick hatte den Eindruck, mit allen gut klarzukommen. Und er war sich mehr als sicher, in der Vergangenheit niemals jemanden in einer Weise verärgert zu haben, die eine derartige Vergeltungsmaßnahme gerechtfertigt hätte. Nein. Es passte nicht zusammen. Es ergab keinen Sinn, wie man es auch drehte und wendete.
»Wer könnte es deiner Meinung nach gewesen sein? Außer mir natürlich«, sagte Lucas.
Patrick lächelte schwach, dankbar dafür, dass Lucas bereits darüber scherzen konnte. »Ich habe nicht den Hauch einer Ahnung, Mann.«
Sie saßen stumm da. Patrick ließ den Blick im Raum umherschweifen und bemerkte, dass das große Loch in der Wand noch nicht repariert worden war. Sollte er die Gangart wechseln und es ansprechen? Er wusste, dass Lucas nicht gerne darüber sprach, aber vielleicht konnte Patrick seinen Status als tröstender Beistand dadurch zementieren, dass er stärkeres Interesse an dem Debakel zwischen Lucas und seiner letzten Freundin zum Ausdruck brachte – falls der Mann es sich bezüglich der Strafanzeige irgendwann anders überlegen würde.
»Neuigkeiten von …?« Patrick zeigte auf das Loch in der Wand.
Lucas machte keine Anstalten, sich danach umzudrehen. »Nein, Gott sei Dank nicht.«
»Du erinnerst dich wirklich überhaupt nicht mehr an diese Nacht?«
Lucas schüttelte den Kopf. »Ich weiß noch, dass ich sie in der Bar getroffen habe. Der Rest ist gelöscht.«
»Vielleicht hat dir jemand was in den Drink getan.«
Lucas zuckte die Achseln. »Ist jetzt nicht mehr zu überprüfen – wenn ja, dann sind alle Spuren davon längst aus meinem Körper gespült. Eines musst du aber wissen, Patrick: Du magst von mir halten, was du willst, aber ich habe in meinem ganzen Leben niemals einer Frau ein Haar gekrümmt. Ich bin kein Heiliger, das gebe ich zu, aber selbst dann, wenn ich mich von meiner schlechtesten Seite gezeigt habe, gab es nie, kein einziges Mal …« Er ließ den Kopf hängen und strich sich mit einer Hand durch die Haare. »Irgendwas Seltsames ging in dieser Nacht vor. Und das hatte nichts mit mir zu tun.« Er sah zu Patrick auf. »Darauf verwette ich mein Leben.«
Patrick fiel Lucas’ Mobiltelefon auf dem Wohnzimmertisch auf. »Bist du dein Handy durchgegangen? Hast du die Anruflisten kontrolliert? Irgendwelche seltsamen Textnachrichten? Bilder?«
Lucas nickte. »Ja – gar nichts. Nur das eine Foto, das ich von uns gemacht habe, als wir in der Bar saßen. Das weiß ich noch.«
»Zeig mal«, bat Patrick.
Lucas hielt sich die Rippen und ächzte, als er sich vorbeugte und nach seinem Handy griff. Er drückte ein paar Knöpfe und reichte es Patrick.
Es war ein Foto von Lucas, wie er breit grinsend das Selfie schoss. Ein Arm befand sich außerhalb des Bildes, den anderen hatte er um eine atemberaubende Blondine gelegt, die Patrick irgendwie bekannt vorkam.
»Hm«, murmelte Patrick.
»Was?«
»Sie kommt mir bekannt vor.«
»Tatsächlich?«
»Ja«, sagte Patrick mit gerunzelter Stirn. »Woher kenne ich sie bloß?«
Lucas schwieg.
»Wo hast du sie kennengelernt?«
»In einer Bar um die Ecke. Im Bravo’s.«
»Wie heißt sie?«
»Samantha.«
Patrick starrte auf das Foto, bis es vor seinen Augen verschwamm. Er blinzelte und starrte weiter. Wo hatte er sie schon einmal gesehen? Es war noch nicht lange her. Erst kürzlich, da war er sich sicher. Vielleicht hatte er sie auch im Bravo’s gesehen. Nur war er lediglich ein einziges Mal im Bravo’s gewesen – und das war lange her.
Kürzlich. Kürzlich. Wo? W…
Patricks Herzschlag setzte aus. Bobs Beerdigung. Was er vor Augen hatte, war ein Foto der hinreißend schönen Frau von Bobs Beerdigung.
»Das kann nicht sein«, flüsterte er.
»Hä?«, gab Lucas von sich.
Patrick schenkte ihm keine Beachtung. Es konnte nicht sein. Er wusste noch, dass die Frau dunkle Haare und dunkle Augen gehabt hatte. Diese Frau war blond und grünäugig. Außerdem war Bob in Harrisburg beigesetzt worden. Die Frau hatte sich als Einheimische vorgestellt und behauptet, Bob aus Gilley’s Tavern zu kennen. Dieses Foto dagegen war hier aufgenommen worden.
Sie konnte es nicht sein. Ausgeschlossen.
»Nichts«, sagte Patrick, schüttelte den Kopf und gab Lucas das Handy zurück. »Sie hat mich an jemanden erinnert, den ich neulich getroffen habe.«
»Du hast sie kennengelernt?«
»Nein, nein. Die Frau, die ich meine, lebt in Harrisburg. Sie war bei der Beerdigung meines Schwiegervaters. Außerdem war sie brünett und dunkeläugig. Sie sehen sich einfach nur ziemlich ähnlich, schätze ich.«
»Tja, solltest du ihr jemals über den Weg laufen, dann nimm schleunigst die Beine in die Hand. Das Mädchen bedeutet nichts als Ärger.«