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Im Hotelzimmer der Lamberts in der neunten Etage war es voll und laut. FBI-Agenten und Beamte der Allegheny County Police gingen mal leise, mal lautstark miteinander debattierend ein und aus. Überall krächzten Funkgeräte.

Arthur Fannelli war während seines Transportes zum Gericht die Flucht gelungen. Er war frei. Und er hatte Hilfe gehabt – professionelle Hilfe. Zu dieser Feststellung wäre selbst ein Polizei-Rekrut bei seinem ersten Einsatz gekommen, wenn man ihm fünf Minuten am Tatort gewährt hätte. Drei Beamte der Allegheny County Police waren ermordet worden. Das Dezernat war auf rasche Vergeltung für die Kameraden aus, obwohl es alles andere als unwahrscheinlich war, dass Arthur und seine Komplizen bereits die Staatsgrenze überquert hatten. Daher die Anwesenheit des FBI. Und so herrschte im Hotelzimmer neben dem allgegenwärtigen Lärm und Chaos eine gewisse Feindseligkeit seitens der Allegheny-County-Polizisten. Das war der Grund, warum manchmal geflüstert wurde und manchmal nicht – die Polizisten flüsterten untereinander (wobei der dezente Spott diese Bemühungen eigentlich unnötig machte); die Agenten sprachen laut und schufen dadurch eine Atmosphäre der Überlegenheit und Kontrolle, als hätten sie die Lage im Griff. Die Geringschätzung, die ihnen von den Polizeibeamten seit ihrem Eintreffen entgegengebracht wurde, war ihnen nicht entgangen, aber egal. Patrick nahm an, dass sie ihnen jedes Mal entgegenschlug, wenn sie bei einer Ermittlung hinzugezogen wurden.

Darüber hinaus nahm Patrick noch etwas anderes an, und Agent Chris Miller schien überrascht davon zu sein, als Patrick es aussprach.

»Was lässt Sie glauben, dass er die Staatsgrenzen nicht überqueren wird?«, fragte Miller.

»Ich weiß es einfach«, sagte Patrick.

Miller runzelte die Stirn. »Würde es Ihnen was ausmachen, es etwas deutlicher zu erklären?«

»Er will uns. Er will nicht untertauchen.«

»Mag sein. Aber fürs Erste wird er sich irgendwo verstecken müssen.«

»Fürs Erste«, sagte Patrick achselzuckend. »Doch er wird uns aufspüren.« Die ursprüngliche Panik hatte sich komplett verflüchtigt – bei Patrick und bei Amy. Eine Art Verteidigungsmechanismus hatte sich eingeschaltet. Eine Akzeptanz des Gegebenen gewissermaßen. Keine Niedergeschlagenheit oder gar Kapitulation, das nicht. Nur Akzeptanz.

Agent Miller musterte Patrick eingehend. Patrick starrte unverwandt zurück. Der Ausdruck auf seinem Gesicht war entspannt, teilnahmslos, beinahe gelangweilt. »Wenn er sie tatsächlich aufspürt …«, begann Miller.

»Das wird er«, sagte Patrick.

»… werden wir zur Stelle sein und ihn schnappen.«

»Sie, es sind mehrere.«

»Wie auch immer. Wir werden sie kriegen, und wir werden Sie und Ihre Familie beschützen, Mr. Lambert. Das hier ist jetzt eine völlig andere Situation. Die Karten sind neu gemischt.«

»Amy!«, rief Patrick quer durch den Raum. »Amy, komm bitte mal kurz her.«

Amy ließ Carrie und Caleb bei einem der County-Officer und trat an die Seite ihres Mannes.

»Sie werden uns beschützen«, sagte Patrick. »Offenbar haben wir eine völlig neue Situation.«

»Spitze!«, sagte Amy.

Miller atmete lang und hörbar aus, senkte den Kopf und nickte langsam. »Hören Sie – ich kann mir nicht einmal im Ansatz vorstellen, was Sie durchgemacht haben …«

»Nein, können Sie nicht«, unterbrach Patrick, der sich augenscheinlich nach wie vor absolut unter Kontrolle hatte. »Aber lassen Sie sich nicht aufhalten, und erledigen Sie Ihren Job. Versuchen Sie nur, den Scheißkerl und seine neuen Freunde in die Finger zu bekommen. Und Sie können uns gerne beschützen, so viel Sie wollen; wir werden uns nicht dagegen sträuben. Aber wenn es Ihnen nichts ausmacht, werde ich dennoch einen alten Gefährten hinzuziehen.«

»Was?«, sagte Miller.

»Wen?«, sagte Amy.

»Ich rufe Domino an. Wenn uns jemand vor diesen Psychopathen beschützen kann, dann er«, sagte Patrick.

»Wer ist Domino?«, wollte Miller wissen.

»Ein alter Kumpel von mir. Wir haben auf der Highschool zusammen Football gespielt. Danach ist er zu den Marines gegangen. Mittlerweile führt er seine eigene Sicherheitsfirma. Außerdem ist er der härteste Hund auf Erden. Ich werde ihn kontaktieren.«

»Wir können niemanden gebrauchen, der unsere Ermittlungen behindert«, sagte Miller.

»Er wird nicht ermitteln. Er wird uns beschützen.«

»Sie wissen, dass das unsere Aufgabe ist«, erwiderte Miller.

Patrick zuckte erneut gleichmütig die Schultern. »Verzeihen Sie, Agent Miller, aber das ist nur ein schwacher Trost.«

Miller stieß erneut kräftig die Luft aus. »Mr. Lambert, ich habe Verständnis für Ihre Situation und Ihren Widerwillen, uns Vertrauen entgegen …«

»Nein, haben Sie nicht. Vor wenigen Minuten haben Sie das noch selbst zugegeben. Gegenwärtig gibt es herzlich wenig Menschen, denen meine Familie vertraut.«

»Aber diesem Domino wollen Sie vertrauen.«

»Ja«, sagte Patrick ohne das geringste Zögern.

»Mr. Lambert, wir können nicht zulassen, dass die eigenmächtigen Aktionen eines Dilettanten den Ablauf unserer Operationen gefährden. Die Leute, die dieses Fluchtmanöver organisiert haben, scheinen bestens ausgebildet zu sein.«

»Domino ist schwerlich ein Dilettant. Er und sein Team arbeiten so professionell, wie es nur geht. Recherchieren Sie ihn: Domino Taylor.«

Miller schüttelte den Kopf. »Das ist keine gute Idee.«

»Ich werde ihn anrufen«, beharrte Patrick. »Im Augenblick halte ich ihn für den einzigen Mann, der meine Familie beschützen kann.«

Miller warf die Hände in die Luft. »Na gut … schön, in Ordnung – ist schließlich Ihr Geld.«

»Er wird mir keinen einzigen Penny berechnen.«

»Sehen Sie nur zu, dass er uns nicht in die Quere kommt.«

»Das wird er nicht«, sagte Patrick. »Tatsächlich werden Sie nicht bemerken, dass er überhaupt da ist – jedenfalls nicht, wenn er das nicht will.«

Amy konnte sich lebhaft an Domino Taylor erinnern. Es war schwierig, einen solchen Mann zu vergessen, auch nach den fünf Jahren, die vergangen waren, seit er das letzte Mal zu Besuch gewesen war. Amy war seinerzeit mit Caleb schwanger gewesen, und sie würde sich bis in alle Ewigkeit an den Moment erinnern, an dem sich dieser beeindruckende, massige Mann auf ein Knie niedergelassen hatte, um auf Augenhöhe zu Amys Babybauch sprechen zu können. Das Weiß seiner lebhaften Augen hatte aus dem schokoladendunklen Teint geleuchtet, und seine kräftige Bassstimme hatte in scharfem Kontrast zu seinen sanften, fürsorglichen Worten gestanden, als er Caleb mitgeteilt hatte, dass er es kaum erwarten konnte, ihn kennenzulernen, und ungeduldig den Tag herbeisehne, an dem sie zusammen Football spielen würden.

Und waren da natürlich noch die Geschichten, die Patrick ihr erzählt hatte. Darüber, was für ein fähiger Soldat Domino gewesen war, an welchen Gefechten er teilgenommen hatte, sein Heldenmut auf und außerhalb des Schlachtfeldes, seine neuen Tätigkeit in der Sicherheitsbranche, wo er die Elite der Elite beschützte. Es war eine beispiellose Karriere. Nichtsdestotrotz war es das Gespräch mit ihrem Babybauch an jenem Abend, das Amy für immer im Gedächtnis bleiben würde. Deshalb war sie mit der Entscheidung ihres Gatten einverstanden, Domino zu ihrem Schutz zu engagieren. Denn sie wusste, dass er sie beschützen würde – mit seinem Leben.

»Bist du sicher, dass er verfügbar ist?«, fragte Amy Patrick, als sie das Hotelfoyer betraten.

»Keine Ahnung. Er hat sich nach Crescent Lake gemeldet, um sich zu erkundigen, wie es um uns steht. Er weiß, was dort passiert ist.«

»Ist mir klar. Das bedeutet allerdings nicht, dass er zur Verfügung steht«, sagte sie.

»Stimmt. Aber irgendwie glaube ich, dass er das einrichten kann.«

»Das hoffe ich.«